DAS MOTIV DES VERLORENEN SOHNES
IM LYRISCHEN WERK VON SITOR SITUMORANG.
VARIATION UND ENTWICKLUNG EINES ZENTRALEN
LITERARISCHEN MOTIVS
Von Beate Carle, Köln
In der modernen indonesischen Literatur wird der Lyrik von Sitor Situmo¬
rang gemeinhin besondere Bedeutung beigemessen. Dennoch existieren bis dato
nur wenige Untersuchungen seines literarischen Werkes wie beispielsweise die
Arbeit von J.U. Nasution mit dem Titel Sitor Situmorang sebagai Penyair dan
Pengarang Cerita Pendek (1963) oder die unter der Beffeuung von Denis
Lombard im Jahre 1981 von Wing Kardjo erstellte Dissertation Sitor
Situmorang, La Vie et l'Oeuvre d'un Poete Indonesien. Beide Studien sind glo¬
bal orientiert und in der Textanalyse wenig detailliert; inhaltiiche Schwerpunkte
der Lyrik Sitors werden nur oberflächlich erfaßt und kaum durch konkrete
Textarbeit spezifiziert. Eher aufschlußreich ist die Untersuchung von Subagio
Sastrowardoyo Manusia Terasing di balik Simbolisme Sitor (1976). Unter dem
Begriff „der entfremdete Mensch" konzentriert sich Subagio auf zentrale As¬
pekte des lyrischen Werkes und bezieht sich unter anderem auf das Gedicht „Si
anak hilang" (Der verlorene Sohn), das Sitor 1955 in der Lyriksammlung Dalam
Sajak pubhzierte. Auch A.H. Johns befaßt sich in seinem Aufsatz „Sitor Situ¬
morang. The Poet between two Worlds" (1979) unter anderem kurz mit dem
Gedicht „Si anak hilang", während erst Teeuw die eigendiche Signifikanz des
Textes für das lyrische Werk Sitors und die modeme indonesische Literatur
schlechthin erkennt und „Si anak hilang" im Rahmen seiner Essaysammlung
TergantungpadaKata von 1980 gesondert untersucht. Erstaunlicherweise bringt
jedoch keiner der genannten Autoren das Gedicht in Verbindung mit
a) der biblischen Parabel vom verlorenen Sohn und
b) mit Sitors Gedicht „Pulanglah dia si anak hilang" (Heimgekehrt ist der
verlorene Sohn) aus seiner Lyriksammlung Zowan ßar« von 1962.
Mein Anliegen ist es, nachzuweisen, daß sich „der verlorene Sohn" im ly¬
rischen Werk von Sitor Situmorang als ein klar umrissenes Motiv manifestiert hat, das für sein literarisches Werk insgesamt von zentraler Bedeutung ist. Denn neben intertextuellen Bezügen zu der biblischen Parabel und der Prosaerzählung Le Retour de 1' Enfant ProdiguevonAndr^ Gide (1907) als literarische Vorwürfe des Motivs besteht unmittelbare Intertextualität zwischen drei Gedichttexten:
1. „Si anak hilang" (Der verlorene Sohn) aus der Sammlung Dalam Sajak von 1955,
2. „Pulanglah dia si anak hilang" (Heimgekehrt ist der verlorene Sohn) aus der
Sammlung Zaman Baru von 1962 sowie
3. ein 1982 in der Sammlung An^i« Danau erschienenes Gedicht, das ebenfalls den Titel „Si anak hilang" trägt. (Im folgenden unterscheide ich daher „Si anak hilang" (1) von 1955 und „Si anak hilang" (H) von 1982).
Diese drei Texte stellen drei divergierende Konzeptionen des Motivs des
verlorenen Sohnes dar. Sie bilden in Einheit mit anderen Gedichten Sitors, in
denen Komplemente des Motivs wie beispielsweise das Bild pengembara
(Wanderer) aufgenommen sind, den Motivkomplex „der verlorene Sohn". Hin¬
weis auf die Bedeutsamkeit dieses Motivs ist daher seine außerordentliche Verdichtung in einem Textkorpus mit einer Konstanz von über drei Jahrzehnten.
Darüber hinaus hegt eine Motivvariaton vor, die mit der biographischen Ent¬
wicklung des Verfassers korrespondiert, diese selbst gar reflektiert und dem¬
entsprechend auch als eine Motiventwicklung ausgewiesen ist. In den lyrischen
Texten ist dieser Zusammenhang vielfach durch die Kongruenz des Verfassers
mit dem textuellen Sprecher beziehungsweise mit der dargestellten Zentralfigur evident.
Mithin ist im Bereich der außertextuellen Informationen die Kenntnis der
biographischen Entwicklung Sitors entscheidend, der hier insbesondere durch
seine Autobiographie (1981) und den Aufsatz „Usaha Rekonstruksi yang Dirun-
dung Ragu (Proses Sajak)" (1984) aufschlußreiches Textmaterial vorgelegt hat.
Im wesentlichen auf der Grundlage dieser Informationen unterscheide ich in
der Biographie Sitors sechs Entwicklungsphasen, wobei die Phasen drei, vier
und sechs mit den Hauptphasen seiner lyrischen Produktivität übereinstimmen.
Da im Rahmen dieser Abhandlung eine detaillierte Ausführung seiner bio¬
graphischen Entwicklung in Korrelation mit den hier relevanten Publikationen Sitors nicht möglich ist, konzentriere ich mich auf die Hauptphasen der lyrischen
Produktivität Sitors, veranschaulicht anhand der folgenden graphischen Dar¬
stellung: (Siehe nächste Seite).
Das lyrische Werk von Sitor Situmorang ist in seiner Konzeption nicht
homogen, sondern ein Spiegelbild der sich verändernden geistigen Orientierung
seines Verfassers. Die Graphik zeigt das in unterschiedlicher Ausprägung
wiederkehrende Modv des verlorenen Sohnes als ein beständiges Element, das
in jeder der drei Hauptphasen der lyrischen Produktivität Sitors dominant in
Erscheinung tritt.
Die erste Hauptphase - hier mit der Ziffer A 111 kenndich gemacht -
subsumiert die Gedichtsammlungen Surat Kertas Hijau, Dalam Sajak und
Wajah TakBernama. Die Texte dieser Sammlungen entstanden im Anschluß an
seinen Aufenthalt in Europa (Niederlande und Frankreich) von 1950 bis 1953.
Entwicklungs- Lebensstationen phasen
(I-VI) Hauptphasen der lyrischen Produktivität (A-C)
I 1924-1931 Kindheit
in Harianboho 1931-1936 Grundschule
in Baiige 1937-1938 Grundschule
in Sibolga
1939-1941 MULOin „Saijah dan Adinda"
Tarutung (Llbersetzung in das
1942-1943 AMS in Toba-Batak, 1939)
Jakarta 1944-1945 Abschluß
der Schul¬
ausbildung in Sibolga
II 1945-1950 Journalist Gedicht „Kaliurang'
in Medan (erste literarische {Waspada), Publikation, 1948) danach in
Pematang Siantar (ße- rita Antard)
A III 1950-1953 Europa-Aufenüialt.
Amsterdam („Sti- cusa"). Paris (diplomatische Vertretung)
SURAT KERTAS HIJAU (1953)
- existenzphilosophische Orientierung
- Heimaüosigkeit und Idcnütätsproblematik
DALAM SAJAK (1955) SI ANAK HILANG
- Unlösbarkcit der £1)
Idcntitätsproblcmatik - Umkehrung der biblischen Parabel
WAJAH TAK BERN AMA
(1955)
- Glaubensveriust als Identitätsverlust
Gedichtssammlungen/ Zentrale Gedichte Zentrale Aspekte zum zum Thema Thema
Entwicklungs¬
phasen (I-VO Hauptphasen der lyrischen Produktivität (A-C)
Lebensstationen Gedichtssammlungen/
Zentrale Aspekte zum Thema
Zentrale Gedichte zum Thema
B IV 1955-1965 Vorsitzender
des LKN.
Mitglied des Rats für kul¬
turelle Ange¬
legenheiten der PNI.
ZAMAN BARU (1962)
- Selbstfmdung in kulturpolitischer Orientierung
PIJI.ANGLAH DIA
Sl ANAK HILANG
- Konflikdösung durch ideologische Bindung 1967-1975 Haft
C VI seither
1977
1978 1981
seit 1982
DINDING WAKTU
(1976)
- Wiederaufnahme der Identitätsproblematik PETA PERJALANAN (1977)
- Konditionen der Heim¬
kehr Rückkehr
nach Harian¬
boho (Knochen- umbettung).
Beginn der wissenschaft¬
lichen Beschäf¬
tigung mit der eigenen Kultur Umsiedlung in die Niederlande Autobiographie:
Sitor Situmorang.
Seorang sastra- wan 45. Penyair Danau Toba
ANGIN DANAU (1982)
- Aspekte der Idendtäts¬
findung und die Heim¬
kehr des verlorenen Sohnes
Forschungs¬
stipendium der Ford Foundation (Gcncralogie-For- schung zu „Guru Tatea Bulan")
SI ANAK HILANG
mi
- Adaption der bib¬
lischen Parabel
Sie sind zum Teil durch enge Bezüge zu der Existenzphilosophie Camus'
gekennzeichnet, wobei Sitor den Begriff des Absurden bei Camus mit dem
Begriff keisengan (Orientierungslosigkeit) parallehsiert. Zentrale Ursache der intensiven Beschäftigung mit der Existenzphilosophie war gewiß die unmittel¬
bare Betroffenheit Sitors, denn der Auslandsaufenthalt Anfang der fünfziger
Jahre war der Höhepunkt eines kontinuierlichen Entfremdungsprozesses von
seinem engeren heimatlichen Umfeld in Nordsumatra. Sein in der Kindheit
erworbenes Identitätsverständnis als Toba-Batak und Angehöriger der marga
Situmorang war durch das aktive Miterleben der Nationwerdung der Republik
Indonesien von einem eher national orienrierten Selbstverständnis zurück¬
gedrängt worden. Nach seiner Rückkehr nach Indonesien schreibt Sitor unter
dem Titel „Surat ke-ndakpercaya-an" (1953b): „Mein Gemütszustand des iseng in Paris und jetzt in Indonesien besteht darin, keinen Kontakt zu bekommen.
Vielleicht ist es das, was der Volksmund ,entwurzelt sein' nennt". Das Gedicht
„Si anak hilang" (I), das in dieser ersten Hauptphase der lyrischen Produktivität
Sitors entstanden ist, bringt sein Gefühl der Entwurzelung, des „Unbe-
haustseins", klar zum Ausdruck.
Der veriorene Sohn In der Tagesmitte Hitze
Erscheint eines Bootes Punkt auf dem See Die Mutter, unruhig, läuft zum Ufer Den lang erwarteten Sohn zu begrüßen 5 Das Boot, der Punkt wird deutlich
Der Blick glänzt von Tränen Der Sohn aus der Fremde ist da Ausgestiegen umarmt ihn die Mutter Der Vater sitzt in des Hauses Mitte 10 Als warte er gleichgültig
Der Sohn an der Seite der Mutter ist bedrückt - Ein Mann hat sich zu beherrschen - Der Sohn setzt sich, soll berichten Ein Huhn wird geschlachtet. Reis gekocht 15 Das ganze Dorf fragt unaufhörlich
Hast du eine Frau, hast du Kinder?
Der verlorene Sohn ist nun zurückgekehrt Niemanden kennt er mehr
Wie oft schon ist die Ernte eingebracht 20 Was mag wohl alles geschehen sein?
Das ganze Dorf fragt unaufhörlich
Hast du Kinder, wieviele?
Der verlorene Sohn schweigt nur Er wollte lieber fragen
25 Nach dem Essen, bei Dämmerung
Nähert sich die Mutter, das Gespräch suchend Der Sohn beuachtet die fragende Mutter Die erfahren will von der Kälte Europas Der Sohn schweigt, denkt versunken zurück 30 An die Kälte Europas, die Jahreszeiten, seine Städte
Die Mutter schweigt, verstummt Es gibt keine Reue, nur Freude
Die Nacht bricht herein, die Mutter ist eingeschlafen Der Vater schnarcht schon lange
35 Am sandigen Ufer plätschern die Wellen Wissend, der Sohn ist nicht heimgekehrt
übersetzt von:
Beate Carle
„Si anak hilang" (1) schildert die scheiternde Heimkehr des verlorenen Soh¬
nes in Form eines komprimierten auktorialen Erzählerberichts. Der sich hierauf
gründende dokumentarische Charakter des Textes wird teilweise durch eine in
poetischen Bildern detailrealistische Deixis ergänzt, die in dem mit der Szenerie
des Bataklandes vertrauten Rezipienten Impressionen des Toba-Sees evoziert -
der engeren Heimat von Sitor Situmorang. Die im Handlungsverlauf zu¬
nehmende Spezifizierung des Handlungskontextes erreicht in den Zeilen „Der
Sohn betrachtet die fragende Mutter/Die erfahren will von der Kälte Europas"
einen Höhepunkt, denn unter Berücksichtigung der biographischen Entwick¬
lung Sitors ist hier eine Kongruenz der dargestellten Zentralfigur mit dem Ver¬
fasser explizit. Diese Kongruenz erlaubt in der Interpretation eine deutliche Be¬
zugnahme auf den Europa-Aufenthalt Sitors und seinen in letzter Konsequenz
hieraus resuluerenden Identitätskonflikt, den er mit dem Begriff iseng um¬
schreibt. Analog der Figur des Meursault in dem Roman L'Etranger von Camus
(1942) ist auch hier die im Mittelpunkt der Darstellung stehende Figur des
verlorenen Sohnes der Welt entfremdet. Seine Tragik besteht konkret in der ab¬
soluten Entfremdung von seinem heimadichen Umfeld, die jegliche Kommuni¬
kation unmöglich macht (vgl. Teeuw 1980: 39).
Der Auffassung Sasuowardoyos, daß der verlorene Sohn nur körperlich
zurückgekehrt sei, während seine Seele in Europa eine neue Heimat gefunden
habe, kann ich nicht folgen. Die Rückbesinnung auf seine Vergangenheit in
Europa (Z. 29 f) ist meines Erachtens vielmehr Ausdruck seiner verzweifelten
Suche nach Identität, denn in der Wiederbegegnung mit seiner heimatlichen
Umgebung ist deutlich geworden, daß er seine Heimat und damit seine ur¬
sprüngliche Idenntät verloren hat. In diesem Sinne impliziert der Gedichttitel „Si
anak hilang" den tragischen Ausgang des Geschehens, denn in dieser
MoUvkonzeption Sitors ist der verlorene Sohn tatsächlich und unwiderruflich verloren.
In der Konzeption der biblischen Parabel hingegen, die aufgrund der christ¬
lichen Erziehung Sitors und mangels anderer Hinweise als der primäre Refe¬
renztext anzunehmen ist, erweist sich der Sohn als nur verloren geglaubt: Er
kehrt nach erfolglosem Aufenthalt in der Fremde reumütig zurück und wird von
seinem Vater - im Analogieschluß also von Gott - freudig wieder aufgenom¬
men. Mithin entspricht die Motivkonzeption in dem Gedicht „Si anak hilang"
von 1955 auch einer Umkehrung der tjiblischen Parabel. Im Unterschied zu
Teeuw, der eine Inkohärenz zwischen der eher traditionellen Form und der
„modemen Textaussage" als signifikantes Gestaltungsmerkmal zentral hervor¬
hebt, halte ich diesen intertextuellen Bezug für entscheidend. Sitor setzt der
Botschaft von der Barmherzigkeit Gottes die TragUc eines verlorenen Sohnes
entgegen, der hilflos schweigend in Resignation verharrt. Ähnlich Camus, der
Kierkegaards Rückwendung zum Christentum den „philosophischen Selbst¬
mord" (sacrificium intellectus) nannte, wendet sich Sitor mit dieser Motiv¬
konzeption gegen die Intention des Bibeltextes. Das Gedicht „Si anak hilang" (1)
ist daher auch Ausdmck der Entfremdung Sitors von Gott, die in Gedichten wie
„Ziarah dalam gereja gunung" {Wajah Tak Bernama) und „Cathedrale de
Chartres" {Surat Kertas Hijau) explizit ist.
Die zweite Hauptphase der lyrischen Produktivität Sitors ist in der Lyrik¬
sammlung Zama/iÄarM von 1962 dokumentiert. Diese Sammlung reflektiert das
damalige politische Engagement Sitors unter anderem als Vorsitzender des
Lembaga Kebudayaan Nasional (LKN). Die Kritiker verurteilten zumeist die
hiermit verbundene konzeptionelle Neuorientiemng und bemängelten die nun
plakativen Formulierungen als hterarisch minderwertig. Teeuw beispielsweise
begreift die Sammlung als eine Summiemng von „empty slogans" (1967: 181)
und lediglich M. Balfas revidiert 1973 sein früheres, ähnliches Urteil. Solche
Bewertungen lassen meines Erachtens die eigenthche Textintention in Kohä¬
renz mit der biographischen Entwicklung Sitors unberücksichtigt. Diese spiegelt
jedoch den im historischen Kontext notwendig veränderten Anspruch der
Literaturkonzeption Sitors und ist zugleich Ausdruck seines individuellen, im
Verhältnis zu den ersten Lyriksammlungen veränderten Selbstverständnisses.
Das Gedicht „Pulanglah dia si anak hilang" (Heimgekehrt ist der verlorene
Sohn) aus der Sammlung Zaman Baru zeigt analog der Selbstfindung Sitors in
kulturpolitischer Orientiemng eine dem Gedicht „Si anak hilang" (I) konträr gegenüberstehende Motivkonzeption.
Heimgekehrt ist der verlorene Sohn nach Andre Gide,
in der Version von Chairil Anwar.
Schreibt es an alle Wände:
„Ich habe meine Heimat gefunden, jedoch nie
hatte ich sie verloren!"
Schreibt es auf alle Gewässer:
5 „Ich habe meine Seele gefunden, obwohl sie mir stets innewohnte!"
Schreibt es an den Horizont:
„Ich habe das Volk gefunden, obwohl sein Blut immer schon
mein Herz schlagen ließ!"
10 Ich schreibe auf alle Gräser:
„Ich habe jetzt mein Selbst gefunden, weil du heimgekehrt bist,
heimgekehrt von der Wanderschaft!"
Ich schreibe es und flüstere an allen Türen:
„Sei willkommen! Sei willkommen!"
übersetzt von:
Beate Carle
Der als textueller Sprecher in Erscheinung tretende verlorene Sohn konsta¬
tiert emphatisch seine Heimkehr. „Heimkehr" bedeutet hier die Kenntnis der eigenen Identität, die durch die Begriffe tanah air (Heimat), jiwa (Seele) und
rakyat (Volk) determiniert ist. Im Rahmen der Gesamtkonzeption der Samm¬
lung Zaman Baru haben diese Begriffe eine politische Dimension, die eng mit
der gelenkten Demokratie Sukamos in Verbindung steht. Sie bezeichnen die
wesentlichen Komponenten Sitors neuen Selbstverständnisses .
Darüber hinaus ist der explizite intertextuelle Bezug zu der Prosaerzählung
Le Retour de l' Enfant Prodigue von Andre Gide bedeutsam. Während der
verlorene Sohn bei Gide lediglich konstatiert „Ich suchte [...] mich selbst", hat der verlorene Sohn in „Pulanglah dia si anak hilang" sein Selbst gefunden und de-finiert. Sitor gibt in dieser Motivkonzeption eine Antwort auf die in der Kon¬
zeption Gides offengelassene Frage, ob und wie der Mensch sein Selbst und
damit seine Identität finden oder erkennen kann.
Verursacht durch seine politisch motivierte Inhaftierung von 1967 bis 1975 beginnt die dritte Hauptphase der lyrischen Produktivität Sitors erst im Jahre
1976 mit der Lyriksammlung Dinding Waktu.
Das für diese Moüvuntersuchung relevante Gedicht „Si anak hilang" (II) er¬
schien 1982 in der Sammlung An^m Danau.
Der verlorene Sohn
Ein reicher Mann besaß zwei Söhne, zwei Jungen verschiedenen Charakters.
Der Vater liebte sie beide,
wie hätte er sein Blut trennen können?
5 Der Ältere war fleißig und dazu ausdauernd, bestellte die Felder, werkte, pflegte die Tiere, arbeitete den ganzen Tag über im Feld, hütete das Erbe der Ahnen.
Der Jüngere besuchte gern Feste,
10 spazierte dort, wo sich die jungen Leute Uafen,
der Reis auf den Feldem, die gedeihenden Tiere in den Bergen wurden Seines, ohne Arbeit.
Abends fortzugehen, heimzukehren am frühen Morgen, war die Arbeit des Jüngeren das ganze Jahr über.
15 Es blieb dem Älteren die Knochenarbeit, heimkehrend am Abend schloß er den Stall.
Schließlich war das Dorf zu langweilig für den Nichtsnutz, das Großmaul,
die Entscheidung fiel - er werde in die Stadt gehen, fort, 20 versehen mit seinen Erbe, vom Vater gegeben.
Die Großstadt voll von den Farben der Welt machte den Jüngeren trunken vor Glück.
Zu essen, zu trinken, Spaß zu haben mit den Freunden, die zu singen verstanden.
25 Sein Vermögen war bald aufgebraucht - das Land von Hungersnot bedrängt, Seuchen grassierten, brachten Elend.
Es besann sich der Jüngere wie er sich freute, wäre er Knecht nur im Hause des Vaters.
Um zu leben, nahm sich der Jüngere eine Arbeit, 30 war ein Diener bei Fremden, auf niedrigster Stufe,
ein Viehstall war sein Schlafplatz, als Nahmng erhielt er Essensreste.
Dem Jüngeren war daraufiiin bewußt, er müsse heimkehren, (die Heimat winkte ihm),
35 nahe dem Vater, inmitten der Sklaven, Gehilfe des älteren Bmders zu werden.
Eines Nachmittags kam er aus der Feme, wurde gesehen vom Vater auf dem Feldrain, an dem Ort, wo dieser wartete, jeden Nachmittag, 40 betend, daß sich der Sohn auf die Heimkehr besinne.
Der Vater lief seinem Sohn entgegen, umarmte ihn schluchzend,
der Jüngere war ergriffen und warf sich nieder:
„Vater, ich habe gesündigt. Ich bin wert, dein Knecht zu sein".
45 Der Vater rief rasch die Familie herbei, ließ Rinder und Schafe für ein Opfer schlachten, zu feiern den Tag des Glücks der Gemeinde -
Mein Sohn, der verloren war, ist in meinen Schoß zurückgekehrt!
Vom Felde kehrte der Ältere zurück, 50 hörte die Leute ausgelassen singen.
Mein Vater gibt ein Fest, was mag es Neues geben als Ursache der Freude, wovon ich nichts weiß?
Die Nachbam sagten: Weißt du es denn noch nicht?
Dein Bmder ist heimgekehrt aus der Fremde.
55 Daher feiem wir ein Fest, schenken Honig aus, trinken Wein soviel das Herz begehrt.
Der Ältere wandte sich um, ging fort, um allein zu sein.
Inmitten der Felder stand er betrübt,
überdachte sein Schicksal, wie sinnlos es sei, 60 sein Leben zu verbringen in treuer Arbeit.
Der Vater spürte, der Vater sah den treuen Sohn niedergeschlagen,
er ging zu ihm, bemhigte ihn voller Zuneigung:
Bist du nicht glücklich, mein geliebter Sohn?
65 Dein Bmder ist heimgekehrt, nachdem er lange verioren war!
Meine Liebe gehört dir. Mein ganzes Vermögen ist dein. Dieser dein Bruder
ist mehr wert als ein Schaf, er ist es wert, geliebt zu werden!
Der Ältere wandte sich um, lief dann zum Haus, 70 seinem Bmder entgegen, der in der Türe stand,
sie schauten einander an, seine Hand wollte töten,
zu schwach - sie strich über den Kopf des geliebten Bmders.
übersetzt von:
Beate Carle
Si anak hilang (11) beruht in seinen Grundzügen auf einer Adaption des
biblischen Parabeltextes. Unter Beibehaltung der Erzählstruktur transponiert
der Verfasser die biblische Erzählung in eine lyrische Form mit narrativem Charalcter;derGatmngswechselfälItdaherkaumins Gewicht. Imintertextuellen Vergleich erweist sich, daß Sitor lediglich die Grundelemente des Handlungs¬
verlaufs übemommen hat: den Fortgang des jüngeren Sohnes, sein Elend in der
Fremde und seine Heimkehr in das Haus der Vaters. Die deiktischen Infor¬
mationen des Gedichts sind wesentlich umfangreicher als die der biblischen
Parabel. Eine direkte Erweitemng des Ausgangstextes bildet die Begegnung der
beiden Brüder: Sitor macht hier die Botschaft des Bibeltextes explizit, indem er das Verzeihen des älteren Bmders darstellt. In diesem Sinne spiegelt die Motiv¬
konzeption in „Si anak hilang" (II) die Rückbesinnung Sitors auf den christ¬
lichen Glauben, die er 1977 in einer Äußemng angekündigt hatte (vgl. MD
1977). Die Motivkonzeption des Gedichts „Si anak hilang" (II) ist daher bei¬
spielhaft für die Neuorientiemng Sitors in der dritten Hauptphase seiner
lyrischen Produktivität. In der Adaption der biblischen Parabel zeigt sich seine Hinwendung zu der positivistischen christlichen Heilslehre, die - analog seiner
Abkehr von Gott in den Lyriksammlungen der fünfziger Jahre - in der Samm¬
lung Angin Danau insgesamt dokumentiert ist.
Die drei Hauptphasen der lyrischen Produktivität Sitors sind daher nicht nur zeitlich abgegrenzt, sondem auch durch die jeweilige geistige Orientiemng des Verfassers determiniert, die sich in den drei divergierenden Motivkonzeptionen
widerspiegelt. Die Motiwariation und die Motiventwicklung kumulieren in der
Figur des verlorenen Sohnes. Diese ist konzipiert
a) als im geradezu existenzphilosophischen Sinne verlorener Sohn in „Si anak
hilang" (I) (1955)
b) als heimgekehrter Sohn, dessen Identität politisch determiniert ist in „Pu- lang-lah dia si anak hilang" (1962)
c) als heimgekehrter Sohn, der analog der biblischen Parabel seine Identität in
der chrisdichen Glaubensgemeinschaft und im Schoß seiner Famihe wie¬
dergefunden hat in „Si anak hilang" (II) (1982).
Kongment zu der in „Si anak hilang" (II) dargestellten Heimkehr des ver¬
lorenen Sohnes verhält sich die biographische Entwicklung Sitors. Die Tatsache,
daß er seine Rückkehr nach Harianboho im Jahre 1977 durch die Presse doku¬
mentieren und verbreiten ließ, und die damals aufgenommene wissenschaftliche Beschäftigung mit der eigenen Kultur markieren seinen Weg der Idendtätsfin¬
dung.
Dieser Weg erscheint charakteristisch für die Bestrebungen einiger indo¬
nesischer Schriftsteller wie beispielsweise Mochtar Lubis und Rendra, über die Untersuchung regionaler Kulturen die Teilidentitäten Indonesiens zu erfassen,
um auf nationale Zusammenhänge besser einwirken zu können.
Die Heimkehr des verlorenen Sohnes Sitor ist in diesem Sinne von der
faktischen Heimkehr in sein Heimatdorf Harianboho unabhängig. Die Adaption der bibUschen Parabel als die bis dato letztgültige Motivkonzeprion verweist darauf, daß der verlorene Sohn nun beheimatet ist, indem er sich auf seine ur¬
sprüngliche Identität als Toba-Batak und Christ rückbesinnt.
Bibliographie
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Johns, A.H. 1979 „A Poet between Two Worlds: The Work of Sitor Situmorang", in: A.H. Johns, Cultural Options and the Role of Tradition. A Collection of Essays on Modern Indonesian and Malaysian Literature, Canberra, S. 82-94
MD 1977 „Sitor Situmorang membaca puisi: Pada Acara Malam Piala Perdana", in: Mingguan Mahasiswa, 9.6.1977
Nasuüon, J.U. 1963 Sitor Situmorang sebagai Penyair dan Pengarang Cerita Pendek, Jakarta Sastrowardoyo, S. 1976 Manusia Terasing di Balik Simbolisme Sitor, Jakarta
Situmorang, Sitor 1953a Surat Kertas Hijau. Kumpulan Sajak, Jakarta (2. Aufl. Jakarta 1978) Situmorang, Sitor 1953b „Surat ke-tidakpercaya-an" in: Mimbar Indonesia Vll-13, 28.3.1953 Situmorang, Sitor 1955a Dalam Sajak. Kumpulan Sajak, Jakarta (2. Aufl. Jakarta 1982) Situmorang, Sitor 1955b Wajah TakBernama. Kumpulan Sajak, Jakarta (2. Aufl. Jakarta 1982) Situmorang, Sitor 1976 Dinding Waktu. Sajak-Sajak, Jakarta
Situmorang, Sitor 1977 Peta Perjalanan. Sajak-Sajak, Jakarta
Situmorang, Sitor 1981 Sitor Situmorang. Seorang Sastrawan 45. Penyair Danau Toba, Jakarta Situmorang, Sitor 1982 Angin Danau. Kumpulan Puisi, Jakarta
Situmorang, Sitor 1984 „Usaha Rekonstruksi yang Dirundung Ragu (Proses Sajak)", in:
Pamusuk Eneste (Hrsg.), Proses Kreatif Mengapa dan Bagaimana Saya Mengarang, jilid 11, Jakarta, S. 1-20.
Teeuw, A. 1967 Modern Indonesian Literature, Koninklijk Instituut voor Taal-, Land- en Volkenkunde. Translation Series 10, vol. I, The Hague
Teeuw, A. 1980 Terganiung pada Kata. Scpuluh Sajak Indonesia, Jakarta
Wing Kardjo 1981 Sitor Situmorang, La Vie et I'ceuvre d'un Poete Indonesien, Paris (Diss.
unveröffenüicht)
ANAK AGUNG PANDJI TISNAS KONZEPTION VON
GESCHICHTE, INSBESONDERE AUFGEZEIGT ANHAND
DES ROMANS „I SWASTA SETAHUN DI BEDAHULU"
Von Karen Stadtlander, Hamburg
Während der Zeit der indonesischenUnabhängigkeitsbewegung setzten sich
westlich gebildete indonesische Intellektuelle verstärkt mit der Geschichte aus¬
einander. Sie taten dies aufgrund ihrer Unzufriedenheit mit der Gegenwart - der
damaligen kolonialen Situation Niederländisch Indiens. In der Auseinan-
dersetzun mit der Vergangenheit suchten sie nach möglichen Lösungen für die
Zukunft in Hinblick auf einen unabhängigen Nationalstaat Indonesien.
Die jungen indonesischen Intellektuellen verstanden demnach „Geschichte als Prozeß, als konkrete Vorbedingung für die Gegenwart", wie Lukäcs 1955 in seiner Monographie „Der historische Roman" zur Situation Europas im 18. Jahr¬
hundert nachweist. In diesem Werk untersucht er „auf welchem gesellschaft¬
lichen und ideologischen Boden der historische Roman entstehen konnte. Zur
Geschichtsschreibung der Aufklärung sagt er: „Die mitunter großartige und
viele neue Tatsachen und Zusammenhänge aufdeckende Konstruktion der
Geschichte dient dazu, die Notwendigkeit der Umwälzung der .unvernünftigen' feudal-absolutistischen Gesellschaft nachzuweisen, um aus ihren Erfahrungen der Geschichte jene Prinzipien abzuleiten, mit deren Hilfe eine .vernünftige' Ge¬
sellschaft, ein .vernünftiger' Staat geschaffen werden kann". (Lukäcs 1955:
12-13. 14)
Wie in Europa die Auseinandersetzung mit Geschichte Anfang des 19. Jahr¬
hunderts zur Entstehung des sogenannten historischen Romans beitrug, so
dokumentieren viele Beispiele der damaligen malaiisch-sprachigen Literatur,
insbesondere in den 20er und 30er Jahren dieses Jahrhunderts, die Aus¬
einandersetzung mit Geschichte und Gegenwart mit der Perspektive eines
indonesischen unabhängigen Staates. In diesem Zusammenhang seien Namen
wie Mumad Yamin, Sanusi Pane, Nur Sutan Iskandar und Effendi erwähnt.
Hier möchte ich nun diese Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegen¬
wart anhand eines Beispiels darstellen, und zwar anhand des historisch ange¬
legten Romans ,/ Swasta setahun di Bedahulu", erschienen 1937 bei der ko¬
lonialen Verlagsanstalt Balai Poestaka und geschrieben von dem Balinesen
Anak Agung Pandji Tisna, damals noch unter seinem Namen I Goesti Njoman
Pandji Tisna.
Zunächst werde ich auf den zeitgeschichtlichen Hintergrund sowie biogra¬
phische Voraussetzungen des Autors eingehen, die ihn zur Auseinandersetzung
mit Geschichte - insbesondere der seiner Region Bali - veranlaßten und damit
zum Entstehen des Romans beitrugen.