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Archiv "Neue orale Antikoagulanzien (NOAK): Juristisches Tauziehen und wissenschaftlicher Wettlauf" (16.01.2015)

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A 72 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 112

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Heft 3

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16. Januar 2015

NEUE ORALE ANTIKOAGULANZIEN (NOAK)

Juristisches Tauziehen und wissenschaftlicher Wettlauf

In den USA stehen NOAK-Hersteller in der Kritik: Ihr Marketing verhindere eine ausreichende Risiko-Nutzen-Abwägung der Therapie, so die Anwälte der Patienten.

Mit Spannung erwartet man zudem, welche Firma das erste Antidot einführt.

S

eit Monaten suchen in den USA spezialisierte Anwalts- firmen Patienten, die sich durch die Therapie mit dem Wirkstoff Rivaro- xaban (Xarelto®) geschädigt fühlen, für Schadensersatzprozesse zu ge- winnen. Der neue orale Gerinnungs- hemmer (NOAK) wird von Bayer hergestellt und in den USA von des- sen Partner Johnson & Johnson ver- trieben, der sich dazu seiner Toch- tergesellschaft Janssen bedient. Das Ziel der Klagen, die sich formal ge- gen Janssen richten, ist letztlich ein (möglichst teurer) Vergleich, vorbe- reitet durch eine Sammelklage.

Der entscheidende Schritt dazu ist jetzt getan: Am 22. Dezember ent- schied nämlich eine Jury von fünf Bundesrichtern (Justice Panel on Multidistrict Litigation, JPML), dass die bislang anhängigen Verfahren – mehr als 50 Klagen, verteilt über 22 regionale Gerichte – zusammenge-

fasst und einem Richter des Gerichts im Eastern District

of Louisiana zugewiesen werden sollen. Die Jury zog sich damit elegant aus der Affäre. Die meisten Pa- tientenanwälte hätten nämlich am liebsten einen Richter in Süd- Illinois gesehen, der bereits hinsicht- lich des Wirkstoffs Dabigatran (Pra- daxa®) von Boehringer In- gelheim tätig geworden ist.

Den Firmenanwälten wäre am liebsten gewesen, es

wäre überhaupt nicht zu

einem Sammelverfahren gekommen.

Stattdessen plädierten sie für eine

„informelle Koordination“. Das aber wies die Jury unter Hinweis auf die Vielzahl der Fälle und die kompli- zierte Materie zurück.

Die Klägeranwälte hatten sich die Anwerbung von Patienten, die mit Xarelto® behandelt wurden, ei- niges kosten lassen. Die Silverstein Group, die Gegenstrategien für be- troffene Pharmafirmen entwickelt, spricht von einer konzertierten Wer- beaktion („advertising blitz“): Die Ausgaben der Anwälte für TV- Spots seien seit Juli 2014 von 1,2 Millionen auf 3,9 Millionen Dollar im September angestiegen. Danach scheinen die exorbitanten Werbe- ausgaben verebbt zu sein. Sie er - übrigten sich, als genügend Fälle bei unterschiedlichen Gerichten zu- sammengekommen waren und sich deren Zusammenfassung erahnen ließ. Nach erprobtem Muster.

Arbeiten auf Erfolgsbasis Die auf Produkthaftung im Pharma- sektor spezialisierten Anwaltsfir- men nahmen das Bayer-Präparat ins Visier, nachdem Boehringer Ingel- heim im Mai 2014 einem Vergleich über 650 Millionen Dollar zuge- stimmt hatte, um drohende Klagen wegen Pradaxa® (NOAK)beizule- gen. Boehringer Ingelheim beharrt zwar auf dem überlegenen Nutzen seines Präparates und beteuert, stets rechtlich einwandfrei und verant- wortungsvoll gehandelt zu haben, zahlte aber, wohl auch unter dem Eindruck negativer Berichterstat- tung in den Medien. Begünstigt wurden dadurch (ohne Verhand- lung) rund 4 000 Kläger, die An- sprüche angemeldet hatten. Begüns-

tigt wurden auch die Anwälte, denn sie arbeiteten auf Erfolgsbasis. US- Anwälte erhalten angeblich zwi- schen 30 und 50 Prozent der Ver- gleichssumme als Honorar, manch- mal zuzüglich Kosten.

Neben Rivaroxaban und Dabiga- tran gehört Apixaban (Eliquis®, Bris- tol-Myers-Squibb und Pfizer) zu den NOAKs. Ihr Markt wird derzeit auf etwa drei Milliarden Euro geschätzt, mit dem Potenzial für weitere Milli- arden. Denn die „neuen“ haben ge- genüber den „alten“ Antikoagulan- zien wie Marcumar oder Coumadin einige Vorteile, insbesondere einen:

Es bedarf (zumeist) nicht des ständi- gen, für die Patienten lästigen Moni- torings. Es gibt aber auch einen gra- vierenden Nachteil: Für die „Neuen“

steht, anders als für die „Alten“, kein Antidot zur Verfügung, das im Not- fall die Gerinnungshemmung aufhe- ben könnte. Das damit verbundene Risiko spielt auch bei den US-Kla- gen eine Rolle.

Mit Hochdruck arbeiten alle Her- steller (oder lassen arbeiten) an An- tidots für ihr jeweiliges Präparat. Es vergeht zurzeit kaum ein Monat, dass nicht jemand von einer fortge- schrittenen und vielversprechenden Studie berichtet. Zumeist wird an gesunden älteren Probanden getes- tet, nur in einem Fall auch an Patienten (Boehringer Ingelheim).

Wer den Wettlauf gewinnt, ist noch nicht auszumachen. Der Gewinner aber hat solange einen deutlichen Wettbewerbsvorteil, bis der Kon- kurrent gleichfalls sein Gegenmittel präsentiert oder ein Dritter mit ei- nem präparateübergreifenden Anti- dot herauskommt.

Auch für die NOAKs besteht ein

„signifikantes Risiko schwerer Blu-

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16. Januar 2015 A 73 tungsereignisse“, um das Bundesin-

stitut für Arzneimittel und Medizin- produkte (BfArM) zu zitieren. Laut dem US-amerikanischen Pharma- Entwickler Portola, der die Antidots für die Faktor Xa-Inhibitoren Xa- relto® und Eliquis® entwickelt, er- leiden jährlich ein bis vier Prozent der mit diesen Wirkstoffen behan- delten Patienten eine schwerwie- gende Blutung (major bleeding).

Das liegt freilich in der Natur der Sache. Klagen auf Schadenser- satz zielen denn auch weniger auf Blutungskomplikationen ab, selbst wenn sie zum Tode führten, zumal der kausale Zusammenhang zwi- schen „Ereignis“ und Medikamen- tengabe manchmal schwer zu be- weisen ist; das „Ereignis“ könn- te schließlich auch durch die Grunderkrankung oder fehlerhafte Einnahme bedingt gewesen sein.

Die Klägeranwälte konzentrieren sich deshalb auf das Marketing der Hersteller und Vertreiber, das in ihren Augen für unzulängli- che Aufklärung und unzureichende Risiko-Nutzen-Abwägung verant- wortlich ist.

Wie geht’s weiter?

Die JPML-Jury überwies die Xarel- to®-Fälle an einen ganz bestimmten Richter des Federal Court von East Louisiana: Eldon E. Faller. Der wird damit zu einem mächtigen Mann. Faller leitet die genauen Er- mittlungen ein. Dazu werden einige wenige typische Fällen ausgewählt, die sogenannten Bellwether (Leit- hammel). Die beklagte Firma muss sodann sämtliche Unterlagen zu den Bellwether-Fällen, die das Ge- richt und die Anwälte verlangen, herausrücken – auch vertrauliche.

Das kann für den Beklagten sehr unangenehm werden. Zumal dann, wenn vertrauliche Schriftwechsel durch gezielte Indiskretionen pu- blik werden. So berichtete die New York Times im Februar 2014 (zwei Monate vor dem Pradaxa®-Ver- gleich) aus den Gerichtsakten von einem internen Streit bei Boehringer Ingelheim.

Ein Wissenschaftler gab zu bedenken, ob nicht bei manchen Patienten auch unter Pradaxa® ein Monitoring angeraten sei. Das Marketing re - agierte laut E-Mails, die vor Ge- richt auftauchten, irritiert.

Zeichnet sich bei den Bellwether- Fällen eine Linie ab, kommt es (an- gestoßen vom Gericht) in der Regel zu Vergleichsverhandlungen. Da- rauf sind die Anwälte von Anfang an aus. So erklären Anwälte, die zur Zeit gegen Xarelto® zu Felde zie- hen, ihren potenziellen Klienten un- verblümt, ein Verfahren komme schnell zu einem Ende, sobald beide Seiten übereinkämen, den Fall mit einem Kompromiss beizulegen. Die beklagte Firma stimmt einem Ver- gleich häufig allein deshalb schon zu, um aus dem Gerede herauszu- kommen und das Aufdecken von Geschäftsgeheimnissen zu beenden.

So bei Pradaxa®, bei Xarelto® wird man sehen. Zu Eliquis® läuft der- zeit kein Verfahren; wahrscheinlich weil dieses Präparat erst seit 2012 auf dem Markt ist, wie ein Anwalt vermutet. Mit anderen Worten, man wartet ab, ob es genügend Meldun- gen über unerwünschte Wirkungen oder gar Todesfälle gibt, um abzu- schätzen, ob es sich lohnt, mutmaß- lich geschädigte Patienten für eine Klage anzuwerben. Man wartet si-

cherlich auch ab, was in Sa- chen Xarelto® herauskommt.

Zur Beurteilung der Risikolage bedienen sich auch US-Anwälte gerne der in Deutschland erfassten

Statistik unerwünschter Wirkun- gen der NOAKs. Das BfArM,

das solche seit April 2008 er- fasst, nennt auf Anfrage für Eliquis® 523 Inlandsfälle, da- von 37 mit Todesfolge (Stand:

3. Dezember 2014). Das Amt betont aber, dass es sich um Verdachtsfälle handelt, bei denen ein Kausalzu - sammenhang im Einzelfall nicht si- cher belegt sei. Zum Vergleich: Für 2013 lagen dem BfArM „insgesamt 102 Verdachtsberichte zu Todesfäl- len von Menschen vor, die zuvor mit Xarelto® behandelt worden sind“

(dpa, 27. Mai 2014). Auch gilt der gleiche Vorbehalt wie bei Eliquis®.

„Wir stehen zum Produkt“

Bayer sieht die Vorstöße in den USA einstweilen gelassen. Im Zwischen- bericht über das dritte Quartal 2014 ist zu möglichen Risiken von Xarel- to® nichts zu lesen. Auf Nachfrage erklärt eine Sprecherin, Bayer seien zwar Klagen vor US-Gerichten zuge- stellt worden. Die Verfahren stünden aber in einem frühen Stadium. Der- zeit lägen nur wenige Informationen hinsichtlich der behaupteten Tatsa- chen und Umstände vor, auf die sich die meisten Klagen stützten. „Wir ste- hen zu dem Produkt und werden uns gegen die anhängigen Klagen vertei- digen“, versicherte die Sprecherin.

Xarelto® gilt bei Bayer als Hoff- nungsträger. In den ersten drei Quartalen 2014 sind die Verkäu- fe sprunghaft auf 1,16 Milliarden Euro angestiegen, im gleichen Vor- jahreszeitraum waren es 633 Mil- lionen. Auch Bristol-Myers-Squibb berichtet von Umsatzsprüngen mit Eliquis®: 493 Millionen Dollar in den ersten neun Monaten 2014 (2013 insgesamt 146 Millionen Dol- lar). Boehringer Ingelheim gibt kei- ne Quartalsberichte heraus, sondern verweist auf den Geschäftsbericht im April 2015. Noch 2013 war das Unternehmen mit 1,2 Milliarden Euro Umsatz Marktführer bei den NOAKs. 2014 dürften die Verkäufe in den USA eingebrochen sein.

Norbert Jachertz Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizin-

produkte erinnert verordnende Ärzte einmal mehr daran, dass das Blutungsrisiko eines Patienten individuell beurteilt werden muss und sie die An- gaben zu Dosierung, Gegenanzeigen sowie Warn- hinweisen und Vorsichtsmaßnahmen für die An- wendung genau beachten müssen. Wörtlich:

„Hierzu gehört auch eine sorgfältige Abwägung von Nutzen und Risiken bei Patienten mit Läsio-

nen, in klinischen Situationen, bei Eingriffen und/

oder Therapien, die das Risiko für schwere Blu- tungen erhöhen. Zusätzlich wird empfohlen, die Patienten während der gesamten Behandlungs- dauer hinsichtlich klinischer Zeichen und Sympto- me von Blutungen zu überwachen, insbesondere Patienten mit erhöhtem Blutungsrisiko.“

www.bfarm.de/SharedDocs/Risikoinformationen/Pharmako vigilanz/DE/RHB/2013/info-pradaxa-eliquis-xarelto.html

INDIVIDUELLE NUTZEN-RISIKO-ABWÄGUNG

P O L I T I K

Referenzen

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