• Keine Ergebnisse gefunden

Von der Bohème zur Idylle: Renoir, das nervöse Naturkind, und sein Weg in die Kunstgeschichte

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Von der Bohème zur Idylle: Renoir, das nervöse Naturkind, und sein Weg in die Kunstgeschichte"

Copied!
36
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Michael F. Zimmermann

Von der Boheme zur Idylle:

Renoir, das nervöse Naturkind, und

sein Weg in die Kunstgeschichte

S. 15-50

(2)

Michael F. Zimmermann

Renoir und die Widersprüche des Glücks

Mit Renoir, dem »Malerdes Glücks«,wirdman oft allzu schnell fertig.1 Einerseits gehören Bilderwie DerTanzjm DMoulindela Galetten Abb. i oder DasL'rühstückderRuderer Abb.2

zum Bild desImpressionismusalseiner Malerei, die dem Glückmoderner Menschen in der Natur gewidmet ist.2 Freundliches Licht umfängt ausgelassene Ausflügler und Touristen in einem stets sommerlichen, einladenden Am­ biente. Andererseits mokiert man sich überüppige Akte inklassischen Konturen, kindlicheFrauen undverträumte Kinder, wie Renoir sie seitdem Manifest seiner gegenavantgardistischen Kunst,

den Badenden der Jahre 1884 bis 1887, zumLeitthema seinerKunsterhob Abb. 3. Das Werk des späteren Renoir seit den i88oer-Jahren, seine Wiederbelebung der Idylle undihrer Tradition von der Renaissance über das französische 18. Jahrhundert biszum französischen Neotraditio­

nalismus und zum »retourä l’ordre«, hatmoderner Ironie und post­

modernem Zynismusauf denersten Blick wenig zu sagen. Feminis­ tinnen sehen darin männliche Wünscheerfüllt. Projektionen auf die Frauebensowieauf die Kunstergänzen einander. Wie sooft seit der Renaissance, seit Botticelli, Giorgione und Tizian, wird die Kunst insgesamt verweiblicht: Venus oder die Nymphen, Göttinnen oder Badende bevölkern traumhafte Landschaften ebenso wie intimere Paradiese. Siebegnügen sich nicht damit, als Gegenständeder Kunst nebenanderen aufzutreten.Arkadien, das entrückte, von Städtern undDecadents ersehnte Land, wo HirtenimEinklangmit derNatur leben, avanciert selbstzum Reich der Kunst, entlegen wiedieFiktion, stetsersehnt, nie erreicht.3

Renoir belebt diesen Mythos wieder,doch sein Frauenbild entlehnt er nichtnur Tizian oder Giorgione, Rubens oder Francois Girardon. Vielmehr schreibt er seinen weiblichen, jaauf die Weiblich­

keit reduzierten Gestalten ein, was Michel Foucault die »Geschlechts- Hysterie« des19.Jahrhunderts genannt hat. Seinekindhaft unschul­

digen Frauen scheinen allein zu Erotik und Mutterschaftberufen - als ihrer natürlichen Sendung.4 Doch in Renoirs Frühwerk ist die Idylle nichtentrückt: Er findet sie an den Ortender Freizeit und des Vergnü­ gens, die ermit seinenZeitgenossen an den Rändernund im Umland von Paris aufsuchte, mit dem Pferdeomnibus oder mit den neuen

Vorortzügen. Badende hatte er 1868, Seite an Seite mit Claude Monet malend, auch schon in der Badeanstalt La Grenouillere beiChatou gezeigtAbb.4.5 Solange Renoir noch der von Charles Baudelaire erträumte »Maler des modernen Lebens« sein wollte, also bis etwa 1880, erfasst dasGlück in seinem Werkdie »couches nouvelles«, den neuen Mittelstand -jene

(3)

Schicht, in der 1876 schon der DichterStephane Mallarme den eigent­

lichen Adressatenkreisimpressionistischer Malerei erkannthatteund der sichauch heute die Mehrzahl derBetrachter impressionistischer Gemälde zurechnet.6So steht er für jenesGlück, das auch unsnoch erreichbarzu seinscheint.In jedem Band, in jedem Kalender über im­

pressionistische Malerei nimmtRenoireinenzentralen Platz ein - Im­

pressionistpar excellence.

So sehr die ersten Blicke beiihmhängenbleiben, so wenig scheint er dem zweiten Blickstandzuhalten.EdouardManet,der ele­

ganteund doch schalkhafte Beobachterdes modernenLebens, stellt unsin Blickachsen des Begehrens ein.In ihnen erleben wirnoch heute jeneMischungaus Näheund Abstand,mit der allein wir unsere stets distanzierte Einbindungin die jeweilige Lebensnische bewältigen können.Manet ist der Maler des stets offenen Geheimnisses.7 Edgar Degas hält Rennpferde ebenso wie jugendliche Tänzerinnen oder schöne Frauen, im Waschzuber hockend, mitverblüffender Objektivi­ tät aus verrücktenBlickwinkeln und in transitorischen Momenten fest.

Er besticht uns durch den analytischen Blick des Mediziners, des An­

thropologen, des Soziologen.Seiner misanthropischen Profanierung selbst der schönsten Weiblichkeit ist immerhinnoch der Zauber der Melancholie aufgeprägt. Die durchaussalonfähigeWeltabwendung schreibt ersogarseinem Voyeurismus ein,den er bis an die Grenze des Experiments führte. Die Qualendes Modells, des Malers unddes Betrachters werden- allerdings nur für diezuletzt genannten - durch die Stärkung eines narzisstischen Ichs belohnt.8 Claude Monetzer­ stört jene Visionen derälteren Landschaftsmalerei, inwelchendieNa­ turwenigstens fiktiv noch als Schicksal ihrer Bewohner erschien.Die Figuren in seinen Landschaftensindnicht mehr Staffage, von Natur bergend umfangen, erhabenüberragt oder widerständigbedroht. Mo­

net hebt den Schleier des sanften, auch die Lastdes dräuenden Hell­

dunkels und zeigt lichtdurchflutete Ausblicke,deren Kontraste er mit entschlossenen Pinselstrichenkompositorisch erschließt. Durchden radikal ästhetisch gewordenen Zugriff auf das Gesehene wird er zum Begründer der modernen Stimmung.Der subtileEinklang der Natur mit den Schwingungen des »Psychismus«,wiemandamalssagte,den seine AufzeichnungendesAugenblicks vermitteln, ist nurum den Preis einer vorhergehenden Entfremdung von der Natur als Lebenswelt er­ fahrbar- der Entfremdung des Touristen.9 Ist Renoirdemgegenüber nur der Retter derIdylle; kompensierter den Vorstoß in die Moderne nur durchdieVision einerewigen Rückkehr zu kindlichem Einklang, ja sagenden Frauen und einstimmenden Wünschen?

Ja, Renoirist der Maler des Glücks, aberes hat seitjeher kaum jemanden zufriedengestellt,wenn man diesstereotypwieder­ holt-mit der einladenden Geste einesKellners, der Urlaubsgäste auf seineTerrassebittet Abb.2. Auch die feministischen Deutungen bleiben

(4)

Michael F.Zimmermann

dabei nicht stehen: Unter der Oberfläche erahnt man, wie bedroht die Idylleist.10 Die Geste, Renoirvor seiner »nach wie vorvirulenten Süß­ lichkeitspopularität« zu retten, hinter das »Markenzeichen« seiner

»bezaubernd rotbackigen, rundlich wattierten Jungmädchengestal­ ten« zublicken,ist nicht neu.Schon 1996leitete Götz Adriani einen Ausstellungskatalog damitein. DerBlick auf den Traumvom Glück und zugleich damit hinter dessen Kulissen isteinTopos,derdie gesamte Rezeptionseiner Kunst von Anfang an durchzieht. Wie wurdeRenoir zum Maler dieser immerschondurchschauten,immerschonschuldi­ genUnschuld?Dieser Frage wollenwiruns widmen.Von Julius Meier- Graefe biszu Adriani hatman die Banalität des Glücks vor allem mit derSubtilität derformalen Qualitäten, vor allem der »Schwerelosig­

keit der Farben«, kontrastiert.11 Das greift zukurz. Formalästhetisches bleibt nichtssagend, wenn esnicht zum Sujet der Malerei in Bezug ge­

setzt wird. Poetisch, nicht formalistischentfaltetRenoir auch heute nochseinenCharme.Auch thematisch stellt Renoir seine Figurenin ein Spannungsverhältniszwischen erträumtem Glück und einerReali­ tät, die durch Kommerz, Liebe-auchdiekäufliche- und das Prekariat der Bohemebestimmtwar. Die Boheme,jenegrößer werdende Rand­

zone der Gesellschaft, in der Künstler und Literatenmit Arbeiternund Revolutionären,Kleinkriminelle mit Dienstmädchen und Midinetten, Aufsteiger mit Gestrandeten zusammenkamen,ist für Renoirmehr als der mythischeUrsprungsort des rebellischen Avantgardekünstlers.

Genie und Wahnsinn warenhier einander ebensonahewieGlück und Verzweiflung, ErosundProstitution, Ursprünglichkeit unddieSyphi­

lis. Renoir selbst entstammte jenem Prekariat. Seinen späteren Biogra­

fen galt er nicht nurals Naturkind,sondern zugleichals Nervöser.Das Glück war die Konstruktion seinerKunst, schon als eres der Boheme aufprägte. Vor allem in seinen vielschichtigen, frühenWerkenfinden sich die SpurenderKonstruiertheitdieses Glücks.

Renoir besticht durch ein Glück trotz allem-die Strategien, das »Trotzdem«, auch seineobstinate Freude an Gegenweltenmuss manmitdenken, willmandiesem sensiblen, schmalenArbeiterkind gerecht werden, das sichaus einfachen Verhältnissen zu einer mon­ dänen Klientel vorgearbeitet hatte.Deren Erwartungenkonnte er nur genügen, wenn er sich nicht dazugehörig fühlte, sondernals »Natur­ kind« und als soliderHandwerker auftrat. Ein Naturtalent freilich, das nicht nur durch das Handwerk verfeinert war, sondern die Zügeder Nervosität trug, jenerÜberspanntheit, die medizinischalsNeurasthe­ nie Karriere machte, ein Symptom der Überzivilisiertheit,der Überar­ beitung, des Bewusstseinsfür das Prekäre am eigenen Status, und, wie Sigmund Freuderst um1900 betonte, derübermäßigen Sublimierung, der Unbefriedigtheit.12Renoir, ein nervöser Naturbursche, diesem Wi­

derspruch sollte mannachgehen,willman die Gegensätze verstehen, die auch seinemodernenIdyllendurchziehen. Dann freilich ist seine

(5)

Version vom Glück eineinteressante Angelegenheit. In der postmoder­

nen Debatte hat dasGlückseit etwa fünfzehnJahren Hochkonjunktur.

Renoirwar davon überzeugt, dass es in einer noch vorkapitalistischen Warenwelt zufinden sei. Sein Vater hatte alsSchneider gearbeitet, er selbstals Porzellanmaler -beides Gewerbe, welche durch die Industri­ alisierung ruiniert wurden. DieWare,allerdingsinsolider Handarbeit geschaffen, durfte dekorativ sein- dies gilt auch für seine Malerei.

Moderne Autorenfindendas Glück ebenfalls jenseits der Warenwelt, aber in einerZukunft, die den Verheißungen des immerGleichen zu entsagen gelernt hat. Freilichist selbst diesesGlück jenseits derWare immernoch Ware,gemäß den gnadenlosen Mechanismen kapitalisti­

scher Vereinnahmung.13 Der Blick ausder Ware in ein ihr Jenseitiges, ein Einstmals, das ist durchaus modern, und diesen Blick finden wir bei Renoir, wenn wir uns demWiderspruch stellen,ausdemauch wir nicht herauskommen werden.

Gerade der frühe Renoir, Renoir »in the making«, zeigt uns keineswegs nureinenWegzum Glück. Da ist der Maler intimerPorträts jenerLise Trehot,seiner Geliebtenvon1865 bis 1872, deren fleischiges Gesichtallzumüde,allzumelancholisch,allzu verschattet auf den Be­

trachter blickt(Kat. 10,11). Die Nähe zu dieser so realenGestalt findet 1876ihre Fortsetzungin einem Halbakt eines als »Margot« bekann­ ten Modells, in dem durch das Laubwerkfallendes, fleckiges Licht das Inkarnat an der Oberfläche der Leinwand aufleuchten lässt (Weiblicher aAkt im Sonnenlicht, 1875/76, Studie, Museed’Orsay,Paris). Fürdie einen, wie den zeitgenössischen Kritiker Paul Mantz, ein Bild der Verwesung, für andere der Zauber des Fleisches. Noch moderne Autorenwagen es, die Fleischesfülle vonRenoirs Aktennicht nur als AusdruckihrerSinn­

lichkeit, sondern als Markierung einer durchaus brutalen Deformation zu deuten.14 Wie in den Akten Botticellis undTizians,Joan Mirös und Willem de Kooningsavanciert der weibliche Aktvom Gegenstand der Malereizur Metapher des Gemäldes: Erotikim Bild sublimiert sich zur Erotik des Gemäldes. Ohneden Weg von derLise mitdem Sonnenschirm Abb. 5 zum Akt Margots blieben all die späteren, üppigen,meist liegenden Akte, die sich wie Giorgiones Venus (1510,Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegale­ rieAlte Meister)mit der Landschaft verbinden, stumm. Re­

noirzwingt den Betrachter seinerfrühenGemälde zu einer Nähe und Intimität, diedem snobistischen Salonbesucher unpassend erscheinen musste. Der Soziologe Georg Simmel hat als Erster den blasierten Blick des modernenFlaneurscharakterisiert:Stetszugleich nachempfindend und distanziert, taxierter die möglichen Vergnügun­

genund ihre Gegenstände daraufhin, fürwie viel Geld er möglichst viel erreichenkann.15 Lisey mit ihrer verschlafenenMelancholie istihm, wenn ersie anschaut, bereits einwenig zu nahe auf den Leib gerückt.

Doch in ihrem Blickin die Ferne erkennter den eigenen wieder.

(6)

Michael F. Zimmermann

Dannist da der Maler der anonymen,städtischenMenge, die er an den markantesten Orten festhält. Im Jahre der Weltausstellung1867steht eraufdem unter dem Präfekten von Paris,demBaronGeorges-Eugene Haussmann, neugebauten Quai amInstitut de France und zeigt den Blick auf die Kuppel des Intellektuellentempels, von dem aus quer

durchs Bild derPont des Arts auf dieSüdfassade des Louvre zuführtAbb. 6. Vornziehen die Schatten derPas­

santen auf dem im Rückendes Betrachters gelegenen PontduCarroussel durchs Bild.Oder er begleitet uns in einem seltenen Winterbild (Renoir liebte die Kälte nicht) zu den Schlittschuhläufern auf dem neu angelegten,vereistenSee im Bois de Boulogne (Kat.13). Nahe Bougival, an jener Kehre der Seine, vonwo aus manüberMarlyoderLouveciennesinsweiterwestlich gelegene Ver­

saillesgelangt,entdeckter 1869 mit Monetdie Grenouillere (übersetzt etwa: dieFroschinsel),einen Ort, an dem sich dasjungePariswieauf einer improvisierten Bühne versammelt: Auf zwei fest vertäuten Käh­

nen hatte maneinenTanzboden, einenAusschank und Badedecks eingerichtet Abb. 4. Über schmale Stegegelangte manauf eine kleine, kreisrunde Insel miteinem Baum in der Mitte und von dort aus auf die Kähne. Hier mischten sich elegante Ausflügler, Tanzpaare und Badende, Leute ausden meist unlängst errichteten Wochenend- und Rentnerhäuschen vor Ort und Städter, die mit dem Vorortzug rasch an­

reisen konnten.16 Schongegen Endedes ZweitenKaiserreichsfeierte Renoireben jene neue Mittelklasse, die in derDritten Republik, die 1871aus derNiederlage Kaiser Napoleons III. imDeutsch-Französi­ schen Krieghervorging,zur eigentlich staatstragenden Gesellschafts­

schicht heranreifensollte. Das Abschlussmanifest ihres ideologischen Siegeszugs sollten jene zuPuppen versteiften Ausflügler sein,die der eine Generation jüngere Georges Seurat 1886 in der letzten Gruppen­ ausstellung der Impressionistenauf einer Seine-Insel bei Asnieres vor­

beidefilierenließ: SinSonntagnachmittagaufder InselLa GrandeJatte-J Abb.7.17 Betrachtetman die Passanten bei Renoir, so schließen sie sich niemals wie bei Monetzur Masse zusammen, auch nicht zur bunten Menge, in der bei genauerer Betrachtung jederEinzelne nur ausein paar Pinselstri­ chen besteht.Renoir charakterisiert Paare und Mütter, Gruppen von Mädchen im Sonnenlicht und vorbeimarschierendeOffiziere,Flaneu­ re und kokette Einzelgängerinnen fast immer so weit, dass Mode und Habitus erkennbarbleiben. Stets könnte mandas Gewoge zumGrup­

penporträt vervollständigen.Darin wärenfreilichJugend,Modeund Eleganzebenso bestimmend wie in den grafischenIllustrationen derin diesen Jahren populär werdenden Zeitschriften. Arbeit und Alterkom­

meninRenoirs Bildern aus dem pittoresken Zentrum von Parisebenso wenig vor wie an den modischen Ausflugsorten in denbesseren Vor­

stadtbezirken. Zu seinem Hauptwerk DerTangjm Moulin de la Galette-J

(7)

gelangt Renoir, indem er intimeEinblicke und verallgemeinernde Aus­

blicke kombiniert Abb. i.

Lise,die doch seineMätresse war,hat er 1868dem Maler­

freund AlfredSisley, dermit einer anderen Frau, mitEugenie Lescouzec,liiert war,anden Arm gegeben Abb.8. Einem Brief RenoirsanFrederic Bazille konnteman entnehmen, dass er seinModell mit dem Malerfreund gruppiert hatte.18Es ent­

stand das moderne Bild eines Paars, zugleich einzur Lebens­ größe gesteigertes Genreporträt. Diezärtliche Aufmerksamkeit des Man­

nes und die dankbare Vertrautheit derDame führtder Maler aus der Per­

spektiveeines nahen Freundes vor,der diese Gesten alsdurch Gewohn­ heit eingeschliffen und gerade dadurch so anrührend erkennt.

Schließlich sind da noch dieGemälde,diedurch die klassi­

sche Tradition oder durch moderne Exotismen nobilitiert sind. Bei Re­ noir sind eswederSpätfolgen derakademischen Ausbildung, die erbei dem Maler mythologischer IdyllenCharles Gleyre durchlaufen hat,19 noch verfrühte Zeugnisse eineskonservativeren Spätwerks. Sie durch­

ziehenvielmehr seingesamtes CEuvre, vielleicht mit Ausnahme der ei­

gentlichen Kernjahreseiner Beteiligung am Impressionismus,die wir allenfallsauf die Zeit von1874 bis 1881 ansetzen dürfen. 1867

istwohl nicht Lise, wie man immer behauptet hat, das Mo­ delleinerbildfüllenden Diana alsJägerin Abb.9, der,aufeiner Uferböschungsitzend, eingeschossenesReh als übergroßes Stillleben beigegeben wurde,jedoch1870 das einer Baden­

den, die, gerade entkleidet, mitderPose der Venus pudica

ins Wasser schreitet(DieBadende mit einem Hündchen, Museude Arte deSäoPaulo, siehe Abb.30).20 In beidenGemälden überschreibt sichdie klassische Antike mitihrenfranzösischen Brechungen, so mit der Er­

innerung anDianedePoitiers, die berühmte Kurtisane, aber auchmit Gustave Courbets üppigen JWädchenan der Seine, im Sommer die derBe­ gründer des Realismus in derMalerei1856/57 in die allzu engen Korset­ te derzeitgenössischen Mode einzwängte, was die vordere nicht daran hindert, miteinerschläfrigenLaszivität auf den Betrachter zu blicken

Abb. 10. Schon Courbets Demoisellessiehtman ebenso mitden Augen wiemit den anderenSinnen, vor allem das aus der Nahansicht nahezu deformierte Gesichtder vorderen Ge­

stalt, die den Betrachteraus ihrem vom Schlummer noch oder schon beschwerten Gesicht matt anblinzelt.21 Diegleiche, melancholischtrunkeneErotikverleiht RenoirfastdurchwegLise Trehots Gesicht,vor allem, wenn sie 1881 als Odaliske posiert,dieses Mal eineof­ fene HommageanEugene Delacroix Abb. 11.

Renoir ruftalsonicht nur sanktionierte Traditionen einer inzwischen durch Abbildungen und Bücher verfügbar gewordenen Kunstgeschichte auf, und vor allem bringt er die Vergangenheit nicht

(8)

Michael F.Zimmermann

ein, um, wie Manet, den Bruch herauszuarbeiten, den die Gegen­ wart mit der Geschichte vollzogen hat. Manet hat immerwieder die Uneinholbarkeitder Moderne durchdieWeltderKunst hervortreten lassen:Olympia, die gehobene Prostituierte, die ihrenKundenanblickt, ist eben nicht eine Nachfolgerin der Venus Von Urbino, obwohl schon diese vermutlichdie Züge einerKurtisane trug. Als »absolute Ware«

(Baudelaire) weckt sie nichtnurÄngste vor Geschlechtskrankheiten, sondern sie präsentiertihrenKörperals den des Kapitalismus.22Wäh­

rend Manet die Tradition unddievon ihrentfremdeteModernege­

geneinanderakzentuiert, lässt Renoirdie Geschichte indie Gegenwart hereinreichen -alleswird ins Präsens gerückt. Bei ihm stehen der noch lebende Courbet ebenso für die Überlieferungwie die Venus pudica, Delacroixebenso wie Manet, dem Renoir die Primamalerei und das sprechende Helldunkelentlehnte. Schondas Modell Lise Trehot garan­

tiert,dass auch Renoirs badende »Venus« sich ebensozeitgenössisch präsentiertwie die Dame in Weiß,derenGesichtdurch den Sonnen­ schirm beschattet wirdAbb.5.

Eine weitere Tradition schreibt sich unübersehbar auch seinen Manifesten der »vie moderne« ein: Die von Antoine Watteaus Einschiffungnach Kythera siehe Abb.3i und anderen IdylleninspirierteTra­

dition der »Fetes galantes«setzt sichfort aufderGrenouillere Abb. 4 und am Moulin de la Galette Abb.i; die Insel der Seligen wird zumEiland im Froschteich, und dasTanzcafe am Montmartre, benannt nach der Müh le undden ehedemdortserviertensüßenWaffeln, erfüllt sich mit fast höfisch gebändigtem Liebessehnen. An der Grenouillere kannje­ derSchmock den Badenden zusehen, ohne dass ihm, wie einst Aktäon beim Blick auf Dianaund die Nymphen im Wasser, ein Geweihwächst und er von den eigenenHundenzerrissen wird.In Renoirs Idyllen lebt nicht nur das 18. Jahrhundertweiter, sondern auchArkadien. Im Ein­ klang mit derNatur leben dort nur die Hirtenmit ihren Flöten, nicht aber die Reisenden aus den dekadenten Städten, Vergils Gallus oder Jacopo Sannazaros Simplizio,die vom Liebeskummer zurück in die Naturgetrieben wurden.23Wie dem eleganten Lauten­

spieler in Giorgiones (oderTizians?) Ländlichem Kongert

Abb. 12, einem der berühmtesten Gemälde im Louvre, bleibt ihnendas Glückverschlossen, währendder wirk­

lich glückliche, flötenspielendeHirte von seinemGlück nichts weiß.24 Das Glück und dasWissen darumscheinen einander auszuschließen.

Watteau, Jean-Baptiste Pater und Nicolas LancrethattenArkadien, das elegische Land, bereitsin ihre Gegenwart höfischer Feste und eleganter Parkgesellschaftenhineingeholt.25 Und Renoirschreibt es seinem dMoulin de laGalette.;ein, wo die einfachenMittelklässler gy­ gleich sehnsüchtig und glücklich sein dürfen, wo ihnen zudem erlaubt

wird, von ihrem Glück zu wissen - aberdochvielleicht erst beim Blick auf Renoirs Gemälde.

(9)

Renoir, der Maler von Intimität underotischer Nähe,der Malerder modischen Menge und des »modernenLebens«, der Malereiner bis an die Gegenwart heranreichenden Tradition- alldiese sorgfältigher­

beigemalten Identitäten scheinenschließlich harmonischineinander aufzugehen. Und doch sind noch die ausgelassensten Werke,indenen alles aufErfüllunghinausläuft, geprägtvonNostalgie und vonSehn­

sucht, als sei das Glücknoch ersehnt oder schonverflossen und erst alsvergangenes überhaupt festzuhalten -auch im Gemälde.Renoirs historische Zeit geht ebenso in derGegenwart auf wiedieErzählzeit seinerSzenarios: So gesehen,wiederholendieZeitgenossenstets, im Freilicht gemalt,hier und jetzt,das soflüchtigeGlück- aber doch ein­

geschrieben in eine unbestimmt präsente Historie. Wie das unterm Laubin großen Flecken sich zerteilende,vibrierendeLicht, so oszil­

lierenGegenwart und Vergangenheit, Erfüllung und Sehnsuchtin Re­

noirsBildern.Wenn schon Glück, so doch ein nervöses Glück.

Das biografische Stereotyp: Der Arbeiter, der Maler weiblicher Schönheit, der Franzose

Will man Renoirs moderneIdylle in seinem Frühwerk tiefer durchdrin­ gen, somuss man zunächst dieklischeehafte Identität des Künstlers, den Mythos »Renoir«, hinterfragen. Wer war Renoir? Dies haben sich die Zeitgenossen und die modernen Kunsthistoriker gefragt. Doch die Kronzeugen, die aus einer biografischen Perspektive überRenoir ge­

schrieben haben, bieten uns dieSelbststilisierungdes späten Renoir.

Seit den t89oer-Jahren präsentierte sichder Künstler bereits als Vorläu­ fer einer konservativen Moderne - ein Weg, aufdem ihm um1900 Jün­

gere wie Maurice Denis undAristide Maillol folgten. Durch geduldige, biografische Forschung haben Jean-Claude Gelineau26 undweiterfüh­

rend Marc Le Coeur herausgearbeitet, dassdie Selbstdarstellung des Künstlers Diskretionen einschloss,die man jedem zugesteht, die aber seineprekäreExistenzin der Pariser Boheme zugunsten der Anfänge als Künstler-Handwerker in den Hintergrund rücken. Gelinausund Le Coeurs Forschungen, die erst inden letztenJahrenbekannt wurden, mögendie Neugierder Biografisten befriedigen.27Darüber hinaus be­

legen diejenigen Aspekte seinesLebenswegs, die der Künstlerselbst verschwiegen hat,dass der Renoirderfrühen KunstgeschichteeinMy­ thos war,andem er selbst sicherlichmitgewirkthat. Nehmen wir diese Forschungen nicht als Antwortenauf die Frage, wer Renoir (wirklich) war, so stellt sich die Fragenach dem Mythos »Renoir«: Wie wird man vonRenouard,so der Name des Künstlers in frühenDokumenten,28 zu Renoir, wiekonstruiert man sich als »Renoir«?

Es ist ein Stereotyp der Kunstgeschichte, dass derKunst­

händler Ambroise Vollard, der seit den späten i890er-Jahren neben Paul Cezanne bald auch PabloPicasso und die Kubisten vertrat,das

(10)

Michael F. Zimmermann

Bild Renoirs entscheidend geprägt hat.29Im Jahre 1919erschien im Selbstverlag eine prächtige, üppig illustrierte Monografie, die bereits 1924 ins Deutscheübersetztund 1938 neuaufgelegt wurde.30 Vollard überliefert in seinemBuchGespräche mit dem Künstler, und er unter­ streicht dieAuthentizität seines Berichts dadurch,dass große Teile des TextsalsMonologe Renoirs, gelegentlich auchals Interviews gestaltet sind. In der deutschen Übersetzung von Alfred Dreyfus werden durch denEinschubkurzer Fragen Vollards sogarweitePassagen als Inter­ views gestaltet, die im Original als fortlaufender Monolog des Künstlers erscheinen. Dies istfreilich eine Fiktion; schon der Sohn des Künstlers, Jean Renoir, hat das in seinen Erinnerungen über seinen Vater deutlich gemacht. Der Maler habe den Kunsthändler an der Nase herumgeführt.

Er pflegte zusagen: »DasBuch von Vollard über Vollard ist ausgezeich­ net.«31Esgilt also, die Illusion der Authentizität zu durchbrechen.

Vollardschildert eingangs, wie erRenoir bereits1894 ken­ nengelernt habe: Den MalerderFrau präsentiert eralsumgeben von Frauen -zwischen Volk und Bürgertum. Das Hausmädchen hätte den Eindruck einer Bohemiennegemacht, dochMadame Renoir sei »von derRundungund der Gutmütigkeit jener Bürgersfrauenaus der Zeit LudwigsXV. auf gewissen Pastellen Perroneaus«.32 Die unterschiedli­

chen Frauenspiegeltennur die Widersprüche des Malers: »Ichsah ihn zum erstenmal: ein magererMannmit durchdringendem Blick, sehr nervös, den Eindruck erweckend, alskönne ernicht aufeinem Fleck stehen bleiben.« BarbaraWhite ging Vollard vielleicht auf denLeim, wenn sie den physischenGegensatz zwischen dem Maler und seiner achtzehn Jahre jüngeren Frau Ahne,einer burgundischen Bauerstoch­

ter, 1973 resümiert: »WhileRenoir was very thin, she wasfat.«Schon darausliest sie seineEinstellungals »well-meaning maleChauvinist«

ab. Tatsächlich entwickelt Vollarddieerste Begegnung literarisch zur Einführung eines Malers von naturhafter Weiblichkeitund Mutter­ schaft - wie White ihn sieht: »To Renoir, the nude woman is sexuality, maternityand comfort.«33In den AugendesKunsthändlers besitztder nervöse, magere Maler jedoch selbst auch weiblicheZüge: Sein auf­

geräumtes Atelier vermittleden »Eindruck einer beinahe weiblichen Genauigkeit«.34So fühlt ersich denn auch ins weibliche Inkarnat ein:

Als Modelle seien ihm alle Frauen recht,das Hausmädchen, aber vor allem Frauen, derenTeint das Licht gut breche, nicht aber Damen von Welt. »Ich weiß nicht, wie es die andern anstellen, so faisandiertes Fleisch zu malen. Das nennen sieDamen der Gesellschaft! [...]Haben Sieje Damen der Gesellschaft gesehen, deren Händeman gern malen möchte?« Auch Raffaels Venus in der Farnesina, die Jupiter anfleht,sei robust:»Man fühlt, das ist eine dickebiedere Frau, die wiederin ihre Küche geht, wasStendhalzu sagen veranlasste, dass Raffaels Frauen gewöhnlich und schwerfälligseien.«3S Wie Tamar Garb schon 1992 festhielt, werdenso dieMythen von Renoirs »reiner« Malerei kons­

(11)

truiert: Der weibliche Körperistnatürlich, das Pigment istweiblich, und der Malakt, der physisches Vergnügen vermittelt - und wohl auch bereitet hat, wirdvermännlicht.36

Vollardberichtetdannausführlich von Renoirs Jugend als Porzellanmaler,vonseinem arbeitsamen, regelmäßigen Handwerker­

leben, vonseinen Vorlieben, ersprichtvon der Ateliergemeinschaft mit Sisley,Monet und Bazille beiCharles Gleyre- Episoden,dieheute in je­ der Renoir-Monografie berichtet werden. Und immergeht es umFrau­ en,um Modelle, obwohl Renoir von Lise Trehot schweigt,umEros und Glück. Den Mythosdes bildungsfernen Naturburschenbringt Vollard durchAnekdoten über die literarischen Vorlieben des Malers ein. Seine Frau wollte ihm abendswie gewöhnlich aus einem Roman vorlesen, mansuchtenach Die Dame VonMonsoreau von Alexandre Dumasdem Älteren, einer galanten Geschichteaus derZeit Heinrichs III. Doch das Buch ließsich nicht finden. Dawar dann die Redevon Baudelaires BlumendesBösen:»Eines der Bücher, das ich am meistenverabscheue.«

Auch Die Kgmeliendamey von Alexandre Dumasdem Jüngerengehör­ te wohl zu den dekadenten Lesestoffen, für dieder Maler nichtzuha­ ben war: »NieimLeben,protestierte Renoir. Ich mag nichts, was der Sohn geschrieben hat, und dieses Bucham wenigsten. Von jeher finde ichsentimentale Huren entsetzlich!«37 Dagegen stehen künstlerische Idealeder Vergangenheit, verkörpertetwa durchdie Nymphen der Fontaine des Innocents von JeanGoujonnahe den Hallen - »Welche Reinheit,welche Naivität, welche Eleganz, undzu gleicher Zeitwel­ che Festigkeit im Stofflichen!«38 -,aber auch durch Francois Boucher.

Vollard überliefert die handfestenWorte, die Renoir für dessenDiana nach demBadey siehe Abb. 33 fand.In solchen scheinbarauthentisch wie­

dergegebenenAuslassungen präsentiert der Händler den Künstlerals das derbeProletarierkind, das durch harteArbeit zu den Werten klas­

sischerSchönheit vorgedrungen ist.Auchdieswar vielleicht eine Rück­

kehr, pflegteRenoir doch den Familienmythos, man stamme über den Großvater, dessenAngehörigeunter der Grande Terreur umgekom­ menseien, von einem Adeligen ab.Renoir, nervösund verträumt im Leben,diszipliniert bei derArbeit - dies istein Charakterzug, den sein Bruder Edmond schon 1880 in einer führenden Zeitschrift für Luxus und Moderne in Paris publik machte. SeineNervositäthabe der Künst­

ler nur vor dem Motiv, vor dem gleichfalls nervösen Licht im »plein air«, beruhigen können.39

Vollards Werk ist keineswegs die erstemoderne Monografie überden Künstler. Der bedeutende deutsche Kunstkritiker und -histo- riker Julius Meier-Graefe hat bereits 1911 einüberaus durchdachtes Werk vorgelegt, in dem er sowohl das Charakterbild als auch dasWerk des Malerskunstvoll interpretiert.40 In seiner Deutung liest er Renoir sowohl vor dem Hintergrundder zeitgenössischenAvantgarden und der eigenen differenzierten Kunsttheorie als auch vor dem der Lebens-

(12)

Michael F. Zimmermann

Philosophie derJahrhundertwende, deren prominenteste Vertreter in Deutschland FriedrichNietzsche und in Frankreich Henri Bergson waren. In seinererstmals 1904 erschienenen Entwicklungsgeschichte der modernenKunst hatte Meier-Graefe den unverborgenen, sichtbaren Pinselduktus mitpastosem Pigment nicht nur zum Markenzeichendes Künstlerserhoben, sonderndamitzureigentlichenSignatur der Moder­ ne, in deren Zentrum er dieEmanzipationdesIndividuumsstellte.Die Welt,wiesie sichuns zeigt, warfür ihn,wie schon für Emile Zola, stets die Vision herausragender Einzelner, die ihre Sichtweise hatten durch­ setzen können. Und diese Einzelnen werdennunbisweilenmit den Untertönen gepriesen, mit denenNietzsche den Willenzur Machtbe­

sungenhatte.41 In der gedrechselten, teils überspannten sprachlichen Darbietungkontrastiert Meier-GraefesWerkmarkant mitdem journa­

listischenDuktus Vollards. Fürbiografische Informationen griff Meier- Graefe jedochaufden Kunsthändler zurück; insofernwarauch seine Deutung sicherlich von Vollardgeprägt- unddarüber hinausvonRenoir, der den Kritiker sicherlich ebenso wie den Händler zu beeinflussen ver­

stand. Im Gespräch zwischenVollard undMeier-Graefe nahm derMythos

»Renoir« Gestalt an, der in beider Monografien einging.42

Für Meier-Graefe ist Renoirmehrals der Maler »melodiöser Rhythmen[...], derFragonard unserer Zeit«, ein Künstlerdes Ausgleichs des»Alten, daswir mitdem weitenBegriff des Barockszusammenfas­ sen«, und der Moderne. Zwar analysiert der Kritiker, dassbei Renoir dieVergangenheit in die Gegenwart hineinragt,er gehtaber darüber hinaus: Erist Handwerker undNaiver zugleich, und dadurchwird bei ihmKultur wiederzur Natur. Dies bestimmt auchdas »VerhältnisRe­

noirs zu dengroßenKünstlern seinereigenen Zeit. [...] Er istder natür­ lichste unter ihnen. Natürlicherals Courbet trotzoder gerade infolge des Courbet sehen Dogmas vom Naturalismus,natürlicheralsManet, Cezanneund Degas, soseltene Aufschlüsse wir ihnen über die Natur, die ein Künstlerzu suchen hat,verdanken.Weil [...]erder Naivste un­

ter ihnen ist, weil aus seinen Werken[...]ein Kinderlächelnbricht, ein primitiver, unwiderstehlicherNaturlaut. Dieanderen stehenalle un­ terdem Zeichen unsererZeit, des Kampfes. Sieringen mitder Natur, reißen sie ansich,dasDämonische krümmt ihre Gesten. Diesereine scheint mit ihrgeboren, gleich einemGriechen,einemPoussin, einem Mozart. Ermalt, wie der Vogel singt, wie die Sonne scheint, wieBlu­ men blühen. Nie hat man so kunstlos geformt. So greift der Säugling nach der Mutter Brust. Ein Instinkt wird Schöpfung.«43 Dem promethe- ischenWesen der Moderne, welches die Aufklärungund die Romantik seit Goethe und Hölderlin bis zudenDecadentsunter den Symbolisten beschworen hatten,stellt Meier-GraefeRenoir als Naturkind gegen­ über.44 Unter den Entarteten,vondenen 1892 Max Nordau sprach, sieht erhier einenPrimitiven- derfreilichüberein meisterhaftes Handwerk verfügt.45Dass Handwerk der Garant für eine Art großstädtischen Pri-

(13)

mitivismus sein könne, dies hält noch Renoirs langjähriger Freund und MitstreiterGeorges Riviere für das Geheimnis seiner Kunst.In seiner 1921erschienen Monografie, anekdotenreich undim Duktusvon Me­ moiren gehalten, malt er die nochvon der späterensozialhistorischen Kunstgeschichte, besonders von Timothy Clark beschworeneIdylle eines vorkapitalistischen Paris an die Wand,einer Gesellschaft vor der Trennung der Lebensräume der verschiedenen Gesellschaftsklassen durch die Umgestaltung der Hauptstadt unterNapoleon III. durch den Präfekten Haussmann. »Die Eltern Renoirs waren Handwerker von jener Art,wiemansiein großerZahl imaltenFrankreichsah. Beschei­

den,sparsam, mitdem Geschmack fürschöne Dinge.« Riviere erwähnt auch die Spaziergänge des jungen Handwerkers mitseiner Mutter, von einer »sensibilite exquise«, in Louveciennes.46

Derartige Ursprungsmythenbestimmen die Metaphorik Meier-Graefes inseinem Charakterbild desjungen Renoir. Der Knabe malte für einenälteren Porzellanmalerein erstes »selbständiges Bild.

[...] Er malte mutig drauflos. Es wareine Eva vor dem Sündenfall.« Der Erfahrenere riet, »man solle den JungenKunstmalerwerden lassen, denn alsPorzellandekorateur könne er höchstens 12 oder 15 Frs. den Tagverdienen. Überdies prophezeite erihm eine glänzende Zukunft.«

Füreine angemessene AusbildungdesMalers einer noch unschuldi­

gen Evafehltenjedoch die Mittel, und so mussteRenoirzuerst weiter alsPorzellanmaler,dann als Malervon Ladenvorhängen, »bemalten durchsichtigenStores«,sein Geld verdienen. DieDekadenz desKapi­

talismusselbst machte aus dem Handwerker einenKünstler,einen Primitiven unter den Modernen:»Renoir wäre wohl ewig Porzellan­ maler geblieben, wenn nicht gerade die Erfindung des Porzellandrucks die Handtechnik materiell geschädigt hätte. Wiedereinmal wurde der Niedergang einesGemeinwesens zum Helfer eines einzelnen.«47

Die Verdrängungder manuellenPorzellanmalerei durch die VerwendungvorgedruckterSchablonen deutetMeier-Graefe um­

ständlich als Symptom fürden »Niedergang eines Gemeinwesens«.

1904 hatte er in der Einleitung zuseiner £ntwick[ungsgeschichte der mo­ dernenKunsteinen Gegensatzzwischen der »Raumkunst«der starken Gemeinschaften und dem modernen, emanzipierten Individuum kon­ struiert, das sich im freienPinselduktus äußert. Für die»Raumkunst«

standen noch ArtNouveau und Jugendstil,für die sich Meier-Graefe im späten 19.Jahrhundert lebhaftengagierthatte,mitsamt den dahinter stehenden sozialistischen Utopien der Überwindung des Gegensatzes von Handwerkund Industrieproduktion. 1904 ließ erdie »Raumkunst«

bereits in der HagiaSophia beginnen. Ihr stellte er nun den Individua­ lismusder modernen Malerei entgegen, der sich in der Primamalerei vom späten Tizian zu FranzHals, von Rembrandtzu Gustave Courbet, von Manet zu Max Liebermann entfaltet hatte.48Wenn er 1911 über Renoir schreibt, der »Niedergang einesGemeinwesens« sei »zum Hel­

(14)

Michael F. Zimmermann

fereines einzelnen« geworden, so spielterdamitauf den treibenden Gegensatz des Verfallsder Raumkunst und des Triumphsder maleri­ schen Malerei im modernenIndividualismus an.49

Allerdings sollte Renoir in dieser Entwicklung eine Sonder­

stellung zukommen, und zwar nicht nuraufgrundseiner in den hand­

werklichen Fähigkeitenbegründeten Technik. Allein dieseverankerte seineVisionebenso in einem kollektiven Geist:Der Anfang als Hand­

werker, zugleich das Bewusstsein um die künstlerische Begabung,

»setztendenTräumereiendes Romantikers ein Zielund sicherte [n] ihm ein seltenesAttribut desmodernen Künstlers:die Bescheidenheit«.

ZugleichsuchteRenoir den Sinn in der Kunstgeschichte. »>Moijereste dansle rang.< Das Wort gefiel mir, ohne dass ich es genauzu deuten wusste.« In der direkten Konfrontation mit der Natur wäreer, wie die Impressionisten, wiezumBeispielMonet, denWeg einer individualis­

tischen Ästhetik gegangen. »Renoir rechnet sich selbst so wenigzu den Impressionisten, wie wir ihn dazu rechnen dürfen, und lehnt gerade das wesentliche Prinzip Monets, die bedingungslose Beziehung zur Natur, grundsätzlich ab. Mit derNatur, sagte ermireinmal, lerne mankeine Kunst. Mitder Naturmache man, wieman wolle,undkomme notwendig zur Isolierung.« Woaber fand dann Renoirzu seiner Kunst? »DieErklä­ rung, die er mirgab, würde manchen, der in ihm ein Naturkind sieht, in Staunen setzen.[...] >Aumusee,parbleuh,gab ermir zurAntwort.«50

Das »Naturkind«der Kunstgeschichte - indiesem Wider­ spruch siedelt Meier-Graefe Renoirs Leistung an. Für ihnistRenoirs schier unmögliche Synthese eineArt Wunder, wurde die ursprüngliche Natur doch stets, und besondersseit der Aufklärung, nur alsdas Ande­

re der Kultur gedacht, alsUrsprung, zu dem jede Rückkehr illusorisch bleiben musste. Das Wunder kann sich bei Renoir vollziehen,weil er selbstkein Moderner, kein Dekadenter, kein Spätling ist, der durch Arbeitsteilung vereinseitigtund durch das babylonische Großstadt­

leben verdorbenwurde.Meier-Graefe begegnet beiRenoir der längst vergangenen Kollektivkunst, gerade weilerihnnichtalsbürgerlichen Individualisten darstellt. So beschwört ein Bürger dievergangenge­

glaubte Kollektivkunst eines Arbeiters: »Unsere Zeithat Intellekte. Wir machen erstaunliche Analysen und reduzieren die Welt auf einpaar Zahlen. Und hierschafft einer aus dem DunstderGroßstadt einen Gar­

ten, in dem Milch und Honig fließen und Menschen wandeln,die nie den Niedergangder Rassengespürt. Schafft sieaus Fleisch und Blut, ohnePhantasmagorien, mit dem Licht, das die Haut lebender Modelle streift; schafft sie aus unserer entgötterten Welt, mit unserem Mate­

rialismus,naiv wie ein Giotto, überschäumend wieein Rubens. [...]

dass der Positivismus inunseren Tagen zu einem so unverhohlenen Ausdruckgelangen,dass das Land dergroßen Skeptiker und kleinen Blagueursein so unverhohlenes Zeugnis strahlenderLebensbejahung hervorbringen konnte, das mag als Wunder und als ein glückliches

(15)

Wunder gelten.«51 Dieses Wunder konnte sichnur in Frankreichvoll­ ziehen,jener so natürlichen Kulturnation, der es gelingt, Babylonmit Arkadien zuversöhnen: »Er ist der reinste Franzose seiner Generati­

on [...]«.52 In einem Zeitungsartikel imJahre 1928 spitzt Meier-Graefe den Charakter Renoirs alsletztem Exponenten einer antiindividualis­

tischen Kollektivkunstnocheinmal zu: »Renoirwar der erste, der die bedenkliche soziale Seite der modernenKunst, die>splendid isolation<

des Individualismus, durchschauteund sich,soweitdas einem Men­ schen unserer Zeit möglich ist, von dem Ich lossagte, um zu der Allge­ meinheit zu gehen.«53

Der so hymnisch besungene Mythos »Renoir«, der hier Ge­

staltannimmt, istnatürlich bereitsgeprägt von den klassizistischen Vorstellungen der Retroavantgarden. Meier-Graefe jedoch vermei­ det das Wort »Klassizismus«. DerAkzent seines Buchesliegtnicht beim reifen und späten Renoir, sondern beidem Werk der 1860er- und i870er-Jahre, die schon für ihn die interessantesten sind. Die besonde­ re Stärke seiner Darstellung besteht in der Verbindung zwischen dem Künstlermythos und einerpoetologischen Werkanalyse. Zur Verdeut­

lichung der »intimen Übereinstimmung der Form mit der Empfin­ dung«, die erwohl nur beschwörendherbeireden kann, arbeitetder Kritikerimmer wieder ein Moment heraus: »Es äußert sich ineiner be­ sonderenStabilität, einer seltenen plastischen Fülleseiner Gestalten und gibt derIdylle desLyrikersfestes Gefüge.« 54 Raum,Reliefund Plastik sind die Stichworte seiner eindringlichenBeschreibungen.

Meier-Graefe hebt die Einfachheitvon Renoirs bildneri­ schenMittelnhervor. Sein lebensphilosophisches Pathos ebensowie seine analytischeSchärfe werden durchdie anekdotenfreudige Ge­

sprächigkeit Vollards ergänzt - insbesondere in Deutschland,wo sein unddas Werk Vollards seit denI92oer-Jahren das Renoir-Bild prägten, während er für Frankreich noch zuentdeckenbleibt. Dieser Mythos, wie wir ihnMeier-Graefe,Vollard undRiviereverdanken, war natür­ lichgeprägt durch diekonservativen Avantgardender192oer-Jahre.

Seit Jean Cocteau 1917den »retourä l’ordre« ausgerufen hatte, zu­

nächst nur, um den währenddesKriegesalsdeutschundvertrackt ge­

schmähten Kubismus wieder mitdem »esprit fran^ais«zuversöhnen, suchte man den vorwärtsgewandten Geist der Avantgarden durch die Rückwendung zur Tradition zu vermittelnund dafür gerade beiden

»Vätern« der neuen Kunst Kronzeugen zugewinnen.55Andre Lhote, 1920 auf der Suchenach Meistern, welche die Natur nicht mit den Au­ gen, sondern mit dem Geistbefragen, wurdebei Renoirfündig: »Wie Cezannehat er die göttlichenGesetze des Gleichgewichtsentdeckt, deren er sich bedient, um die Ökonomie jenes Universums im Kleinen zu beherrschen: desBildes.«56 RobertRey schlossRenoir 1931 in eine Untersuchung über die »Renaissance des klassischen Gefühls« ein,ein Buch, das denantiindividualistischen Charakter modernerklassizisti­

(16)

MichaelF. Zimmermann

scher Kunst betont.57 Bereits in den t890er-Jahren hatten konservative Neotraditionalisten wie Denis und Maillol sich Renoirzum Vorbild genommen; die I92oer-Jahre konnten daran anknüpfen. Erstunlängst wurde RenoiralsKronzeuge der Retrogarden in einer großen Ausstel­ lung gewürdigt.58

Es reicht jedoch nicht, dasWerk Renoirs von seinenspäten Kunstanschauungen herzubetrachten und es von dortherallgemein als rückwärtsgewandt einzuschätzen. Denn es geht nicht einfach um eineArtNeohistorismus, sondern eher umeineStrategie der Enthisto- risierung, um jene allgemeineVergegenwärtigung von Antike neben jüngst Vergangenemund Zeitgenössischem im Werk,fürdie Meier- Graefe sensibel war.Dem entsprechen auch die Strategien der Retro­ garden, ihre Kunsttheorie zu präsentieren. Unlängst wurde heraus­ gearbeitet, dass Künstler von MauriceDenis bis zudenMeisterndes Novecento und des»retour ä l’ordre« gern in Aphorismen ewig gültige Wahrheiten, oft regelrechteBinsenweisheiten, überdieKunstpräsen­

tierten. Sieknüpftendabei häufig an die französischenMoralisten des 17. Jahrhunderts an - undwandten sich natürlich gegenden intellektuel­

len Stil,mitdemdie Avantgarden ihre künstlerische Sprache erklärten und sie einmal aus aktueller Erkenntnis, ein anderesMal aus moder­ ner Optik,einmal aus dervierten Dimension, dann wieder aus vitalis- tischemGeschwindigkeitsrausch herleiteten.59 Renoirs nostalgische Bewunderung des »alten« Kunsthandwerkspasstingroben Zügen in diesen Rahmen. Schon 1877beklagt er in einem anonymen Brief an dieaus Anlass der Impressionisten-Schau herausgegebene Zeitschrift L’impressionniste die Banalität und Hässlichkeitdes neuen Louvre, wäh­

rend die altenBauteile in den gleichen Formen dochals Zeugnisse ge­

lebten Handwerksschön seien; derKontrast gilt auch für die Pariser Oper imVergleich zu gotischenMonumenten.1883/84schreibt Renoir an einerKunstgrammatik, 1910entsteht eine Einleitung zuCennino Cenninis spätmittelalterlichem Malerbuch.60 Man kann seineAttacke gegen die Industrieproduktion im Sinne kommunistischerEntfrem­

dungskritiklesen,von der die für Renoirsicherlich vorbildliche eng­ lische Arts-and-Crafts-Bewegung natürlich nichtunbeeindrucktwar.

Doch schlägt diese Kritik umineine konservative Beschwörung künst­ lerischer Ewigkeitswerte, für die der späteRenoirzweifellosnicht nur vereinnahmt wurde.

Neotraditionalismus und »retour ä l’ordre« habendas Renoir- Bild geprägt, alsdieTexte zu dem Maler über die tagesaktuelle Kunst­ kritik hinaus Geltung inder Kunstgeschichte beanspruchten.Renoir, der Outsider des Bürgertums, der diesem geradedeswegen als der Typus des Naturtalents schlechthingelten konnte, dieser Mythos lebt noch in der heutigen Kunstgeschichtsschreibungfort. Robert L. Herbert prä­

sentiertihn als Arbeiterkind, das denLuxus nicht als dekadent erlebt, sondern sich seine Nase an den Schaufenstern platt drückt und hofft,

(17)

eines Tages an dieser Traumwelt teilnehmenzu können. Was für die einenabgeschmackteGewohnheit,Teil des »ennui«, jenes spezifisch pariserischen Überdrusses, war, das waren für ihn Segnungen eines Kommerzes, der echtes Glückbringen konnte.61 FürAdriani huldigte Renoir »den sinnfrohen Seiten einesbürgerlichen Daseinsideals« und

»war nichtbereit, überdie UngerechtigkeitderWelt zu urteilen«.62 Paul Tucker schließlich siehtnoch die Nervosität des Künstlers durch die Angstdes sozialen Aufsteigers vor einem stets möglichen Fall be­

gründet.63 Die sozialhistorische Analyse ist sicherlich berechtigt,doch scheint Renoir selbst das Bild von sich alsArbeiter- und Naturkind re­ gelrecht kultiviert zuhaben. Nichtnurin seinem Lebenund in seiner Selbstdarstellung, sondernauchinseinemWerk und durch sein Werk als Handelswarehat erKunst undKommerzmiteinanderversöhnt.

Seine Vision vom Glückwar jedoch keineswegs von Anfangan rück­ wärtsgewandt: In seinem Frühwerkschreibt er noch der perfektesten Idylle Anspielungen auf Prekariatund Prostitution ein. Verhältnisse, denen erkeineswegsnur entrückt war.

Die veröffentlichte Intimität: Boheme und Lebenskunst

MarcLe Coeurs Entdeckungen über den jungen Renoir und seine Liebe zu seinem 1848 geborenenModellLiseTrehot mag man als Indiskreti­ oneneines Familienforschers beiseite schieben, der dieFreundschaft des Malers mit seinem Vorfahren, dem neun Jahre älteren Maler Jules Le Coeur wiederinsrechte Licht stellen möchte -betont erdoch, dass die Le Coeurs es waren, die 1873 mit dem Maler-Wüstlingbrachen.

Doch zeigen sie uns im Ergebniseinenanderen Renoirals denMaler, den wirvon Meier-Graefe, Vollard und Riviere- und auchvonseinem Sohn, dem Regisseur JeanRenoir, kennen. Wirbegegnen hier nicht dem Handwerkerund demNaturkind, sonderndem Bohemien,der das Leben der Armut und prekärer Hoffnungen bis hin zu gescheiterter undverleugneter Vaterschafterlitten hat.Man bräuchte diesenHinter­ grund nicht, um dieBohemeauch in Renoirs impressionistischen Ge­ mäldenwiederzufinden.Aberes ergibt sich doch ein anderes Bild der Gestaltdes Künstlers. Das Naturkindder»Renaissance des klassischen Gefühls«64 hatte eine dunkle Seite, ähnlich derJean-Jacques Rous- seaus.65 SeinModellLise hater nichtnurgemalt,sondernauch geliebt, bissie sich um 1872/73 mit einem Architekten verband, den sie später heiratete. Es gab zwei Kinder,die derVater wohl beide verleugnete;

von einem Knaben, der 1868geborenwurde, hatsich jede Spurverlo­ ren; nach einem anderen, einer1870geborenen Tochter, hat sichder Vater sehr diskret sein Leben lang erkundigt.66In der Künstlerboheme spieltennicht nur Armut und Ambition eine Rolle- Stereotypen eines künstlerischen Heldentums, die seit der RomantikzumKlischee des Künstlers gehörten.67 Darüber hinaus ging es um prekäre Affären, um

(18)

Michael F. Zimmermann

die verspätete Gründung,aber auch umdas Scheitern von Familien.

Nicht jedem gelanges, die ersten Kapitel seiner Biografie durch die da­

rauffolgenden zu veredeln.68FürFrauen und illegitime Kinderwardas Risiko besondersgroß.Renoir wahrte über seine Affäremit Lise ein Leben lang Stillschweigen.

Seiner Boheme hat Renoir selbstin einemManifest-Bildge­ huldigt Abb. i. Eine Landschaft mit zwei Akten, wieAnneDistelheraus­ gestellt hat,vermutlich jenes Gemälde, das manin Frederic Bazilles berühmtem BildBa^illes Atelier,RyeLaCondamine9 inParis siehe Abb. 56

obenrechts an der Wand hängensieht, warim Jahre1865 vom Salon ab­

gelehnt worden. Dagegen protestierte ermit einemGemäldeder Künst­ lerboheme aus Marlotte, einemärmlichen Dorf, nahe Barbizon im Wald von Fontainebleaugelegensiehe Abb. 53.69 Ähnlich wie in Courbets GemäldeJ^ach dem AbendesseninOmans(Musee des Beaux-Arts, Lille) geht esum den Augenblickder Ruhe nach dem Essen in einer ländli­

chen Behausung. Doch bei Renoirwird der Tisch abserviert, und eine entspannte Unterhaltung hebt an.Ein rechtssitzender, bärtiger Mann hat die Zeitung Levenement vorsich liegen, in derZola imFrühjahr 1866 Manet und Monet verteidigt hatte.70 Er hält ein Zigarettenpapier zwi­ schen den Fingern und wendet sich einemunbekannten, rasierten Mann ihm gegenüber zu, der seinen Worten mit amüsiertem Inte­ resse zuhört -wie erst Le Coeur gezeigt hat, ein Lehrer, nur ein Zaun­ gast in der Boheme.71 Dahinter steht ein weitererZuhörer, der dem Sprechendenbemerkenswert ähnlich ist,undlauscht ebenfalls,wäh­

rend er mit der Hand in den Tabaksbeutel greift. Renoirs eigene, etwas nebulöse Erinnerung erschwert bis heute die IdentifizierungderPerso­

nen.Insbesondereschwankt die Identifizierung der Bärtigen zwischen Sisley, Le Coeur, jasogar Renoir selbst. Eine neben dem Hut desSpre­ chendeneingezwängte Alte, von der wir nur den Hinterkopfsehen und die sich zum Abservieren entfernt, ist die Eigentümerin; das Mädchen, das mitangespannter Konzentration nach einemgroßenStapelTeller mitzwei aufeinandergetürmten Tassengreift,istNana, die sehr junge Hausangestellte, deren leichteSittenRenoir Meier-Graefe undVollard gegenüber betontzu habenscheint.WieMeier-Graefe 1911 beobachtet, ist dieses Gemäldenicht nur derBoheme gewidmet, eswurde selbst nach deren leichthin naiver Art gestaltet: »Es ist eine sehrlockere Im­

provisation in bräunlichen Tönen,ohne jedenEhrgeiz gemalt. Die Köp­ fescheinen ebensospielerisch aus weicher Laune entstandenwie der schnurrige Pudel, deneinKindgezeichnet haben könnte. Aber dem Kindlichen gelingt, was oft derBewusstheitentgeht. Man spürtdiese Menschen, und nichtnursie selbst,auch das, was sie gemeinhaben, die Art ihresZusammenseins, ihre ganze harmlose Existenz.«72Wenn wirRenoirs Komposition mit Courbets aApres-dineeJvergleichen, so wird deutlich, dass dieses Zusammensein nervös undfragilwar: bei Courbet ein angehaltener Moment der Zeit, bei Renoir Geschäftigkeit,

(19)

die angespannte Gruppe der Malerfreunde, daneben die konzentrierte Aktion des Abservierens, die durch den Abgang der Mere Antony dem Gesprächalszweite Szene beigeordnet wird.

Vorallem aber erscheinen hinterder Gruppe rätselhafte Gestalten,darunter ein übergroßer Kopf, Noten undein Text. Eswa­ rendie Ahnen dieser Gruppe, wie derMalerVollard mystifizierend berichtet:»Wasdie Motive im Hintergrund meines Bildes anlangt, so hatte ichsie den Schildereien entlehnt, die auf die nackte Wand ge­

malt waren. Das waren die anspruchslosen, aber oft sehr gelungenen Werke derStammgäste.Ich selbst hatte die Silhouette Murgersdarauf gezeichnet, deroben linksauf meiner Leinwand figuriert.«73 Der Hin­ weis könnte nichtplakativerausfallen:Renoir selbst huldigt hierdem Schriftsteller Henri Murger, der seit Mitte der i840er-Jahreim Corsaire_j regelmäßig Anekdoten humoristisch-rührseliger Art aus Ateliers,Bras- serien und Cafehäusern veröffentlichte. Aufdieser Grundlagewurden 1849 sein Theaterstück Latiedeboheme, das er gemeinsammit Theo­ dore Barrieregeschrieben hatte,und zwei Jahre später seinRoman Dies Boheme: Szenen ausdem PariserKünstlerleben veröffentlicht. Im Vorwort zum Theaterstück blickt Murger auf die Boheme zurück, aufjenes Böhmen, in demman einst das Ursprungsland derZigeuner gesehen hatte, das man seit der Romantik aber im Herzen von Paris fand-auf Leute, die nichts haben alsihren Glauben an die Kunst - am Schei­

deweg zwischen der Akademie und dem Armen- oderdemLeichen­ schauhaus. Die Boheme habe es seit Villon, Moliere und Tasso oder Shakespearegegeben, angewachsen seisiejedochdurch die »Marty- rologie des Mittelmaßes« sowie das selbst gewählte Außenseitertum von »Amateuren«, die Murger verachtet.74AlsRenoir sich aufdiese Boheme zurückbezog, warein Hinweis auf Murger bereitsklischee­

haft. Später, seit ihremDebüt im Frühjahr 1896, sollte Giacomo Pucci- nis Oper Laboheme, inderen Libretto Luigi Illica und GiuseppeGiacosa Murgers Stoff verarbeiteten, zu den populärsten Musikdramenauf den Bühnen der Welt gehören.

Doch1866 wirkte die Idyllegewiss brüchigerals inRenoirs späterenErinnerungen. Die Brüder Goncourt, die das Gasthaus der Mutter Antony 1863 besucht haben,überliefern in ihrem Tagebuch den schmutzigen CharakterdesOrtes,in dem sich eine zügellose Gesell­ schaft versammelthabe, um inmittenvon Wein,Weib und Gesang gegen drei Uhr ihr Mittagessen einzunehmen.75 Murger mit seiner Hündin hatte selbst im GasthausinMarlotteverkehrt;vielleichtspielt Renoirmitdem Pudel, derperplex auf denBetrachterblickt,darauf an.

Anders als derunterdemStuhlschlafende HundbeiCourbet scheint dieserdoch harmlosePudelden Zugang zur Szene zu bewachen. Vor allemaber drohen die Gestalten der Bohemeübergroß und wie lär­

mend hinter dendrei Kunstbeflissenen hervor. Renoir scheint später seineBoheme insgesamt umgedichtetzuhaben. Helmut Kreuzer hat

(20)

Michael F. Zimmermann

schon 1971 der Boheme und ihren literarischenVerarbeitungenei­

ne eingehende Studie gewidmet. Er unterscheidet darin zwischen einemgrünen, schwarzen undroten Verständnis derBoheme: »Das erste spiegelt denGlanz (Jugend, Freiheit, Heiterkeit, Farbigkeit), das zweite das Elend (Armut, Laster, Verzweiflung), das dritteTrotz und Kampf derBoheme. ReligiöseModelle spielen herein: Purgatorium, Paradiesund Verdammnis.« Später wurdeder Gegensatzzwischen dem romantischen Verständnis der Boheme im Sinne von Freiheit und Lebensgenuss und der hoffnungslos hoffenden Truppe der zuvielen Ambitionierten, der Schriftsteller, Verwalter, Soldaten, Journalisten und Künstler- kurz, zwischen derBoheme nachMurger und nachdem Schriftsteller und KunstkritikerJules-AntoineCastagnary - weiterhe­ rausgearbeitet.76 Renoir wechselteinseinenErinnerungensozusagen von einer Boheme, in der Murgers IdylleundCastagnarys Kritikzu­

sammenkamen, zu der reinen, von Puccini verklärtenIdylle.

Dies gilt ohne Zweifel auch für die Gemälde der Lise Trehot.

SeinVerhältnis zu dem Modell war durchaus keine reine Privatsache.

Nochderheutige Betrachter erkenntsie in zahlreichen Gemälden,er kann die Rollennachvollziehen, die sie spielte,wieerauch die Rollen nacherleben konnte, die zuvor Manets berühmtes Modell Victorine Meurent als Olympia (1863,Musee d’Orsay, Paris,Salon des Jahres 1865) oder imFrühstücken Grünen (1863,Museed’Orsay, Paris, Salon des Re- fuses 1863),alsFraumit Papagei (1866, The Metropolitan Museumof Art, New York) oder gar in regelrechten Travestien als Pfeifer (1866, Musee d’Orsay, Paris) ineinem Militärorchester oder als Torero (Mademoiselle^

Victorine MeurentimKgstüm einesStierkämpfers, 1862,TheMetropolitan Museum of Art, NewYork) in dessen Malerei gespielt hatte.77 Das berühmteste Gemälde seines Modells stellte Renoir ja sogar unter dem Titel Lise mit demSonnenschirm ausAbb.5.Zola,dersie 1868 für eine geistige »Schwester« von Monets Camille, bekanntaus einem Por­

trät aus dem Vorjahr,hielt,undsiemit der Bemerkunglobte, sie sei

»eine unserer Frauen, oder doch eher eine unserer Mätressen«,hat die Anspielungauf Privates indiesem fürdie Öffentlichkeitbestimm­ tenWerk geahnt.78Die»große Wahrheitund die glückliche Suche auf der modernen Seite« in diesem Werk qualifizierte die Gestalt im hef­

tigen Sonnenlicht,das sichin ihrem weißen Kleid sammelt, soüber­ deutlich,dassein zeitgenössischer Karikaturist (Andre Gill) sie als weißes Tamburinmit Schirmverballhornte. Andere Zeichner (Henri Oulevay) übertrieben den Kontrast zwischen dem verschattetenGe­ sicht und derstrahlendweißen Erscheinung. Jedenfalls unterstreicht diedominante Helligkeit die verschatteteMelancholiein Lises Ge­ sicht, die sich abwendet, wie vielleicht Odette in Marcel ProustsIn Swanns Welt (1913) bereits den Blick des Rivalen de Forchevillegesucht haben mag, währendSwannnoch ihr beglückendesBotticelli-Lächeln erheischt.

(21)

Meier-Graefe wurde nichtmüde, das Gemälde zu loben. »Vor einem mächtigen Baumstamm, auf dem ein paar Sonnenflecke perlmutter­

haftglühen,erscheintwie ein Märchen die weiße Dame. Das Weiß ist derwunderbare Mull unsererGroßmütter, duftigund durchsichtig.

Es lässtdeutlichdas härtere Weiß des Unterkleides durchscheinen.

Wie eine Wolke umgibtes die volle Figur, dieprachtvollen Armeund läuftbis tief auf die Hand, dieden Batisthält. [...] Wieder ein neues Weiß tritt in dem Hutmit der schmalen Krempe hinzu,und endlich das schönste: das Fleisch.«Er stellt Renoir über Courbetund Manet, ja sogarDiegoVeläzquez: »[...] Manets hochgespannter Subjektivismus hattenicht Zeit für dasMärchen. Seinem alles Sichtbare blitzschnell aufsaugenden Blick entging das Unsichtbare, das Renoir fühlt und füh­ len zu lassen weiß, und das nicht entbehrt werden kann, soll sich weib­ liches Fleisch inMädchen und Frauen verwandeln.«79 Mit Lisewurde der Betrachtergenausobekannt wie mit ManetsVictorineodermit Monets Camille.Monethatte seinModell,seinespätereFrau Camille, oft gemalt;sein 1866 im Salonausgestelltes Gemälde einer ebenso ele­

ganten wienachdenklichen Camille wurde von Zola eingehend geprie­ sen: »diese jungeFrau«, die in derMauer zu verschwinden scheine, sei wie »voneinem alten Freund« gesehen. Anders als in der mondänen Malerei sagesogar das schwere, grüne Kleid, »wer dieseFrau ist« -je­ denfallskeine »Puppe«. Segolene Le Men hat unlängstgeschildert, wie das Publikum den Roman CamillesinMonetsMalerei von Ausstellung zu Ausstellung wie auf einem Theaternachvollziehen konnte.80Der Familienroman Monets wurde in den i870er-Jahren immer wieder auch vonseinem Freund Renoir präsentgemacht,wie einigeLeihga­ bendieser Ausstellung belegen(Kat. 28,29,31,32). Nehmen wir alle Figuren vonVictorine zu Lise zusammen, so wirdhiernicht nur Pri­

vates öffentlichgemacht, sondern das moderne Privatleben wird mit allen seinen Widersprücheninszeniert.

Lise, der »Mätresse unserer Zeit«, lässt Renoir uns in man­

chen Rollen begegnen. Vielleichtfinden wir hierschon die beschöni­ gend sogenannte Lebenskunstvorweggenommen, durchdie spätere Avantgarden von gelebten Dreiecksbeziehungenbis hin zu denKom­

munen der I96oer-Jahre mit alternativen Konzepten von Partnerschaft und Sexualitätexperimentierten.81 Ein Jahr nachihrem ersten Erschei­ nen tritt Lise wieder im Salon auf,dieses Malin einemGemälde, das nur denTitel Im Sommer trägt (Kat. 11). Hatte sie ein Jahr zuvor noch den Frühlingverkörpert, sostehenihrverlorener Blick auf den Be­

trachter, ihr offenes Haar und dievon derSchulter gerutschte Bluse nunfür die Schwere des Sommers. Liebestrunkenheitund Melancholie sindeinefast laszive Verbindung eingegangen.82 Meier-Graefezeigte sich vonihrem»kaltenkittgrauen Ton« wenigerbegeistert.83 Schließ­ lich tritt sie etwa gleichzeitigalsSisleys falsche Braut in DieVerlobten auf

Abb. 8. Noch bevor RenoirLise Trehotauch als orientalische Odaliske

(22)

Michael F. Zimmermann

präsentierte Abb. n undsie ineinerArt Pariser Harem mehrfachauftre­ ten ließ (DasInnereeinesHarems in Montmartre [Pariserinnen in derTrächt VonAlgerierinnen], 1872,The National Museum of Western Art, Tokio), führt erimmerwieder in die Intimität dieserjungen Frau ein. Auch in DieVerlobten machen wirnun andere Nuancen aus: Derganz in Schwarz-Weiß-Tönen aufgehende Malerfreund neigt sich etwas pos­

sessiv dem Modell zu, während Lise, seiner Nähe gewiss, unbestimmt nach oben schaut.DieOrange- und Gelbtöne ihres Kleides unterstrei­

chen ihre unverschämte Sinnlichkeit, während er der Landschaft, kulissenhaftwie der Hintergrund einesfotografischen Porträts,ver­

haftetbleibt.Lisesmelancholische Sinnlichkeit, auch die häufige Ab­

wendung ihres Blicks von demdes Betrachters, kann manvon Bildzu Bild verfolgen (Kat.8-11,14-16,25). Der Betrachternimmt an einer unbestimmtenIntimität teil. Er liest dabei keinen naturalistischen Roman undverfolgt sicherlichauchkeineproustscheGesellschaftssa­ tire.Dennoch wirdihmklar, dass eshier um das Privatlebengeht,wie es nichtnur inder Künstlerboheme,sondern auch in weiten Kreisen einerGesellschaft gelebtwurde, indermanEhebruch bei Männern tolerierte,ihn als natürlichansah.LiseTrehot führt in Renoirs Malerei die Widersprüchevon Idylle und Boheme, von Nähe und deren gesell­ schaftlicher Unmöglichkeit auf.

Doch noch die aufden ersten Blick heitersten Visionen modernerLiebe, die Renoir in diesen Jahren malte, spiegeln die Dop- pelgesichtigkeit von Eros und Thanatos.Wählen wir alsBeispiel das Gemälde DieLoge, das Renoir zur erstenGruppenausstellung der Im­ pressionisten einsandte -eines der ersten Werke, in denen Renoir sein einzigartigesTalent öffentlich machte, modernes Leben in szenischen Porträts zu arrangieren siehe Abb.84. Die Zeitgenossen priesen einhellig dieses Meisterwerk.84 Castagnary beschrieb zweideutig: »Abends, bei künstlichem Licht, bereitet dieseFrau,ausgeschnitten, behandschuht, geschminkt, rosa im Haar und rosa zwischen den Brüsten, Illusion.« In der Dame, einer»schwarz-weißen Kokotte« sah ein Kritikernamens Jean Prouvaireverwirklicht, wasauf jugendliche Betrachterinnen zu­

kam:»Sehen Sie hier,meine Fräulein, was aus Ihnen werden wird. Die Wangen mit Perlweiß geschminkt, die Augen von einembanalleiden­ schaftlichen Blick entflammt, werden Sie solcherart,mit dem golde­

nenFernglas in der Hand, anziehend und nichtssagend sein, delikat und stupide. Diese Frau, die sich für das Theaterstück, das man spielt, ebenso wenig interessiert wie für den Herrn, der neben ihr sitzt, ist Ihre Zukunft, und ichfürchte, Sie sind darüber nicht erschreckt.« Prouvaire nannte sich derKommentatorwohlnacheiner Figur aus Victor Hugos RomanDienenden (1862),einemLiebhaberschöner Dinge, der anseinem Geburtstag nach dem Theater mit Prostitutionkonfrontiert ist.

Aufdergleichen Impressionisten-Ausstellung zeigte Renoir aucheine Tänzerin(National Galleryof Art, Washington, D.C.), deren

(23)

duftigeSchönheit man heutegern der nach allen Künsten der Sozi­ alanthropologie als künftige Prostituierte charakterisierten Ballet­ teuse gegenüberstellt, die Degas im Jahre 1881 in einer etwas unter­ lebensgroßen, farbigenWachsskulpturvorführte (National Gallery of Art, Washington, D. C.).85 Auch für dieses Werkerntete Renoir Elogen- Marc de Montifaudverglich das Mädchen mitder persischen Märchen­ prinzessinPeri,die sich nur vomDuft einerLotusblüte ernährte. Wie­

derumbringtProuvaire denSchlagschattenkäuflicher Liebe indiese so zarte Szene.86 Er scheint Degas’, nicht Renoirs Tänzerin zu beschrei­

ben, wenn er auf Theodore de Banvilles im Jahre 1866 erschienene Ge­

schichte einermodernen Mignon, Tänzerin in derOper und Tochter einer Kosmetikhändlerin,verweist: »Mit ihren dunkelroten Haaren, ih­

rem zu bleichen Rock und den zu rotenLippen lässtsie an die >Frau von dreizehnJahren< denken, die Theodorede Banville in den >Parisiennes de Paris<sograusam beschrieben hat. Durchdiezufrühaufgenomme­ ne Arbeit sind ihreBeine schon schwergeworden, und ihreFüßesind in ihren rosa Seidenschuhen nicht niedlich genug: die hageren und langen Arme jedochsinddurchausdie einesKindes [...]. Nochkleines Mädchen? Wahrscheinlich.SchonFrau? Vielleicht.Junges Mädchen?

Niemals.«Nicht nur an dieser »Ratte der Oper«, sondern auchin einer Knabengestalt, die Renoir 1868 als Aktbild festgehalten hat, entfaltet er das Drama der Pubertät (Kat. 12).

In seinem berühmtestenGemälde DerTannjm JWoulin de la Galetten Äbü führt unsRenoirin die Welt der einfachen Leute oder vielmehr in ein unklares Ambiente, in demsich alle Klassen mischen: Arbeiter und Prostitu­

ierte, anerkannteKünstlerund die Boheme. SeinFreund Riviere prä­

sentierte die große, figurenreiche Leinwand alsanspruchsvolleSozi­ alstudie und als Historiengemälde, das im Freien entstanden war - als wolleer dieinzwischen stereotypverbreiteten Gerüchte widerlegen, der Impressionismus seinureineMalerei flüchtiger Entwürfe.87 Ent­

sprechend fallendie zeitgenössischen Reaktionenaus: Die Kritiker kommentierten zuerst die Verfremdung durch die impressionistische Fleckenmalerei undwetteifertendanndarin,ihre eigeneZeitin dem Gemäldezuinterpretieren. Ein »Jacques« sprach das Gemälde als das wichtigste der Impressionisten-Ausstellung desJahres 1877 anund hielt es fürangebracht, diedargestelltenFrauen als »einfache Arbeiterin­

nen,guteLeute aus den Vorstädten[...] ohneHintergedanken«,zu qua­

lifizieren. Ch. Flor O’Squarr (Oscar CharlesFlor) rühmte das durchdas Laubwerk gebrocheneLicht, das auf blondes Haar, rosa Wangen und die Bänder der kleinenMädchen fällt. Das Cafe mit Tanzbodencha­

rakterisierteerals die vielleichtletzte »guinguette« inParis- die Zeit­ genossen wussten wohl,was er meinte - jedenfalls einebillige Kneipe.

Allein Philippe Burtyvermisste inder vaporösen Malereidie stabilen Elemente; der Rausch des Geschehens seinicht ausreichend in klar

(24)

Michael F. Zimmermann

konturierten Stühlen, Bänken und Tischen verankert. So fehle Renoirs romantischem Impressionismus der Stempel der Realität.88

Die Komposition ist eine große Collage ausEinzelszenen, zusammengehalten von derVerkürzung und dem Szenario über den Köpfen der Dargestellten, dem Orchester undder Fassade des Saals sowie dem Rhythmus derGaslampen. Zentral sind zwei Frauen im Vordergrund,die sich übereine der grünen Bänke, die den Tanzboden umstehen,zu einem rücklingsauf einemStuhlsitzenden Mannebeu­ gen - einerSubstitutfigurfür den Betrachter. Diebeiden Frauen, die Schwestern Jeanne und Estelle -eine Art Doppelmodell desgleichen TypsverträumterSchönheit-, entrücken die zeitgenössische Mode in eine ästhetische Welt, in der alles aus Jugend, Farbe und Licht zu bestehen scheint. Die männlicheRückenfigur jedoch gehört gleichzei­

tig zu einemTisch, an demzwei Freunde sitzen, der eine von seinem Schreibzeug aufblickend, der andere versonnenanseiner Pfeife zie­ hend. Riviere, der selbstrechts mit einem Strohhut amTisch sitzend erscheint, überliefert1921die Namen der Maler, meistNaturalisten, jedochauch solche, die dem Impressionismus fernstanden, undihrer Modelle, dieauf dem Gemälde dargestellt sind.89 DieGruppe der drei Männerum den Tisch wird in ihrer versunkenenVerschworenheit durch die Frauen, die siesicherlich bald zum Tanz auffordern werden, gesprengt.Erst jetzt bemerkt man, dass die Perspektive der Bank und des Tischesnicht so recht zusammenpassen wollen. Ein Grund mehr, umdiese Gruppen baldzum Tanz hin zu öffnen, zu jenen Paaren, von deneneins, bestehend aus der pittoresken Gestalt deskubanischen Malers Pedro Vidal und dem Modell Margot, schon zuihnen-oder zumBetrachter-herüberblickt. Wie schon imWirtshaus derMere Antony

siehe Abb. 53 erweist sich Renoirals Meistervon Gruppenkompositionen, bei denenverschiedene Handlungszentren und unterschiedliche Pole der Aufmerksamkeitund Sammlung spannungsreich ineinandergefügt werden. Zu Rechthat man die Nähe dieserMalerei, die doch das Grup­

penporträt mit einerzeitgenössischenSzenekombiniert, zurGenre­

malerei betont. Die Gestalten, deren Namen wir durch Riviereken­

nen, sind dennochzu Typen verallgemeinert- undzwar sowohlzum jugendlichen Personaleinermodernen Idylle wie zu jener rätselhaften SozialtypologievonMenschen, denen esgerade darauf ankam,durch Mode und Habitus ihren sozialen Ursprung zu verbergen.90

Meier-Graefe betont1911 vor allemdie »pantheistische«

»Lebendigkeit des Ganzen«.Wenn er von dereigenwilligreliefartigen Modellierung vonLicht und Farbeausgeht,soschließt er1911 durchaus an den Tonfall der zeitgenössischen Kritik an. Wiederum analysiert er vitalistischdieEntsprechungenzwischen der Malweise und demDar­ gestellten. »Der Pinsel trifft die Leinwand wie die Sonne die unter den Bäumentanzende Menge.« Licht und Farbebestimmen den Rhythmus dieserMenge, in derjede einzelne Gestalt aufgeht. »Man muss sich

(25)

hineinsehen«, dabeisein.»Es ist dazu eine Art jenesguten Willens er­ forderlich, dessen man beim Eintrittin so einetanzende Gesellschaft bedarf. Man muss mitmachen,willmannicht in einerEcke Trübsal blasen. Esist ein kleiner Ruck erforderlich, um die Welt so, wie sie hiergesehen wird, zu sehen.«91 Bei dieser Darstellung geht die soziale Komponente, die Widersprüchlichkeit des Ambientesverloren.

Vielleicht war es Renoir selbst, der die Dingewieder zu­

rechtrückte. Vollard gegenüber bestander später darauf, dass er hier Stroh zuGold gesponnen hatte.Ihm ging es um dieUnbefangenheit, mit der jungeFrauen ihm Modellsaßen. Doch im Zusammenhang da­

mit erörtert er die Frage nachder Verbreitung derProstitution unter denKundinnendes Moulin de la Galette, als bestehe einZusammen­ hang zwischen derBereitschaft zumPosierenund zur Prostitution.

Renoir straftdurch seine Darstellung auch RiviereLügen, der doch daraufbestanden hatte, der Maler habe dieLeinwand durchweg im

»plein air« gestaltet. »Ich fandim Moulin de la GaletteMädchen ge­

nug, die zu mir zum Sitzenkommenwollten, wie die beiden im Vorder­

grund desBildes. Die einevon ihnenschrieb mir, um sich zur Sitzung anzumelden, auf goldgerändertem Papier.Und ich begegnete ihr oft dabei, wiesie Milchim Montmartre austrug. Ich erfuhreines Tages, dass ihrein Abonnent der Opereine kleineGar^onniere eingerichtet habe;nur hatte die Mutter die Bedingung daran geknüpft, dasssie ih­

ren Berufdarumnicht aufgebe. Ichhatte anfänglich Angst, dass die Liebhaber dieser Mädchen, die ich im Moulin de la Galette anwarb, ihre >Frauen< am Besuch in meinemAtelierhinderten. Aber auch sie waren gute Kerle; einigesogarunter ihnen saßen mir.Man darfnicht glauben, dass diese Mädchenfür den ersten besten zu haben waren.

Man fandzuweilen überraschendeTugendbei ihnen, obwohl sie von der Gasse kamen.«92Vollard lässt Renoir von seinerStellungzum und im Volk zwischen Kleinbürgertum und Prostitution,zwischenTugend und Verführung sprechen. Riviere schildert etwa gleichzeitig denOrt als von Arbeiterfamilien am Montmartre frequentiert, deren Töchter tanzten. Auch Prostituierte seien gekommen, doch nur zum Tanzen.93 Noch Kunsthistoriker unserer Zeit habenvordiesem Hintergrund Re­

noirsHauptwerk als nostalgische Erinnerungan dieUnterdrückung des Volkes von Paris durch die Niederschlagung der Kommune im Frühjahr1871gelesen.94

Näher führt unseine Zeichnung Renoirsan die Zwielichtig­

keit des Ambientes, die dieser 1877/78 alsIllustrationfür ZolasRoman Die Schnapsbuden schuf. Nana, später dieHauptfigur von Zolasvielleicht berühmtestem Roman, und ihre Freundinnenführenihren jugendli­ chen Charme auf der Straße spazieren Abb.13. Die Zeich­

nungentfaltetdie gleiche Mädchenblütewie dievon Jeanne und Estelle, doch wendensich die Mädchen nicht inelegischer Schönheit über dieBank dem un­

(26)

Michael F. Zimmermann

bekanntenJüngling, sondern invulgäraufreizendenGesten über den Rinnstein hinweg perplexen Arbeitern zu.95 Renoir demonstriert hier selbst, in welches MilieuhineinerseineIdylle konstruiert. Er konnte auch anders.Wir wissen nicht, ob erselbstdie fröhliche Gesellschaft im dMoulin dela Galetten als Glückstraum erträumt oder ober diesen Traum den Dargestellten und dem Betrachterzuschreibt.Das vielfach gebro­ chene Sonnenlicht, das Renoir mitseinem Pinsel über die Leinwand verteilte, steht dafür, dasserunsnicht einfach in den Traum vom Glück entrückt. Bevor die KritikerZugang zum Bild fanden,kommentierten sie die verfremdende Technik.Indem der Betrachter den Traummit­ träumt, soller ihn zugleich auchverstehen-als Erfüllung jenerWün­ sche, die in einem ganzund gar widersprüchlichen Milieuaufkamen.

Hinter dem irdischenParadies lässt uns Renoir stets auch das Elend spüren, denÜberlebenskampf, das Leben, aus dem seineprofanen Erlösungsszenariosbestehen.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Claude Monet beschloss, Maler zu werden, und setzte sich gegen seine Eltern durch, die verlangten, er solle einen soliden Beruf ergreifen.. Er begann im Alter von 20 Jahren in Paris

Pierre-Auguste Renoir lernte viele Künstler kennen, malte mit ihnen gemeinsam und nahm Einflüsse von ihnen an, auch von Frédéric Bazille, der sein Freund wurde.. Er besuchte

zur

„Wenn ich sage, ja ich kann nicht mehr leben oder SO kann ich nicht mehr leben, ob es dann dazu führen kann, dass ich sage, ja ich würde mich auch für einen assistierten

Die Rezeption generiert über die einfach zu bedie- nende intuitive secuENTRY HOTEL Software die Gastcodes.. Mit dem unkomplizierten Einbau des elektronischen Schließzylinders ist

Die Verkäufe im Detailhandel lagen von Frühjahr bis Ende Jahr 2020 insgesamt stets über dem Niveau des Vorjahres, wobei der Zuwachs sowohl bei den Ab- als auch den Umsätzen gegen

• Wenn das gerät mit 380 V arbeitet, passen sie auf das der Maschine pfeil richtung dreht.. Wenn es nicht pfeil richtung arbeitet müssen sie

Weitere Produkte rund um die Buffet-,Theken- und Tischausstattung finden Sie in unserem neuen Gesamtkatalog f.. Weitere Produkte rund um die Buffet-,Theken- und Tischausstattung