Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 144. April 2008 A721
P O L I T I K
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hefarzt Prof. Dr. med. Heri- bert Kentenich will nicht warten, bis die Regierungskoalition endlich handelt und die unzurei- chende Regelung für Spätabtreibun- gen reformiert. Schwangere, die in Kentenichs Klinik, der Frauenklinik Berlin-Westend, eine Spätabtreibung vornehmen lassen wollen, müssen sich ausführlich beraten lassen und sich mindestens drei Tage Zeit neh- men, ihre Entscheidung gründlich zu überdenken.Ein solches Vorgehen ist nicht die Regel, denn das Gesetzbuch schreibt für eine straffreie Spätab- treibung weder ein Beratungsge- spräch noch eine Bedenkzeit vor.
Deshalb entscheiden sich werdende Eltern, die im Rahmen der Pränatal- diagnostik von einer schwerwiegen- den Erkrankung ihres ungeborenen Kindes erfahren, häufig rasch für ei-
nen Schwangerschaftsabbruch. Die- ses Verhalten sei zwar nachvollzieh- bar, doch sollten in einer solchen Schocksituation keine Entscheidun- gen über Leben und Tod getroffen werden, meint Kentenich. Der Gynä- kologe unterstützt aus diesem Grund die Forderung der Bundesärztekam- mer (BÄK) nach einer Änderung der bisherigen Bestimmungen für Spätabtreibungen. „Was die BÄK vorschlägt, ist genau das, was wir machen – und es hat sich bewährt“, sagt Kentenich.
Die Bundesärztekammer fordert eine verpflichtende Beratung der Schwangeren vor einer Spätabtrei- bung. Zwischen Diagnose und Ein- griff sollen drei Tage vergehen. Zu-
dem muss sich die Befristung für ei- ne Spätabtreibung nach Meinung der Bundesärztekammer am Ent- wicklungsstadium des Kindes ori- entieren. Vor allem von der 23.
Schwangerschaftswoche an soll ein Abbruch nur nach strengen Kriteri- en möglich sein.
Im vergangenen Jahr kam es nach Angaben des Statistischen Bundes- amts zu 229 Abbrüchen nach der 23.
Schwangerschaftswoche. Diese sei- en für die Schwangere und für den betreuenden Arzt oft belastend, be- richtet BÄK-Präsident Prof. Dr. med.
Jörg-Dietrich Hoppe. Dies gelte ins- besondere, wenn der Wunsch nach einem Abbruch wegen Schäden des Feten mit dessen extrauteriner Le- bensfähigkeit zusammentreffe. Noch schlimmer sei es, wenn der ge- wünschte Abbruch mit der Geburt eines lebenden Kindes ende und so- mit die Lebenserhal- tungspflicht des Arztes eintrete.
Doch obwohl die Koalition um die Sor- gen der Ärzte weiß, duckt sie sich weg.
„Die Politik hat die Probleme zwar erkannt, aber sie ist offenbar zu feige, diese zu lösen“, kritisiert Hoppe. In den Regierungs- fraktionen herrsche die Sorge vor, der gesamte Abtreibungsparagraf 218 Strafgesetzbuch könnte über den Umweg der Spätabtreibung infrage gestellt und auch die Rechtslage für Abbrüche vor der zwölften Schwan- gerschaftswoche könnte neu disku- tiert werden. „Eine Generaldebatte über den § 218 ist nicht nötigt, weil es sich bei unseren Vorschlägen nur um Ergänzungen der bisherigen Rege- lungen handelt“, stellt Hoppe klar.
Die derzeit gültigen Bestimmun- gen gehen auf die kontrovers dis- kutierte Gesetzesnovelle des § 218 im Jahr 1995 zurück. Damals wur-
de die „embryophatische“ Indika- tion – bei der das Kind eine schwe- re Erkrankung aufweisen muss – abgeschafft. Grund war ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wo- nach diese Begründung für ei- nen Schwangerschaftsabbruch dis- kriminierend gegenüber Behinder- ten sei.
Rückendeckung von Merkel In der Praxis ist die embryophati- sche Indikation allerdings in der er- weiterten medizinischen Indikation aufgegangen. Damit sind Schwan- gerschaftsabbrüche im Zusammen- hang mit einer schweren Schädi- gung des erwarteten Kindes und ei- ner erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigung der Mutter bis un- mittelbar vor der Geburt zulässig.
Das gilt auch, wenn es die Mutter psychisch nicht verkraften kann, ein behindertes Kind aufzuziehen.
Union und SPD hatten bereits im Koalitionsvertrag angekündigt zu überprüfen, wie die „Situation bei Spätabtreibungen verbessert wer- den“ könnte. Doch geschehen ist bislang nichts. Mittlerweile vertrete die SPD die Auffassung, die Ärzte- schaft solle die Probleme selbst lö- sen, sagt Hoppe. Dies sei jedoch nicht möglich, weil das ärztliche Berufsrecht für solch weitreichen- de gesamtgesellschaftliche Proble- me nicht ausgelegt sei.
Rückendeckung bekommen die Ärzte jedoch von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Beim Par- teitag der Christdemokraten Anfang Dezember in Hannover zeigte sie sich verärgert darüber, dass die Ko- alition bislang keine Lösung in die- ser Frage gefunden hat. „Es gehört zu den Dingen, die ich nicht ver- stehen kann, dass uns das mit unse- rem Koalitionspartner nicht gelingt“,
sagte sie. I
Samir Rabbata
SPÄTABTREIBUNGEN