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Archiv "Kindstötungen: Vorwiegend Mutmaßungen" (14.03.2008)

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A556 Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 1114. März 2008

P O L I T I K

M

it leiser Stimme und unbeirrt durch das Nachhaken der Richterin und der Staatsanwältin sorgt Sabine H. im kühlen Saal 007 des Landgerichts Frankfurt (Oder) für gespannte Aufmerksamkeit: Ihr früherer Ehemann Oliver habe in zumindest einem Fall zumindest Bescheid gewusst. Sabine H. war 2006 wegen Totschlags in acht Fäl- len, ein weiterer war verjährt, zu 15 Jahren Haft verurteilt worden, der Höchststrafe. Nun läuft die Revi- sion. Der Bundesgerichtshof hat dem Landgericht aufgegeben, die Schuldfähigkeit und das Strafmaß zu überprüfen.

Im ersten Verfahren wurde der Mann auffallend verschont; seine Einlassung, er habe von nichts ge- wusst, war hingenommen worden.

Das entspricht dem klassischen Muster: Schuldig vor Gericht und die Böse im Urteil der Öffentlichkeit ist die Kindsmörderin. Mit Bekannt- werden der Kindstötungen von der Oder begann 2005 eine irritierende politische Debatte: Der brandenbur- gische Innenminister, Jörg Schön- bohm (CDU), suchte die verstören- den Handlungen mit einer Proletari- sierung durch das DDR-System zu erklären. Schönbohm, der den Be- griff heute nicht mehr verwenden würde, könnte sich durch Branden- burgs ehemaligen Ministerpräsiden- ten, Manfred Stolpe (SPD), jetzt be- stätigt fühlen. Der machte nach den jüngsten Kindstötungen in Bran- denburg Werteverfall und sittliche Verwahrlosung aus, beklagte, dass zu viel weggeschaut werde („Tages- spiegel“, 19. Februar 2008).

Und dann kam Wolfgang Böh- mer (CDU), Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Medizinprofessor und zu DDR-Zeiten Chefarzt der Gynäkologie in einem evangeli- schen Krankenhaus in Wittenberg.

Der erklärte die Kindstötungen „vor allem mit einer leichtfertigeren Ein- stellung zum werdenden Leben in den neuen Ländern“, bedingt durch die Freigabe des Schwangerschafts- abbruchs bis zur zwölften Woche, die 1972 in der DDR eingeführt wurde. („Focus“, 24. Februar 2008).

Böhmer entfachte einen Entrüs- tungssturm, aber auch eine ernsthaf- te Debatte. Entrüstet zeigten sich seine politischen Gegner von der PDS, während sein Koalitionspart- ner in Magdeburg, die SPD, sich sehr zurückhielt. Entrüstung auch bei Befürwortern der mühsam er- kämpften, 1995 durchgesetzten li- beralen Abtreibungsgesetzgebung, in die auch das alte DDR-Recht hin- eingespielt hatte. Böhmer habe die Frauen diskriminiert, hieß es etwa bei den Grünen. Aber vielleicht sah man auch eine neue Debatte um den

§ 218 heraufziehen. Die bahnt sich wegen der Spätabtreibungen oh- nehin schon an.

Böhmer entschuldigte sich am 28. Februar im Magdeburger Land- tag wegen der Wirkungen seiner

Aussagen, blieb aber bei seiner Mei- nung, die liberale Abtreibungsspraxis habe zumWertewandel geführt. Den engen Zusammenhang zwischen Abtreibungspraxis und Kindsstö- tung hatte er in einem gleichzeitig erscheinenden, entlastenden Inter- view zurückgenommen. („Welt“, 28. Februar 2008). Tatsächlich ist Böhmers eigentliches Thema die Abtreibungspraxis, die ihn wohl schon als Gynäkologe in der DDR belastet hat. Er vermutet, dass die DDR-Prägung in Ostdeutschland anhält; darin unterstützt ihn der Ber- liner Theologe und Bürgerrechtler Richard Schröder (SPD): „Wenn diese Haltungen von der Generation der Eltern verinnerlicht worden sind, setzen sie sich über die Erzie- hung der Kinder fort.“ („Spiegel“, 3.

März 2008) Die Statistik scheint Böhmer wie Schröder recht zu ge- ben. In Bayern kommen 129 Schwan- gerschaftsabbrüche auf tausend Ge- burten, in Baden-Württemberg 142, in Sachsen-Anhalt hingegen 265.

Eine Statistik der Tötung von Neugeborenen gibt es nicht. Die Po- lizeistatistiken ziehen die Alters- grenze bei sechs Jahren. Gelegentlich zitierte Zahlen über Neonatizide ba- sieren auf der Auswertung von Me- dienberichten. Danach lag die Zahl die Tötungen von 1999 bis 2004 zwischen 17 und 34 pro Jahr, nach einer anderen Quelle zwischen acht und 28. Hinzu kommen Ausset- zungen. Die Zahl, ermittelt nach dem gleichen unsicheren Verfahren, schwankt um 14 p.a. Etwa die Hälf- te verläuft tödlich, wird vermutet.

Eine ältere Untersuchung, die auf den Obduktionsberichten der ge- richtsmedizinischen Institute be- ruht, kommt für die Jahre 1980 bis 1989 auf 213 Kindstötungen im da- maligen Bundesgebiet. I Norbert Jachertz

KINDSTÖTUNGEN

Vorwiegend Mutmaßungen

Mit Sabine H. begann eine irritierende Debatte: Die ihr angelastete Tötung von neun Neugeborenen wurde auf ihre DDR-Sozialisation zurückgeführt. Wolfgang Böhmer fügte nun eine Variante hinzu: den Wertewandel infolge des DDR-Abtreibungsrechts.

Wolfgang Böhmer entfachte mit seinen Äußerungen einen Entrüstungssturm, aber auch eine ernst-

hafte Debatte. Foto:Georg J.Lopata

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