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Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 6, 7. Februar 1997 (1) ie Debatte um die Steuer-
reform (damit beschäftigt sich der Leitartikel in die- sem Heft) geht einher mit einem Streit über die Finanzierung der sogenannten Fremdleistungen in der Sozialversicherung. Folgt man jenen Sozialpolitikern, die sich zur Zeit dazu äußern, vor allem Bun- desarbeitsminister Norbert Blüm, dann sind damit Fremdleistungen in der Rentenversicherung ge- meint. Die Rentenpolitiker haben in erster Linie die Finanzierung von Erziehungszeiten ins Ge- spräch gebracht. Die Anrechnung von drei Erziehungsjahren soll die Rentenversicherung etwa 15 Milli- arden DM pro Jahr kosten. Und welch ein Zufall: Jene 15 Milliar- den machen etwa einen Prozent- punkt Mehrwertsteuer aus.
Fremdleistungen oder versi- cherungsfremde Leistungen gibt es indes nicht nur in der Ren- tenversicherung, es gibt sie zu- hauf in der gesetzlichen Kran- kenversicherung. Daran hat die- ser Tage der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereini- gung, Winfried Schorre, erinnert und beispielhaft Aufwendungen für Sterbegeld, Haushaltshilfen, Mutterschaftsvorsorge, Empfäng- nisverhütung und künstliche Be- fruchtung aufgelistet. Solcherlei Fremdleistungen machen weit über vier Milliarden DM pro Jahr aus.
Doch das sind lediglich die Fremdleistungen im engeren Sin-
ne. Setzt man Blüms Gedanken- gang in Sachen Erziehungszeiten in Parallele zu ähnlichen Lei- stungen der Krankenversicherung, dann kommt man zu erstaunlichen Zahlen. Das Kieler Institut für Ge- sundheits-System-Forschung hat schon vor einigen Monaten eine Untersuchung über Fremdleistun- gen in der gesetzlichen Kranken- versicherung vorgelegt und dabei ein „Diskussionsvolumen“ von mehr als 100 Milliarden DM er- rechnet.
Die größten Brocken machen die beitragsfreie Mitversicherung von Familienangehörigen sowie die Subventionierung der Kran- kenversicherung von Rentnern durch die aktiven Mitglieder aus.
Das sind gewiß sinnvolle, gesell- schaftlich erwünschte Maßnah- men, ähnlich der Anrechnung von Erziehungszeiten in der Renten- versicherung. Zu fragen ist freilich, ob solche sozialpolitisch oder auch familienpolitisch zu begründenden Ausgaben Sache einer Versiche- rungsgemeinschaft sind oder nicht von der Gesamtheit aller Steuer- zahler finanziert werden müssen.
Der Staat hat diese Frage in frühe- ren Jahren bejaht, indem er näm- lich versicherungsfremde Leistun- gen durch Bundeszuschüsse zum Teil mitfinanzierte. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit hat er sich diesen Verpflichtungen jedoch zunehmend entzogen.
Auch deshalb gehört eine of- fene und öffentlich geführte Aus-
einandersetzung über die Finan- zierung von Fremdleistungen der Sozialkassen zu Recht in die Steuerdebatte. Die Finanzpoliti- ker, insbesondere Finanzminister Theo Waigel, ärgern sich aller- dings darüber, daß Sozialpolitiker ausgerechnet jetzt über Fremdlei- stungen debattieren wollen und damit seiner Steuerreform den Schwung zu nehmen drohen. Ver- mutlich werden es Sozialpoliti- ker wie Blüm auch nicht allzu gerne sehen, wenn sich Gesund- heitspolitiker melden, um an die Fremdleistungen in der Kranken- versicherung zu erinnern. Denn das stört die Kreise der Renten- politiker.
Für die Gesundheitspolitik und insbesondere die gesetzliche Krankenversicherung wäre es in- des fatal, wenn nacheinander zunächst über die Steuerreform, alsdann über die Rentenreform und zu allerletzt auch noch – wenn die allgemeine Ermüdung einge- treten und die Finanzmassen um- verteilt oder verfrühstückt sind – über versicherungsfremde Lei- stungen der Krankenkassen be- funden werden sollte. Den letzten beißen bekanntlich die Hunde.
Nötig ist deshalb ein Gesamt- konzept über versicherungsfrem- de Leistungen in der Sozialversi- cherung und deren Finanzierung.
Das Thema darf nicht zwischen den Partikularinteressen einzelner Ressorts zerrieben werden.
Norbert Jachertz