Ein Tolstoi der Skulptur
Erinnerung an den Bildhauer Christoph Voll zum hundertsten Geburtstag
Als die Pariser Zeitschrift „Cahiers d ' A r t " 1928 eine U m f r a g e zu Positionen innerhalb der Skulptur der zwanziger Jahre startete, n a n n t e der Kunstkritiker Will G r o h m a n n in seinem Beitrag den H o l z b i l d h a u e r Christoph Voll einen „rea^
liste exceptionel". D o c h die D o m i n a n z der gegenstandslosen K ü n s t e nach 1949 schob leidenschaftliche Bildner der menschlichen Figur als Ausdrucksträger ins Abseits.
Volls N a m e ist verbunden mit der Dresdner Secessionsgruppe 1919. Mit sei
nen, in taille directe gearbeiteten Holz
skulpturen von Bettlern, Akten, Waisen
kindern, Arbeitern und Porträts gehört Voll z u s a m m e n mit Otto Dix zu den füh
renden Realisten nach 1919. Wie viele sei
ner Kollegen war auch er ein produktiver G r a p h i k e r . Obwohl Voll ebenso wie Dix vier Jahre das G r a u e n des Krieges durch
machte, gestaltete er nie Szenen dieses Krieges; er konzentrierte sich vielmehr auf die soziale Situation des Menschen der Nachkriegszeit. Deshalb stieß Volls K u n s t in der D D R auf historisches Inter
esse. A u c h in den Vereinigten Staaten w u r d e er gewürdigt: Seine lebensgroße Holzfigur eines ausgemergelten Mannes,
„Ecce H o m o " von 1924/25, wurde 1983 in die Ausstellung „ G e r m a n Expressionist Sculpture" in Los Angeles a u f g e n o m m e n , obgleich mit diesem Bildwerk die Grenze vom Expressionismus zum Realismus klar überschritten war. Die 1994 erschie
nene M o n o g r a p h i e von AnneMarie Kas
sayFriedländer liefert die G r u n d l a g e zu einer neuen Bewertung.
A m 25. April 1897 in M ü n c h e n gebo
ren, von seiner M u t t e r zeitweise dem ka
tholischen Waisenhaus übergeben, be
suchte Voll Schulen in Altötting und Deggendorf. 1911 zog die wiederverheira
tete M u t t e r mit ihm nach Dresden, wo der Junge beim Bildhauer Starke in die Lehre ging. Im Jubel des Sommers 1914 blieb Voll zurückhaltend, beendete seine Lehre und meldete sich erst 1915 A n f a n g April „freiwillig zum Heeresdienst". In die Ausbildungszeit an der Kunstgewer
beschule 1919 in Dresden fällt die expres
sionistische Phase seines Schaffens. An der K u n s t a k a d e m i e 19201923 prägt sich sein realistischer Stil so eindrucksvoll aus, d a ß Voll als ein „Tolstoi der Holzskulp
t u r " bezeichnet werden konnte (Roberto Tassi). Die sozialistisch orientierte
„ G r u p p e 1919" n i m m t ihn 1920 als Mit
glied auf. Im S o m m e r 1924 erhält der jun
ge Bildhauer eine Professur an der Staat
lichen Kunstschule zu Saarbrücken. D o r t entstanden seine bedeutenden, von prole
tarischer Expression und Wucht getrage
nen Holzskulpturen. 1924 stellt er ge
meinsam mit O t t o Nagel, Kollwitz, Dix, Lachnit, Schlichter, Grosz und vielen an
deren in M o s k a u bei der „1. Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung" aus, ein U n t e r n e h m e n der Künstlerhilfe der so
zialistischen Internationalen Arbeiter
hilfe.
Im September 1928 wird Voll als Nach
folger von Kurt Edzard an die Badische
Landeskunstschule f ü r Bildhauerei nach Karlsruhe berufen. Hier wendet er sich mit seiner Klasse den harten Steinen zu.
Der Realismus beruhigt sich allein schon durch den Materiälcharakter. Die weibli
chen Akte und die K ö p f e aus G r a n i t und M a r m o r zeigen nicht mehr den suggesti
ven Verismus wie die hölzernen Gestal
ten, die die Bitternis des Lebens betont hatten. Die folgenden Jahre waren von Erfolgen gekrönt: Voll erhielt Preise und Aufträge, u n d 1931 wurden in Karlsruhe 132 Werke in einer Kollektivausstellung gezeigt.
D a ß die Nazis die kritischen Realisten wie Grosz, Dix, Heartfield weit wütender verfolgten als die f o r m a u t o n o m e n Maler wie Molzahn, K a n d i n s k y oder Baumei
ster, ist zweifellos deutlich. Dementspre
chend wurden die häßlichen „Weiber"Fi
guren von Voll sofort 1933 in die Vor
läuferausstellung der „Entarteten K u n s t "
in Dresden geschleppt. Ein F o t o zeigt G ö r i n g und den Oberbürgermeister Zör
ner in U n i f o r m vor der Figur von Voll, und man k a n n sich die üblen Witze der N S F ü h r e r vorstellen über „Verfalls
kunst", „Novembergeist" und „ K u l t u r bolschewisten". In der W a n d e r s c h a u seit
1937 standen zwei Holzfiguren von Voll aus dem S t a d t m u s e u m Dresden: das klei
ne dicke „Weib" (Schwangere) und der K o p f mit H ä n d e n (verschollen), ferner das Aquarell eines M ä d c h e n k o p f e s , eine Zeichnung und der Holzschnitt „Vier K n a b e n " .
W ä h r e n d andere Kunstlehrer sofort im F r ü h j a h r 1933 entlassen wurden, war die Lage Volls unklar. Seine Klasse galt zwar als „rot", aber er hatte sich als Lehrer ei
nen ausgezeichneten Ruf erworben und in
„vorbildlicher Weise den Werkstatt und Bauhüttengedanken während fünf Jahren rastlos in die T a t umgesetzt", hieß es im September 1933. D e n n o c h drohte seine Entlassung. Als der Bildhauer im G e spräch mit dem Kultusminister Dr. O.
Wacker „den.neuen Staat bejahte", w u r d e sein Vertrag bis O k t o b e r 1935 verlängert.
Der Erfolg der ArbeiterFigur (jetzt
„ K u m p e l von der S a a r " ) 1934 auf der
„SaarAusstellung" in Köln m a g Voll ge
holfen haben, sich zu halten. Als d a n n noch im J a n u a r 1935 der A u f t r a g aus M a n n h e i m f ü r ein N S D e n k m a l der
„ V o l k s g e m e i n s c h a f t / M o n u m e n t der Ar
beit" kam, war das Ministerium bereit, Voll für längere Zeit weiterzubeschäfti
gen.
W ä h r e n d einer Ausstellung neuerer Werke in der Kunsthalle M a n n h e i m M a i Juni 1935 kam es aber erneut zu Verleum
dungen. Z u n e h m e n d geriet der Bildhauer unter Beschuß des N S S t u d e n t e n b u n d e s („Die Bewegung") und der K u l t u r f u n k tionäre; man warf ihm Passivität vor und vor allem die „Gemeinheit" und Häßlich
keit seiner in den zwanziger Jahren ge
schaffenen Figuren. Als im „ S A M a n n "
im Juli 1936 ein wüster Artikel über Voll erschien, der ihn als „entartet" und als
„Kulturbolschewisten" diffamierte, wur
de seine Lage immer schwieriger. Z u m
O k t o b e r 1937 wurde er endgültig entlas
sen. D u r c h die öffentlichen und anony
men Diffamierungen ging es dem Bild
hauer immer schlechter, bis er im Juni 1939 bereits mit 42 Jahren stirbt.
Uni'Volls Position zu würdigen, m ü ß t e eine kluge, kompetente Ausstellung mit seinen besten Hölzern, G r a p h i k e n und Aquarellen gezeigt werden; n u r die Quali
tätsstücke vermögen seine vergessene Be
d e u t u n g wiederherzustellen. Aber allein die Misere u m die Verwaltung seines Nachlasses ist schon hemmend. D a s her
Vi
Christoph Volls Bildnis des Malers Oskar Trepte aus den Jahren 1925-1926.
Foto Museum Freital vorragende „Selbstporträt" aus Eichen
holz von 1925/26 steht neben vielen ande
ren Werken in einem Depot der Galerie Valentien. Vor 1933 galt gerade dieses Werk als repräsentativ f ü r Volls kunsthi
storische Stellung. G r o h m a n n publizierte es im „Cicerone" 1928, als er die große Ausstellung „Kunst in Sachsen 1880
1928" besprach.
N u r wenige Bildhauer der zwanziger Jahre haben ü b e r h a u p t diese K r a f t und Intensität in paradigmatischen Figuren erzielt. Seine A k t e und seine G e w a n d figuren weisen einen Realismus auf, der nicht harmonisiert und glättet, sondern einen m o d e r n e n Vitalismus im Häßlichen und im Schönen verkörpert. G r o ß e sinnli
che Präsenz läßt Volls Skulpturen als un
ausweichlich wirken; dies gibt ihm seinen R a n g innerhalb der Skulptur der zwanzi
ger Jahre und des zwanzigsten Jahrhun
derts bis heute, wo Holz als natürliches Material von vielen Bildhauern wieder
entdeckt wurde. DIETRICH SCHUBERT Originalveröffentlichung in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. April, Nr. 96 (1997), S. 44