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Archiv "Psychiater im Nationalsozialismus: Herren über Leben und Tod" (09.09.2005)

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ber die rund 200 000 Opfer von Tö- tungsaktionen in der Psychiatrie des Nationalsozialismus und über rund 350 000 Opfer von Zwangssterilisie- rungen öffentlich zu sprechen ist noch immer nicht selbstverständlich. Auch der Fachwelt sind Gedenkstätten, Mahnmale und Buchpublikationen oft nicht präsent.

Der Deutsche Evangelische Kirchentag Hannover hat nun nach Jahren des Gedenkens an den Holocaust auch für die ermordeten psychisch Kranken und geistig Behinderten das Thema in das Bewusstsein der Kirche gerückt und breite Öffentlichkeit hergestellt. Unter dem Titel „Herr über Leben und Tod“

fand in der Ruine der Aegidienkirche in Hannover eine ernste und bewegende, liturgisch und musikalisch getragene Ge- denkstunde statt.*Kirchentagspräsident Prof. Dr. Dr. Eckhard Nagel betonte:

„Heute erinnern wir zum ersten Mal an die Opfer ei- ner medizinischen Verir- rung, einer Perversion der Psychiatrie . . .Alle Hybris des Menschen gegen den Menschen, alle Ignoranz der angeblichen Norma- lität gegen das Unbekann- te, alle Blindheit des Un- aufmerksamen wird in den Verbrechen deutlich.“

Das Landeskranken- haus Wunstorf diente durch seinen lokalen Be- zug als Beispiel. Prof. Dr.

Andreas Spengler berich- tete über Selektion und Abtransport von 370 Kranken, darunter 158 jü- dische Patienten aus ganz Norddeutschland, in Tötungsanstalten nach Brandenburg und Hadamar. Die Abläufe hatte Asmus Finzen (1) in einer erschreckenden bürokratischen Perfek- tion beschrieben. 1920 hatten Bin- ding/Hoche (2) propagiert, „Ballastexi- stenzen“ unter volkswirtschaftlichem Vorzeichen zur Vernichtung freizuge- ben. Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner, Ham- burg, wies darauf hin, dass „von der Zwangssterilisation nicht nur fast alle Mediziner, sondern auch Kirchen und Ausland begeistert waren . . . So machten die meisten Ärzte bei dem Euthanasie- programm – auch bei persönlichen Be- denken – mit, hielt doch selbst der welt- weit anerkannte Psychiater aus der Schweiz, Eugen Bleuler, damals Eu- thanasie für Unheilbare für denkbar.“

Bei der Euthanasie-Kommandozentrale in Berlin wirkten bekannte Univer- sitätspsychiater freiwillig mit.

Der todbringende Fanatismus der Psychiater sei weniger politisch begrün- det, als vielmehr im Glauben an die Wis- senschaft, an die Erlösung der Gesell- schaft von Leiden entstanden.Aus einem

Urteil über Lebensqualität erwuchs die Anmaßung eines Urteils über Leben und Tod. Dies führte zu der Forderung, ver- meintlich unheilbare Personen von un- terstelltem Leiden zu erlösen. Der NS- Staat organisierte systematische Vernich- tungsaktionen gegen seine psychisch kranken Bürger. Dörner: „Für die Zeit nach dem Krieg hatten die Professoren schon ein Sterbehilfegesetz in der Schub- lade, das jedem Menschen rechtsstaatlich sein Recht auf den Tod garantieren sollte – nicht unähnlich den heutigen Gesetzen in den Niederlanden oder in Belgien.“

Schüler einer zehnten Klasse des Wunstorfer Hölty-Gymnasiums fragten die Referenten nach dem Widerstand gegen die Tötungsaktionen. Dörner:

„Die wenigen, die nach unserem bishe- rigen Wissen nicht als Legendenbildung der jeweiligen Anstalt, sondern nach- prüfbar wirklich kompromisslose Wi- derständler waren, handelten vor allem aus zwei Beweggründen: Sie waren ent- weder fast fundamentalistisch religiös, am besten katholisch, oder sie waren im Umgang schwierige, bis zur Prinzipien- starre unbeugsame Persönlichkeiten.“

Spengler erwähnte den halbherzigen Widerstand der Bürokratie und seltene Fälle individueller Hilfe, bei der Men- schen rechtzeitig entlassen, versteckt oder von Transporten zurückgeholt worden sind.

Von der Veranstaltung blieben nicht nur Trauer und Gedenken, sondern die Botschaft, kein Urteil über lebensun- wertes Leben zuzulassen und Ärzten keine Befugnisse zur aktiven Tötung Kranker zu geben. Spengler stellte her- aus, dass es eine Sozialethik, die kollekti- ve Interessen über den Schutz Einzelner stellt, ebenso wenig geben dürfe wie eine ärztliche Berufsethik, die sich anmaßt, Menschen von Leiden aktiv zu erlösen und lebensunwertes Leben zu definieren – auch nicht unter dem Vorzeichen ver- meintlicher individueller Freiheit.

Literatur

1. Finzen A: Auf dem Dienstweg. Rehburg-Loccum:

Psychiatrie-Verlag 1984.

2. zu Binding/Hoche, 1920, vgl. Deutsches Ärzteblatt:

Medizingeschichte(n). Euthanasie „Ballastexistenzen“.

Heft 12/2005, A 833.

Antke Tammen

Niedersächsisches Landeskrankenhaus Wunstorf 31515 Wunstorf, www.nlkhwunstorf.niedersachsen.de T H E M E N D E R Z E I T

A

A2374 Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 369. September 2005

Psychiater im Nationalsozialismus

Herren über Leben und Tod

Gedenkstunde zur NS-Psychiatrie im Rahmen des Deutschen Evangelischen Kirchentages

*Prof.Andor Izsák (Chorleitung), Landessuperintendentin Dr. Ingrid Spieckermann (Liturgie), Margret Hamm (Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisier- ten), Dr. Katrin Grüber (Institut Mensch, Ethik und Wis- senschaft). Dokumentationen: www.nlkhwunstorf.nieder sachsen.de und Tagungsband des Kirchentages.

Gedenkstunde vor der Ruine der Aegidienkirche in Hannover

Foto:Andreas Spengler

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