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Archiv "Die Inhumanität der Medizin und die Anatomie" (05.09.1984)

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Die Inhumanität der Medizin und die Anatomie

Teil 1: Die Präparierübungen an der Leiche

Herbert Lippert*)

Dehumanisierend wirken in der Vorklinik nach Ansicht des Ver- fassers die einseitige Ausbildung an der Leiche, die streng latei- nische Nomenklatur und das wenig ärztliche Verhalten der For- scher-Lehrer. Der Entwicklung einer humaneren Arzt-Patient-Be- ziehung könnten dienen:

1. gleichwertige Übungen zur Anatomie am Lebenden neben den Präparierübungen an der Leiche,

2. Unterweisung der Studenten auch in Bezeichnungen der Um- gangssprache (zur späteren Verständigung mit dem Patienten), 3. Bemühen der vorklinischen Lehrer um ein menschlicheres

Lehrer-Schüler-Verhältnis.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

THEMEN DER ZEIT

D

ie Anatomie ist eine Wegbe- reiterin der modernen Medi- zin. Wenn heute so viel von der Inhumanität der modernen Medizin die Rede ist, muß sich der Anatom fragen, ob er an dieser In- humanität mitschuldig ist und was er beitragen kann, die Medizin zu humanisieren.

Was empfindet der Patient als in- human, vor allem im Kranken- haus? Alle Befragungen laufen darauf hinaus, daß es die Haltun- gen und Handlungen des medizi- nischen Personals, also der Ärzte und Pflegekräfte sind. Howard (1) hat elf Aspekte der Dehumanisie- rung herausgearbeitet: Patienten:

> werden wie Dinge behandelt (people as things),

> werden Maschinen gleichge- stellt (people as machines),

> dienen als Versuchskaninchen (people as guinea-pigs),

> werden lediglich als Problem betrachtet (people as problems),

> werden sozial degradiert (people as lesser people),

> werden sozial isoliert (people as isolates),

> werden schlecht versorgt (people as recipients of substan- dard care),

> haben keine Wahlmöglich- keiten (people without options),

> sind gefühlskalten „Betreu- ern" ausgeliefert (people „inter- acting" with icebergs),

> müssen ihre Krankenhaustage in einer ungemütlichen Umge- bung verbringen (people in static, sterile enviroments),

> fallen dem Verlust der Ehr- furcht vor dem Leben zum Opfer (people denied preservation of life).

Faßt man diese Aspekte zusam- men, so kann man stark vereinfa- chend sagen: Patienten werden

im Krankenhaus behandelt wie Leichen im Präpariersaal. Dann müssen wir aber sogleich fragen:

Welche Rolle spielt die Anatomie in der Entwicklung dieser Geistes- haltung?

Die Leiche als erster „Patient"

des Medizinstudenten

Der traditionelle medizinische Ausbildungsgang in den deutschsprachigen Staaten trennt vorklinisches und klinisches Stu- dium scharf. In der ersten Phase beschäftigt sich der Student mit Leiche und Versuchstier, in der zweiten Phase erst mit dem Pa- tienten. In der Vorklinik findet der Student in der Regel den stärk- sten Bezug zur praktischen Medi- zin in der Anatomie. Gegenüber der Leiche erlebt er erstmalig ei- ne Art Arzt-Patient-Beziehung. An der Leiche trainiert der Student gewissermaßen alle Aspekte der Dehumanisierung: Dieser „Pa- tient":

> ist eine bloße Nummer, ohne Namen und Gefühl. Sein einziges Bedürfnis ist ein wenig Befeuch-

tung von Zeit zu Zeit, damit er nicht austrocknet.

> ist wie eine Maschine zu hand- haben, wenn man sich z. B. die Wirkung von Muskeln veran- schaulichen will.

> dient beliebig als Versuchska- ninchen. Man kann an ihm in Wettstreit mit anderen Studenten treten, etwa wer schneller ist. Man muß ihn dazu nicht erst aufklären und seine Einwilligung einholen.

> gewöhnt den Studenten daran, keine Gefühlsäußerung des Pa- tienten zu erwarten. So gewinnt der Student gefühlsmäßig immer mehr Distanz und wird eine Art

„Eisberg".

> wird allmählich nicht mehr als Mensch, sondern nur noch als Problem betrachtet. Am Anfang des Kurses bestürzen die Studen- ten den Lehrer mit Fragen nach der Herkunft der Leiche, nach Be- ruf und Krankengeschichte. Im

") Aus der Abteilung für Funktionelle und An- gewandte Anatomie (Leiter: Prof. Dr. Dr. H.

Lippert) der Medizinischen Hochschule Hannover

2540 (20) Heft 36 vom 5. September 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Anatomieunterricht

Laufe des Kurses erstirbt dieses personenorientierte Interesse.

Die Leiche wird Objekt, an dem es ein Testat zu bestehen gilt.

> wird nicht als gleichwertiger Partner angesehen. Trotz aller of- fiziell beteuerten Hochachtung vor dem Körperspender können sich die meisten Studenten nicht vorstellen, daß aus ihrer Familie jemand seinen Körper der Anato- mie vermacht.

> wird überwiegend schlecht be- handelt. Wohl kaum ein Student leistet bei der Präparierarbeit das, was er eigentlich leisten könnte.

Die meisten begnügen sich mit dem, was nötig ist, um das Testat zu bestehen.

> wird dem Studenten im Präpa- riersaal in einer Umgebung prä- sentiert, die eher Angst als Ver- trauen einflößt.

I> kann sogar „weggeworfen"

werden, wenn das Interesse an ihm erloschen ist. Hat man alle Te- state erhalten, wird die Leiche be- stattet, und damit ist alle Verant- wortung begraben.

Der Anatomieunterricht sollte sich mehr am Lebenden als an der Leiche orientieren Präparierübungen an der Leiche sind unbestritten die Via regia zum Verständnis des Körperbaus.

Das Übel scheint mir nicht in der Arbeit an der Leiche als solcher zu liegen, sondern darin, daß der Student während des vorklini- schen Studiums die Rolle des Arz- tes in der Arzt-Patient-Beziehung nur gegenüber der Leiche einübt.

Er müßte parallel zur Präparation an der Leiche ständig auch am le- benden Menschen arbeiten.

Da die Studienpläne vorklinisches und klinisches Studium scharf trennen, können wir den Präpa- rierkurs kaum mit klinischen Un- tersuchungskursen koordinieren.

Der Anatom muß sich also selbst helfen.

Alle Ärzte stimmen wohl darin überein, daß das eigentliche Ziel des anatomischen Unterrichts das Verständnis des Körperbaus des lebenden Menschen und nicht der Leiche sei.

Meines Wissens ist nirgends fest- gelegt, daß der Anatom nur an der Leiche zu lehren habe. Warum vollzieht er dann nur so zögernd die naheliegende Folgerung, daß er Anatomie des lebenden Men- schen nicht nur theoretisch erör- tern, sondern auch praktisch üben sollte? Warum lehrt er den Stu- denten nicht auch am Lebenden zu sehen und zu tasten, was vom Körperbau zugänglich ist? Ge- wöhnlich wird mir entgegengehal- ten, das sei Aufgabe der klini- schen Untersuchungskurse und woher solle man die Patienten oder Modelle nehmen.

Studenten

untersuchen sich gegenseitig Die letzte Frage ist einfach zu be- antworten: Die Studenten sind sich gegenseitig Modell. Wenn es nicht inhuman ist, daß man kranke Menschen von Studenten unter- suchen läßt, wobei dies aus- schließlich dem Studenten und nicht dem Kranken nützt, dann kann es nicht inhuman sein zu er- warten, daß der Student auch sei- nen eigenen Körper zur Verfü- gung stellt. Dies erscheint mir kein Notbehelf, sondern eine Not- wendigkeit für das Verständnis des Patienten. Nur wenn der Stu- dent die Rolle des Patienten aus eigener Erfahrung kennt, wird er human mit ihm umgehen können.

Bei Übungen zur Anatomie am Le- benden (4) geht es mithin nicht nur um die Technik von Inspek- tion, Palpation, Perkussion, Aus- kultation und Funktionsprüfung, sondern gleichrangig um Übung von Humanität in der Arzt-Patient- Beziehung. Dabei erscheint mir der ständige Wechsel aus der Rol- le des Arztes in die Rolle des Pa- tienten und umgekehrt pädago- gisch wichtig.

Hochschullehrer haben häufig ei- ne eigenartige Doppelmoral ge- genüber Studenten:

Einerseits behandeln sie diese manchmal wie unmündige Kinder, andererseits erscheint es dann wieder nicht zumutbar, daß Stu- denten sich gegenseitig untersu- chen. Dabei ist die Atmosphäre in Übungen zur Anatomie am Leben- den mindestens genauso ent- spannt und selbstverständlich wie in Übungen an der Leiche. Ist die erste Hemmung überwunden, so stellt sich schnell Vertrautheit mit der Situation ein.

Man wird einwenden, Untersu- chungskurse gehören in die Kli- nik. Ich stimme zu, soweit es um die Untersuchung von Patienten geht. Ähnlich wie die vorklini- schen Präparierübungen den kli- nischen Sektionen vorangehen, sollte die vorklinische Untersu- chung des Gesunden vor der klini- schen Untersuchung des Kranken stehen.

An der Medizinischen Hochschule Hannover werden Übungen zur Anatomie am Lebenden als frei- willige Zusatzveranstaltungen zum Kursus der makroskopischen Anatomie angeboten. Die Appro- bationsordnung für Ärzte definiert die in den einzelnen Kursen anzu- wendenden Methoden nicht. Da- mit ist Spielraum zumindest für Ergänzungen gegeben. Freilich wird man mit Übungen am Leben- den die Übungen an der Leiche nicht ersetzen können. Im Ver- knüpfen beider scheint mir die Zukunft zu liegen.

Übungen am Lebenden an Stu- denten sind nahezu aus dem Nichts zu gestalten. Selbst ein an- spruchsvollerer Kurs macht, ver- glichen mit dem finanziellen Auf- wand der Übungen an der Leiche, nur wenig Kosten. Dabei geht es im wesentlichen um die Anschaf- fung einiger Untersuchungshilfs- mittel, wie Reflexhämmer, Stetho- skope, Winkelmesser usw., wäh- rend die laufenden Kosten prak- tisch gleich Null sind.

Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 36 vom 5. September 1984 (21) 2541

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

THEMEN DER ZEIT

Man wird weiter einwenden: Wer soll angesichts der bereits beste- henden umfangreichen Unter- richtsverpflichtungen den Unter- richt am Lebenden übernehmen?

Will man neue Unterrichtsformen einführen, muß man notgedrun- gen an traditionellen Veranstal- tungen einsparen. Dies scheint mir eines grundsätzlichen Über- denkens wert. Vor allem sollte man Ideal und Realität verglei- chen. Vielerorts folgt man dem Ideal, dem Studenten die anato- mischen Grundlagen für alle Teil- gebiete der Medizin zu vermitteln.

Wer sich noch an die mündlichen Prüfungen im Staatsexamen erin- nern kann, weiß wie wenig von den im vorklinischen Unterricht gelehrten Einzelheiten auf Dauer im Gedächtnis haften bleibt. Der Unterricht sollte daher mehr auf das Vermitteln von Fähigkeiten, als auf das Vortragen von Wis- sensstoff ausgerichtet sein. Wis- sensstoff kann der Student eben- sogut zu Hause aus dem Lehr- buch erarbeiten, die Fähigkeit,

„anatomisch" zu sehen und zu ta- sten, hingegen muß am lebenden Menschen geübt werden. Dabei sind die Anleitung und die Kon- trolle durch den Erfahrenen von unschätzbarem Wert.

Zur humanitären Forderung an den Anatomen gehört also auch, daß er sinnvolle Prioritäten setzt, den Studenten von weniger wich- tigem Lehrstoff entlastet und mit

ihm statt dessen Fähigkeiten und Einstellungen für die ärztliche Praxis übt.

(Dieser Beitrag enthält Teile der Eröffnungsrede des Verfassers auf der 79. Versammlung der Ana- tomischen Gesellschaft in Bo- chum am 26. März 1984.)

• Fortsetzung folgt

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med. Dr. phil.

Herbert Lippert Postfach 61 01 80 3000 Hannover 61

Die Kausaltherapie:

Numerus clausus

Weitere Beschränkungen der Zu- lassung zum Medizinstudium dür- fen nicht länger tabu sein. Die Bil- dungspolitiker sperren sich zwar, eine Anpassung der Kapazitäten ist jedoch unausweichlich, wenn das System der ärztlichen —vor al- lem ambulanten — Versorgung nicht aus den Fugen geraten soll.

Zu diesem Ergebnis führte eine Analyse der künftigen ärztlichen Berufsmöglichkeiten anläßlich ei- nes berufspolitischen Seminars auf dem Meran-Kongreß der Bun- desärztekammer. BÄK-Vizepräsi- dent Dr. Gustav Osterwald äußerte angesichts der jüngsten Statistik:

„Die tatsächliche Entwicklung hat jede Prognose in den Schatten gestellt."

Osterwald wie auch die anderen anwesenden Berufspolitiker stimmten darin überein, den Nachwuchs integrieren zu wollen.

Nordrhein-Kammerpräsident Prof.

Dr. Horst Bourmer: „Dazu sind wir kollegial verpflichtet." Er warnte aber auch, wenn die Integration nicht gelinge, dann entstehe ein radikales Potential, „das die ge- samte körperschaftliche Struktur aufrollen würde".

In den nächsten drei bis vier Jah- ren wird die Lage freilich noch nicht dramatisch sein. Denn, so rechnete KBV-Vorstandsmitglied Dr. Gerhard Löwenstein, erst da- nach sind die hohen Approba- tionszahlen fällig, basierend auf 11 000 bis 12 000 Studienanfän- gern. Die großen Zahlen kommen zu einer denkbar ungünstigen Zeit, nämlich wenn — bedingt durch den Altersaufbau der heute Niedergelassenen — die Quote der aus der Praxis ausscheidenden Ärzte drastisch zurückgehe.

Als kurzfristige Maßnahme, mit der ersten Nachwuchswelle fertig zu werden, empfahl Löwenstein dringend die Gründung von Ge- meinschaftspraxen. Außerdem

könnten Ungleichgewichte in der ärztlichen Versorgung, die regio- nal noch bestünden, ausgegli- chen werden. Osterwald riet fer- ner, die Ärzte müßten sich Betäti- gungsfelder zurückholen. Ähnlich äußerte sich auch Bourmer und Dr. Erwin Hirschmann (NAV), die außerdem auf neue Tätigkeitsfel- der, etwa im psychosozialen Be- reich oder in der Prävention, hin- wiesen. Diese Möglichkeiten sind freilich beschränkt, denn — um mit Dr. Erwin Odenbach (BÄK) zu for- mulieren — „wer von nichtärzt- lichen Berufen da heute drin ist, der bleibt auch drin".

Ob mit oder ohne neue Aufgaben

— Dr. Osterwald zeigte sich über- zeugt, daß heute und künftig nur derjenige in der freien Praxis überlebensfähig ist, der für die gesetzliche Krankenkasse arbei- tet. Wird die aber, so fragte zwei- felnd ein Zuhörer in Meran, für eventuelle neue Aufgaben der Ärzte auch bezahlen wollen? Die Kassenzulassung werde nicht mehr so ohne weiters ein aus- kömmliches Einkommen garan- tieren, meinte Dr. Hirschmann, sondern vielleicht nur für ein Teil- einkommen reichen. Allgemein- arzt Prof. Dr. Hans Hamm wagte in diesem Zusammenhang eine Pro- gnose: 1995 sei in der Allgemein- praxis mit einer Scheinzahl von nur noch 300 bis 400 zu rechnen.

Wird es zu dirigistischen Maßnah- men kommen, um zumindest der Kassenpraxis eine Art Bestands- schutz zu sichern? Die Frage stand in Meran im Raum. Forde- rungen nach einer Drosselung des Zugangs zur Kassenpraxis wurden indes nicht laut, was aber nicht heißt, daß solches nicht ge- dacht und gefordert wird. Laut Hirschmann sogar „ausgerechnet bei Verfechtern der freien Markt- wirtschaft". „Wir wissen kein Pa- tentrezept" resümierte Dr. Lö- wenstein, „wenn sich die Politik nicht endlich dazu entschließt, den Hahn dort zuzudrehen, wo das Verderben herkommt." Der Numerus clausus also als die ein- zig kausale Therapie. NJ 2542 (22) Heft 36 vom 5. September 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

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