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igentlich, ließ Bundeskanzler Helmut Kohl die Delegierten des 100. Deutschen Ärztetages wissen, wäre der Anlaß dazu angetan, eine „abschließende Bilanz der Arbeit und Verdienste unserer Ärzteschaft zu ziehen“. In einem Grußwort, meinte der Kanzler zu Recht, sei dies jedoch nicht möglich.Kohl behalf sich deshalb mit einem Fazit, das der Ärzteschaft insgesamt hohe Verdienste zubilligte: „Die Qua- lität, die Leistungsfähigkeit und nicht zuletzt die hohe Akzeptanz unseres Gesundheitswesens beruhen in ent- scheidendem Maße auf dem großen Engagement, dem Können und der Bereitschaft zur Verantwortung der Ärztinnen und Ärzte in Deutschland.
Ohne Ihr Mittun könnten wir heute kaum mit Stolz auf ein Gesundheits- wesen blicken, das unbestritten zu den besten der Welt gehört.“
Um diesen Stand zu halten, muß nach Auffassung des Kanzlers ein
„neuer, moderner Handlungsrahmen mit mehr Freiheiten und neuen Ge- staltungsmöglichkeiten für alle Betei- ligten im Gesundheitswesen geschaf- fen werden“. Die GKV-Neuordnungs- gesetze böten hierfür eine gute Grundlage und auch große Chancen.
Die langjährige Geschichte der Deut- schen Ärztetage beweise, daß der An- spruch der Ärzte auf Beteiligung an allen gesundheitspolitischen Fragen und Entscheidungsprozessen stets eingefordert worden sei – und die Ärz- te dabei auch stets die Mitverantwor- tung für die Ausgestaltung des Ge- sundheitswesens übernommen hätten.
Dr. Wolfgang Schäuble wertete die Wahl des Veranstaltungsortes als Zeichen dafür, „daß der deutschen Ärzteschaft an der Festigung der in- neren Einheit gelegen ist“. Der Frak- tionsvorsitzende der Union im Bun- destag betonte wie zuvor schon Kohl die Unverzichtbarkeit der neuerli- chen Gesundheitsreform, da die Er- fahrungen mit den zurückliegenden Reformen gezeigt hätten, daß staatli- cher Dauerinterventionismus in Form zahlreicher Rechtsänderungen und Budgetierungen zu nichts führe.
Revolutionäres in der Medizin geleistet Auch Dr. Hermann Otto Solms hält „das Budgetierungsdenken von Lahnstein“ für überholt. Der Freide- mokrat würdigte die „revolutionären Leistungen der Medizin“ in den ver- gangenen 124 Jahren seit dem 1. Deut- schen Ärztetag, die sich in einer Ver- doppelung der Lebenserwartung nie- dergeschlagen hätten. Solms schrieb an die Delegierten: „Wer eine hoch- wertige Gesundheitsversorgung will, der muß auch bereit sein, die dafür benötigten Finanzmittel zur Verfü- gung zu stellen.“ Die Frage sei nur, ob dies alles aus Zwangsbeiträgen gesche- hen müsse. Jedenfalls sei es nicht zu- mutbar, „daß diejenigen, die die Ge- sundheitsleistungen erbringen, zu schlechteren Bedingungen arbeiten als sehr viel weniger qualifizierte Berufe“.
Für Rudolf Scharping fand der Ju- biläums-Ärztetag zu einem Zeitpunkt
statt, in dem sich Deutschland in einer der schwersten Beschäftigungs- und Strukturkrisen der letzten 40 Jahre be- finde. Der SPD-Parteivorsitzende ver- wies in seinem Grußwort auf die gerin- gen Wachstumsraten und die nicht hin- nehmbare Massenarbeitslosigkeit mit ihren direkten Wechselwirkungen zu den Sozialversicherungssystemen. Die Sozialdemokraten lehnten vor diesem Hintergrund den Abschied von der pa- ritätischen Finanzierung der GKV ebenso ab wie einen Wettbewerb der Kassen, der nur zu einer Risikoselekti- on führe. Wenn es um eine leistungs- fähige und bezahlbare Gesundheitssi- cherung gehe, biete die SPD, so Schar- ping, den Ärzten den Dialog an.
Joschka Fischer, Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, lenkte in sei- nem Grußwort die Aufmerksamkeit der Delegierten auf die sensiblen Dis- kussionen um die Transplantations- medizin. Er warb im Hinblick auf die Hirntod-Kriterien für den gesell- schaftlichen Schutz der Sterbenden.
Schutz und Aufklärung für die Spen- denden zu fordern sei kein Votum ge- gen die Organspende. Die Organspen- de, mahnte Fischer eindringlich, müs- se ein Geschenk sein – daran führe kein ethisch zu rechtfertigender Weg vorbei. Der Grünen-Sprecher machte überdies in der heutigen Ärzteschaft zunehmend ein neues Denken aus. Fi- scher nannte es in seinem Grußwort die „Begrünung des Gesundheitswe- sens“ und meinte damit unter ande- rem die Stärkung des Patientenein- flusses, eine umfassende Qualitätsge- staltung und den sorgsamen Umgang mit „ökologischen, sozialen und öko- nomischen Ressourcen“.
Neben weiteren Grußworten der Präsidenten der ungarischen und ja- panischen Ärzteschaft sowie des EU- Kommissars Padraig Flynn richtete auch der Ehrenpräsident des 100.
Deutschen Ärztetages, der Thüringer Arzt Dr. Gerhard Hasse, das Wort an die Delegierten. Er zitierte vielsinnig einen Vers aus dem Choral „Oh Gott, Du frommer Gott . . .“ mit folgendem Wortlaut: „Gib’, daß ich rede stets, womit ich kann bestehen! Laß’ kein unnützlich Wort aus meinem Munde gehen! Und wenn in meinem Amt ich reden soll und muß, so gib den Wor- ten Kraft und Nachdruck ohn’ Ver-
druß.“ Josef Maus
A-1645
P O L I T I K 100. DEUTSCHER ÄRZTETAG
Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 24, 13. Juni 1997 (49)