Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 31–32⏐⏐3. August 2009 A1555
M E D I Z I N R E P O R T
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in entscheidender Aspekt der Pathogenese wie auch der Pro- gression des Typ-II-Diabetes stellt der Untergang der insulinproduzie- renden Betazellen des Pankreas dar.Es liegt damit nahe zu versuchen, die Krankheitsprogression durch eine Stammzelltherapie aufzuhalten oder sogar durch die Transplantation ent- sprechender Zellen eine Regenerati- on des Inselzellorgans zu induzie- ren. „Die Stammzelltherapie ist eine vielversprechende Option bei der Diabetestherapie. Allerdings ist das Verfahren noch längst nicht ausge- reift und darf keinesfalls unkritisch angewandt werden“, mahnte Prof.
Dr. med. Markus Tiedge (Institut für Medizinische Biochemie und Mole- kularbiologie der Universität Ros- tock) beim Deutschen Diabeteskon- gress in Leipzig.
Wie Tiedge darlegte, wird derzeit die Differenzierung von Betazellen aus Knochenmarkstammzellen, wie sie auch bei Lymphomen und Leuk- ämien transplantiert werden, unter anderem kommerziell beim Typ-II- Diabetes angeboten und findet damit Einzug in die klinische Anwendung – bei jedoch dürftiger wissenschaftli- cher Datenlage. Die Deutsche Diabe- tes-Gesellschaft (DDG) hat deshalb eine Arbeitsgruppe gebildet, der ne- ben Tiedge Prof. Dr. med. Jochen Seufert (Freiburg) und Prof. Dr. med.
Jochen Seißler (München) angehö- ren, welche die aktuelle Entwicklung beobachtet. Tiedge betonte in Leip- zig erneut, dass derzeit valide Da- ten zur Wirksamkeit und Sicherheit der Stammzelltherapie beim Diabe- tes mellitus nicht vorliegen: „Solan- ge dies der Fall ist, ist eine klinische Anwendung nicht zu vertreten.“
Bei der DDG aber gehen immer wieder Anfragen und auch Be- schwerden von Patienten ein, denen eine Stammzelltherapie angeboten wurde oder die entsprechend behan- delt wurden, ohne jedoch eine Hei- lung oder Besserung ihres Krank- heitsbildes erfahren zu haben. „Die Patienten haben den Berichten zu- folge in aller Regel für die Behand- lung rund 9 000 Euro aus eigener Tasche zahlen müssen“, so Tiedge.
Therapie ist nicht nach dem Arzneimittelgesetz zertifiziert
„Derzeit entwickelt sich eine Grau- zone, wobei den Patienten eine Behandlungsperspektive suggeriert wird, die nicht durch klinische Stu- dien validiert und nicht nach dem Arzneimittelgesetz zertifiziert ist“, heißt es dazu in einer Stellungnah- me der DDG. „Zudem werden hier- durch forschende Kliniken und In- stitute diskreditiert, die eine seriöse Forschung zur Stammzelltherapie des Diabetes mellitus durchführen.“
Die Fachgesellschaft betont, dass sich die Stammzelltherapie noch in einem experimentellen Stadium be- finde, wobei es derzeit vor allem darum gehe, die Mechanismen der Differenzierungsprozesse zu verste- hen und mögliche Risiken auszulo- ten. Die Anwendung von Stammzel- len am Menschen zur Behandlung des Diabetes sollte ausschließlich diabetologischen Zentren von Uni- versitätskliniken vorbehalten sein, die über eine ausreichende zellbio- logische Expertise verfügten.
Denn die Differenzierung von Be- tazellen aus Stammzellen ist laut Tiedge ein komplexer Vorgang, der eine genaue Kenntnis der Signalwege erfordert, um optimale Protokolle für den klinischen Einsatz entwickeln zu können. Dabei sei eine exakte zeit- liche Expression von Faktoren wie zum Beispiel Neurogenin 3, Pax-6 und Pdx-1 für eine gezielte Differen- zierung notwendig. Außerdem müsse durch geeignete Selektionsverfahren differenzierter Betazellen verhindert werden, dass auch indifferenzierte zelluläre Beiprodukte, die potenziell Tumoren im Empfänger ausbilden können, mittransplantiert werden.
Dass es sich hierbei nicht um ei- ne hypothetische, sondern um eine durchaus reale Gefahr handelt, wur- de nach Tiedge bei der Transplanta- tion neuronaler Stammzellen bei jugendlichen Patienten mit Ataxia teleangiectatica gesehen, bei denen sich nach dem Eingriff multiple Tu- moren entwickelten. „Das Beispiel verdeutlicht das Gefahrenpotenzial der Stammzelltransplantation, wenn diese mit nur unzureichender wis- senschaftlicher Datenbasis prakti- ziert wird“, mahnt der Rostocker Wissenschaftler.
Er warnte allerdings davor, die Stammzelltherapie beim Diabetes
„generell zu verdammen“. Wohl aber seien vor der Anwendung beim Men- schen die entsprechenden „Haus- aufgaben“ zu machen. Das bedeutet nach seiner Ansicht, dass die Bedin- gungen für eine gezielte Differenzie- rung der Stammzellen zu charakteri- sieren und die Sicherungsmechanis- men für die Zerstörung residualer pluripotenter Zellen zu entwickeln
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Christine Vetter
DIABETES MELLITUS
Stammzelltherapie darf nicht unkritisch angewendet werden
Noch fehlt der klinisch fundierte Nachweis dafür, dass Diabetiker durch aus Stammzellen differenzierten Betazellen erfolgreich behandelt werden konnten. Trotzdem findet das Verfahren klinische Anwendung – kommerzialisiert und auf Kosten der Patienten.
Foto:SPL/Agentur Focus
Hoffmungsträger Stammzelle:Die Entwicklung von zellbasierten und regenerativen The- rapien gehört zu den innovativsten Feldern der bio- medizinischen Forschung.