7 Unverheiratet (obwohl der
Zwilling verheiratet war)
6 Niederer Sozialstatus
Geburt und Kindheit:
Erstgeborener
Niedrigeres Geburtsgewicht Schwierigere Entbindung Größer
Dominierend Lebhafter
»Sprecher«
Besser angepaßt Sensibler Ängstlicher
Besser in der Schule Häufiger krank Kräftiger
Jugend und Erwachsenenalter:
Begann früher zu arbeiten Verließ das Elternhaus eher
1
6
Heiratete früher
1 10
Mehr in sich zurückgezogen 7 10
8 5 7 1 6 4 8 5 8 3 3 7
Tabelle 1: Unterschiede in Umweltfaktoren bei 16 eineiigen Zwil- lingspaaren, die diskordant für Schizophrenie waren.
Nach Tienari, Acta Psychiat. Scand. Suppl. 171, 1963)
Unterschied An
Schizophrenie erkrankter Zwillingspartner
Nicht erkrankter
Zwillings- partner
6 6 2 9 14 8 12
4 10 2 9
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
THEMEN DER ZEIT
Wolf G. Dorner
Genetische Disposition oder
Lebens-
bedingungen?
Antworten aus
der Zwillingsforschung
Stellen wir uns folgendes vor:
Zwei sich fremde Menschen treffen sich und stellen fest, daß sich in ihrem Leben er- staunliche Parallelen ab- zeichnen. Niemand wird ernsthaft auf die Idee kom- men, diesen Gleichlauf mit Hilfe der Erbanlagen erklären zu wollen. Wie aber sieht es bei Menschen aus, von denen wir wissen, daß sich ihre Erb- anlagen ähneln oder—wie bei eineiigen Zwillingen — sogar identisch sind? Wenn sich auch zwischen zwei solchen Menschen derartige Paralle- len abzeichnen, so wird die Vermutung geäußert, dies sei kein Wunder, da aufgrund der ähnlichen Erbanlagen auch vergleichbare Lebensläufe herauskommen sollten.
Ist das wirklich so? Die Frage ist, ob sich die Entwicklung der Persönlichkeit zum größ- ten Teil auf die vorhandenen Erbanlagen zurückzuführen läßt, oder ob jeder einzelne Mensch selbst aus seinen in- dividuellen Erlebnissen, sei- ner Umgebung und seinen Erfahrungen sich eine eigene Persönlichkeit formt?
D
ie anerkannte wissenschaft- liche Methode zur Beantwor- tung dieser Frage ist die Zwil- lingsmethode. Unterschieden wird dabei zunächst zwischen einei- igen (EZ) und zweieiigen (ZZ) Zwil- lingen. Wie groß die Bedeutung ei- nes Merkmals ist, wird durch die Unterschiede zwischen EZ und ZZ untersucht. Erkranken beispiels- weise EZ immer gemeinsam an derselben Krankheit? Ist das bei ZZ weniger deutlich ausgeprägt?Besteht eine auffällige Häufung gemeinsamer Erkrankungen,
wenngleich es auch eine Reihe von Ausnahmen gibt?
Solche Fragen reihen sich in den umfangreichen Katalog dessen ein, was man über Unterschiede zwischen EZ und ZZ wissen möch- te. Die Unterschiede sind deshalb interessant, weil sie Hinweise dar- auf geben, ob und in welchem Um- fang genetische Dispositionen verantwortlich sind. Je größer der
„genetische Anteil" ist, um so mehr müssen wir daraus schlie- ßen, daß dies nicht nur für Zwillin- Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 41 vom 8. Oktober 1986 (35) 2757
Tabelle 2: Konkordanz und Diskordanz bei ein- und zweieiigen Zwil- lingen, von denen einer an Lepra erkrankt war
ZZ (40 Paare) EZ (62 Paare)
Kon- kordant Dis-
kordant
Dis- kordant Kon-
kordant
2 11
Lepra-Typ bei
konkordanten Zwillingen:
Beide lepromatös
Erkrankung an Lepra 37 25 8 32
(59,7%) (40,3%) (20,0%) (80,0%)
Beide tuberkuloid 19 4
Beide borderline 2
Einer lepromatös, der andere tuberkuloid
5 2
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Zwillingsforschung
ge, sondern auch die gesamte Be- völkerung gelten könnte. Allerdings sind das nur Anhaltspunkte, keine Beweise. Dennoch sind die bisher erzielten Ergebnisse der Zwillings- forschung hochinteressant. Fast noch faszinierender jedoch sind die recht unterschiedlichen, ja kontra- diktorischen Ausdeutungen solcher Ergebnisse.
Tienari untersuchte in Finnland EZ, die diskordant für Schizophrenie waren. Die Unterschiede gehen aus Tabelle 1 hervor. Eines der Ergeb- nisse besagt, daß der Dominante seltener erkrankte als der Angepaß- te. Auch bessere schulische Lei- stungen führten letztlich zu weniger Erkrankungen. Deutliche Unter- schiede gibt es im Jugend- und Erwachsenenalter. Der nicht an Schizophrenie erkrankte Zwilling heiratete früher, erreichte einen hö- heren Sozialstatus und zeigt sich eher extrovertiert. Auch löst er sich sehr viel früher vom Elternhaus.
Geht es im Rahmen einer Zwillings- untersuchung um psychologische Fragestellungen, so ist die Untersu- chung getrennt aufgewachsener EZ eine ideale Voraussetzung für den Ausschluß von systematischen Feh- lern. Allerdings ist die frühe Tren- nung von EZ sehr selten. Aber selbst wenn man auf gemeinsam
aufgewachsene Zwillinge angewie- sen ist, kann der Unterschied zwi- schen EZ und ZZ zu möglichen Schlußfolgerungen führen.
Noch einmal zum Krankheitsbild der Schizophrenie: Hier zeigt sich im Unterschied zwischen EZ und ZZ, daß EZ für dieses Krankheitsbild wesentlich häufiger konkordant sind als ZZ. Da das jedoch nicht im- mer der Fall ist, spielt zwar die ge- netische Disposition eine große Rol- le, ist aber auch nicht alleiniges Kri- terium. Rückschließend auf die Ge- samtbevölkerung heißt dies, daß Schizophrenie auch durch äußere Einflüsse begünstigt wird.
In Indien wurde in einigen Bundes- staaten eine Studie über Lepra an Zwillingen durchgeführt. Es wurden 102 Zwillingspaare untersucht, von denen 62 Paare als eineiig und 40 Paare als zweieiig ermittelt wurden.
Von den EZ-Paaren waren 37 und damit fast 60 Prozent beide an Le- pra erkrankt, während es bei den ZZ-Paaren nur 8 (also 20 Prozent) gewesen sind. Entscheidende Risi- kofaktoren konnten für beide Grup- pen als gleich ermittelt werden, so daß der Unterschied als genetische Disposition erklärbar ist. Dies gilt je- doch nur in Gebieten, in denen Le- pra endemisch ist.
Schon vor dem 2. Weltkrieg wurden in Deutschland Untersuchungen über genetische Grundlagen der Tuberkulose an Zwillingen durch- geführt. Auch hier hat man hohe Konkordanzraten gefunden. Aller- dings muß dazugesagt werden, daß zu jener Zeit praktisch jeder Deut- sche noch mit Tuberkelbazillen in Berührung gekommen ist.
Solche Beispiele zeigen, daß die Auswirkung einer genetischen Dis- position ganz entscheidend von den jeweiligen Lebensbedingungen ab- hängig ist. Es bedeutet auch, daß bei Verallgemeinerungen von Er- kenntnissen über eine bestimmte Population sehr vorsichtig zu ope- rieren ist. Das gilt auch für psycho- logische Merkmale sowie die ver- gleichende Untersuchung im Ge- samtablauf des Lebens.
Untersuchungen über die Entwick- lung von Zwillingen über lange Zeit- räume hinweg sind naturgemäß schwierig. 1954 veröffentlichte v.
Verschuer sein Buch „Wirksame Faktoren im Leben des Menschen".
Es wird über die Längsschnittunter- suchung an Tübinger Zwillingen be- richtet. Die Erstuntersuchung fand 1924/25 an 159 gleichgeschlecht- lichen Paaren statt, für die Nachun- tersuchung 1950 verblieben davon noch 150 Paare (100 EZ und 50 ZZ).
Es zeigt sich insbesondere, daß die- jenigen Zwillingspaare mit geringer geistiger Kapazität besonders stark den Umwelteinflüssen unterliegen, während das Gros der Paare kaum durch äußere Einflüsse beeinträch- tigt worden ist. Selbst schwere Schicksale, die nur ein Teil des Zwil- lingspaares zu bewältigen hatte, konnte daran nichts ändern. Nicht selten entwickeln sich im Laufe des Lebens direkte Zwillingsfeindschaf- ten, die sogar zum totalen Kontakt- abbruch führen können.
Eine zweite Längsschnittstudie stammt von dem Psychologen Gott- schaldt. Er hat im Rahmen dreier Untersuchungen (Durchschnittsal- ter der Paare 11,7, 23,3 und 41,5 Jahre) herausgefunden, daß bei ein- eiigen Zwillingen im Laufe dieser Zeit abstraktes Denken und die Ka- 2758 (36) Heft 41 vom 8. Oktober 1986 83. Jahrgang Ausgabe A
Mittleres Alter Erste Untersuchung
(1937) 11,7 Jahre
Zweite Untersuchung
(1950/1951) 23,3 Jahre (20,3-31)
Dritte Untersuchung
(1968) 41,5 Jahre
(34,9-46) Tabelle 3: Ergebnisse einer Longitudinalstudie von 20 eineiigen Zwillingspaaren (Auf Grund der Daten von Gottschaldt 1968)
Kapazität der Infor- ++
mationsaufnahme
Abstraktes Denken ++
++ ++
++ ++
Mentale Einstellung
++
(Interessenbreite;
Beurteilung der eigenen Situation)
(+)
Vitalität Aktivität
Mentale ++ ++
Ansprechbarkeit
Selbstkontrolle ++
des Verhaltens
++ starke Konkordanz; + schwächere Konkordanz; (+) zweifelhafte Konkordanz; — keine Konkordanz
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Zwillingsforschung
pazität der Informationsaufnahme praktisch unverändert übereinstim- men, während es in anderen Berei- chen wie Vitalität, mentale Einstel- lung, Aktivität, Selbstkontrolle des Verhaltens und der mentalen An- sprechbarkeit zu deutlichen Kon- kordanzverlusten kommt. Obwohl die Ergebnisse dieser interessanten Studien nur unvollständig veröffent- licht sind, kommt dennoch deut- licher als in der Arbeit von v. Ver- schuer zum Vorschein, daß sich selbst eineiige Zwillinge unter Um- ständen sehr verschieden entwik- keln können.
Eine weitere Bestätigung dieser Schlußfolgerung erbringt die Zwil- lingsstudie über Neurosen. Minde- stens einer, in der Mehrzahl der Fäl- le waren jedoch beide Zwillinge an einer Neurose erkrankt. Die Schwe- re der Krankheit wurde mit Hilfe ei- ner Skala festgelegt. Hier zeigte sich sehr deutlich, daß EZ einen eher geringeren Unterschied in den Skalenwerten aufwiesen als ZZ.
Wahrscheinlich ist dies auf einen Einfluß der genetischen Disposition zurückzuführen. Allerdings gibt es in diesem Untersuchungskollektiv auch genau entgegengesetzte Be- obachtungen.
Eine große Zwillingsuntersuchung wird von Lykken und Bouchard an nordamerikanischen Zwillings- paaren durchgeführt. Die Autoren unterscheiden zusätzlich zwischen getrennt und gemeinsam aufge- wachsenen Zwillingspaaren, um noch genauer das Ausmaß der Um- welteinflüsse beurteilen zu können.
Dieses Vorgehen wurde allerdings nicht kritiklos hingenommen. Vor allem wird bemängelt, daß beson- ders charakteristische Paare nicht eingehend geschildert werden, wie das im Rahmen anderer Studien ge- schehen ist. Demgegenüber sollten mehr auf dem Zufall basierende Übereinstimmungen wie Vorliebe für bestimmte Formen, Farben, Ge- rüche und dergleichen nicht zu vor- zeitigen und vor allem voreiligen Fehlschlüssen verleiten.
Der Einblick in solche Studien hat die Frage aufgeworfen, in welchem
Umfang unser Handeln genetisch vorgegeben ist. Wie groß—so könn- te man fragen — ist unsere persön- liche Willens- und Entscheidungs- freiheit? Es ist keine Frage, daß sehr viele Bereiche genetisch mitbe- stimmt werden. Sicher spielt die ge- netische Ausrüstung jedes Individi- ums eine Rolle, wenn es um die Ausbildung seiner Persönlichkeit geht. Gesundheit oder Krankheit unterliegen einer genetischen Mit- bestimmung (zum Beispiel bei den Autoimmunkrankheiten). Selbst Le- bensalter und Todesart können vom Erbgut beeinflußt werden. Die Art und Weise, wie wir denken und füh- len, wird im Rahmen der „Gesamt- ausrüstung Erbgut" von dieser mit- bestimmt.
Das darf aber nicht dazu führen, nun Leben als einen absolut vorge- zeichneten Weg anzusehen. Hierin liegt sicher auch die große Schwä- che des Islams, der die Unabänder- lichkeit des Kismets, des Schick- sals, lehrt und davon ausgeht, daß alles im „Buch des Lebens" vorge- zeichnet ist. Diese fatalistische Ein- stellung würde uns etwas wegneh- men, was wir essentiell benötigen:
Hoffnung. Hoffnung auf die Gestal- tung des eigenen Lebens und die
Möglichkeit, Dinge an und um uns zu ändern. Das ist für jeden Men- schen von enormer Bedeutung.
Karl Jaspers hat bereits 1932 zum Thema Selbstbestimmung des eige- nen Lebens geschrieben: „Im ge- schichtlichen Bewußtsein sehe ich gegebene Notwendigkeit und be- dingte Situationen als Möglich- keiten der Freiheit. Es ist schon ent- schieden, ich stehe in den Entschei- dungen darin, und zugleich habe ich nun zu entscheiden, ein Leben lang. Durch das Entschiedene er- scheine ich mir unausweichlich be- stimmt, durch die Möglichkeit eige- ner Entscheidung erscheine ich mir ursprünglich frei ... Mein wissen- des Übernehmen des anscheinend nur Gegebenen verwandelt dieses sonst mir Gegebene in ein Eige- nes". Hier spricht der Philosoph aus, was der Naturwissenschaftler nachzuweisen versucht: Unser Da- sein ist ein Wechselspiel von vor- herbestimmten Ereignissen (Erb- gut) und die Folge eigener Ent- scheidungen (Umwelt).
Anschrift des Verfassers:
Wolf G. Dorner Rauschbergstraße 46 8221 Inzell
Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 41 vom 8. Oktober 1986 (37) 2759