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Der Paritätische Gesamtverband

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Stellungnahme zum Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht (Geordnete-Rückkehr-Gesetz) des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat, Stand:

Referentenentwurf vom 11.04.2019

Allgemeine Einschätzung

Der vorliegende Referentenentwurf zielt darauf ab, die Zahl der ausreisepflichtigen Menschen, die Deutschland verlassen, zu steigern – und zwar insbesondere im We- ge von Abschiebungen. Zu diesem Zweck werden gravierende Verschärfungen im Bereich der Abschiebungshaft vorgenommen, eine neue Form der „Duldung für Per- sonen mit ungeklärter Identität“ geschaffen sowie Sanktionen für Personen einge- führt, die bei der Passbeschaffung bzw. Identitätsklärung in vermeintlich nicht ausrei- chendem Maße mitwirken. Auch wenn gewisse Verbesserungen gegenüber dem Vorentwurf zu diesem Gesetz zu erkennen sind, kann dies nicht darüber hinweg täu- schen, dass gerade im Zusammenspiel mit den weiteren aktuell verhandelten Geset- zesentwürfen im Bereich des Aufenthalts- und Asylrechts sowie den neu in diesen Gesetzesentwurf eingefügten umfangreichen Sanktionen im Rahmen des Asylbe- werberleistungsgesetzes eine massive Verschlechterung der Rechtssituation ausrei- sepflichtiger Menschen droht.

Der Verband lehnt Abschiebungen zwar nicht grundsätzlich ab. Diese dürfen jedoch stets nur das letzte Mittel sein. Aus verbandlicher Perspektive ist es zentral, dass alle geplanten Maßnahmen den Kriterien der Rechtsstaatlichkeit, des Grundgesetzes, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Genfer Flüchtlingskonvention entsprechen. Darüber hinaus müssen die Sicherheit und Würde in jedem Einzelfall gewahrt werden. Diesen Vorgaben wird der aktuelle Gesetzesentwurf keinesfalls ge- recht. Die geplanten Maßnahmen sind nicht nur in weiten Teilen unverhältnismäßig, sondern darüber hinaus auch gar nicht erforderlich. Denn eine differenzierte Analyse, die die Grundlage jeden gesetzgeberischen Handlungsbedarfs sein sollte, fehlt bis- lang.

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Ende 2018 lebten 236.000 vollziehbar Ausreisepflichtige in Deutschland, darunter fast 180.000 Geduldete. Aus der Tatsache, dass im Jahr 2018 rund 26.000 Abschie- bungen und 16.000 bundesgeförderte Rückreisen stattfanden, schließt das BMI, dass die überwiegende Zahl der vollziehbar Ausreisepflichtigen die Ausreisepflicht missachte. Demgegenüber ist zunächst festzustellen, dass Bund und Länder über keine verlässlichen Daten hinsichtlich der Frage verfügen, wie viele Ausreisepflichti- ge tatsächlich das Land verlassen haben. Nicht berücksichtigt sind in den oben ge- nannten Zahlen der Ausgereisten nämlich diejenigen, die Deutschland lediglich unter Inanspruchnahme von Fördermitteln der Länder oder gänzlich ohne Inanspruchnah- me von Förderprogrammen verlassen haben. Darüber hinaus befinden sich unter den abgelehnten, ausreisepflichtigen Asylbewerbern auch solche, in deren Her- kunftsländer derzeit aus gutem Grund keine oder nur in sehr beschränktem Umfang Abschiebungen stattfinden (z.B. Irak, Afghanistan) sowie Menschen, die aufgrund schwerer Krankheit oder familiärer Bindungen nicht abgeschoben werden können.

Die Aussage, die Mehrzahl der vollziehbar Ausreisepflichtigen missachte die Ausrei- sepflicht, ist daher nicht haltbar und taugt zur Begründung der vorgelegten Maßnah- men nicht.

Darüber hinaus besteht keinerlei Notwendigkeit, die anstehenden umfangreichen und besonders grundrechtsrelevanten Gesetzesänderungen mit ihren zahlreichen Wech- selwirkungen in einem derart beschleunigten Verfahren durchzuführen, als befände sich Deutschland im Notstandsmodus. Die Fehleranfälligkeit und in der Folge die Ge- fahr unbeabsichtigter Folgen dieser Gesetze ist hoch. Vor dem Hintergrund der er- neut vollkommen unzureichenden Frist für die Verbändebeteilung beschränken wir uns in der folgenden Stellungnahme auf einige – aus unserer Sicht besonders gra- vierende – Regelungen und behalten uns vor, diese im Rahmen des weiteren Ge- setzgebungsverfahren zu ergänzen.

Zu ausgewählten Regelungen im Einzelnen Artikel 1 Änderung des Aufenthaltgesetzes

§§ 53, 54 AufenthG-E: Ausweisung

Mit der geplanten Änderung werden die Fälle, in denen gemäß § 54 Abs. 1 und 2 AufenthG ein besonders schweres bzw. ein schweres Ausweisungsinteresse vorliegt, ausgeweitet. So soll u.a. ein schweres Ausweisungsinteresse bereits dann vorliegen, wenn bei bestimmten Straftatbeständen eine Verurteilung zu einer Jugend- oder Freiheitsstrafe von lediglich 6 Monaten (bisher 1 Jahr) erfolgt ist.

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Das Ausweisungsrecht wurde erst zum 1.1.2016 umfassend reformiert und einer neuen Systematik unterworfen. Im Gegensatz zu den vorherigen Regelungen be- steht dabei kein Ermessen der Verwaltung mehr, sondern ein „einheitliches System einer rechtlich gebunden Ausweisung, das vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geleitet wird.“1 Dabei wurden einerseits in § 54 AufenthG die (besonders) schweren Ausweisungsinteressen des Staates definiert und spiegelbildlich dazu im § 55 die (besonders) schweren Bleibeinteressen der Ausreisepflichtigen. Eine einseitig vor- genommene Erweiterung der (besonders) schweren Ausweisungsinteressen, ohne gleichzeitig auch die (besonders) schweren Bleibeinteressen auszuweiten, zerstört das mit der Einführung der neuen Regelungen beabsichtigte Gleichgewicht und so- mit die Verhältnismäßigkeit der Ausweisung. In der Folge wäre selbst bei vergleichs- weise geringen Strafen eine Resozialisierung trotz aller dahingehenden Bemühun- gen ausgeschlossen.

Die geplanten Änderungen würden darüber hinaus die Voraussetzungen, unter de- nen die Ausweisung von anerkannten Flüchtlingen, Asylberechtigten und subsidiär Geschützten möglich ist, herabsetzen. Im Hinblick auf anerkannte Flüchtlinge, Asyl- berechtigte und auch subsidiär Geschützte ist festzuhalten, dass eine Zurückweisung in den Herkunftsstaat auch in Folge einer Ausweisung wegen der dort drohenden Gefahren gemäß Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) bzw. Art. 3 der Eu- ropäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Die Folge einer Aus- weisung ist in diesen Fällen also nicht etwa die Aufenthaltsbeendigung, sondern nur die Erteilung einer Duldung mit den bekannten daran anknüpfenden Schwierigkeiten im Hinblick auf eine erfolgreiche Integration. Die Folgen wären sowohl für die Be- troffenen also auch die übrige Gesellschaft sicher nicht wünschenswert.

Die geplanten Regelungen sind somit abzulehnen.

§ 60 Abs. 7 AufenthG-E: Anforderungen an ärztliche Atteste

Die hohen Anforderungen an ein Attest, wie sie ihm Rahmen der Duldung aus ge- sundheitlichen Gründen (§ 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG) bereits gelten, sollen nun bei der Prüfung von Abschiebungsverboten entsprechende Anwendung finden.

Erkrankungen, die die Abschiebung beeinträchtigen können (sog. Abschiebungsver- bote), sollen damit nur noch durch eine näher definierte „qualifizierte ärztliche Be- scheinigung“ glaubhaft gemacht werden können. In der Folge wären Psychologische Psychotherapeut*innen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen von der Erstellung von Stellungnahmen im Asylverfahren ausgeschlossen, obwohl sie qualifi-

1 Siehe im Einzelnen Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2018, § 5, Rn. 518 ff.

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ziert und nach dem Psychotherapeutengesetz berechtigt sind, psychische Erkran- kungen zu diagnostizieren.

Der Paritätische Gesamtverband, zu dessen Mitgliedern zahlreiche Psychosoziale Zentren für die Versorgung traumatisierter Flüchtlinge gehören, kennt die Probleme, die die vergleichbare Regelung des § 60 a Abs. 2c AufenthG seit ihrem Inkrafttreten verursacht:

In der Praxis ist es für Menschen mit psychischen Erkrankungen ungeheuer schwer, einen Facharzt, in der Regel also einen Psychiater zu finden, der dazu bereit ist, in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit einen Termin zur Verfügung zu stellen und eine entsprechend qualifizierte Bescheinigung auszustellen. Der Grund dafür ist einerseits darin zu sehen, dass Psychiater*innen ihre Patient*innen in der Regel nur einmal im Quartal sehen, um über die Verschreibung von Medikamenten zu ent- scheiden. Umfangreichere Gespräche, wie sie im Rahmen einer Psychotherapie re- gelmäßig stattfinden und die für die hohen Anforderungen an die qualifizierte Be- scheinigung unerlässlich sind, sind dabei die Ausnahme. Dies liegt u.a. auch daran, dass die Fachärzte im Rahmen einer Fallpauschale vergütet werden und somit mehrmalige Termine genauso wenig erstattet bekommen wie die eigentliche Erstel- lung des Gutachtens. Psychologische Psychotherapeuten haben nicht nur den Vor- teil, dass sie qua ihrer Profession die Klienten regelmäßig sehen und alle wesentli- chen Informationen kennen, die sie für die qualifizierte Bescheinigung benötigen. Sie sind aufgrund ihrer täglichen Arbeit mit traumatisierten Geflüchteten auch Ex-

pert*innen in der Sache.

Für asylsuchende Geflüchtete hätte der Ausschluss von psychologischen Psychothe- rapeut*innen in der Praxis zur Folge, dass sie weitestgehend von den Möglichkeiten abgeschnitten wären, psychische Erkrankungen und deren Behandlungsbedarf im Rahmen des Asylverfahrens einbringen zu können. Dabei zählen Geflüchtete, die psychisch krank oder traumatisiert sind, zum Personenkreis der besonders Schutz- bedürftigen, die vor dem Hintergrund ihrer besonderen Bedarfe einen Anspruch auf besondere Verfahrensgarantien haben.

Aus diesem Grund sollte im Rahmen des § 60a Abs. 2c S. 2 und 3 AufenthG-E nach dem Wort „ärztliche“ jeweils die Wörter „oder psychotherapeutische“ eingefügt wer- den.

Im Übrigen verweisen wir hierzu auf die Gemeinsame Stellungnahme der Bundes- psychotherapeutenkammer (BPtK) und der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF):

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http://www.baff-zentren.org/stellungnahme-zum-geordnete-rueckkehr-gesetz/

§ 60b AufenthG-E: Duldung für Personen mit ungeklärter Identität

Mit dieser Norm soll eine neue Form der Duldung „für Personen mit ungeklärter Iden- tität“ eingeführt werden. Diese wird gemäß Absatz 1 erteilt, wenn die Abschiebung aus selbst zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden kann, weil das Abschie- bungshindernis durch eigene Täuschung über die Identität oder Staatsangehörigkeit oder durch eigene falsche Angaben herbeigeführt wurde oder zumutbare Handlun- gen zur Erfüllung der Passbeschaffungspflicht nicht vorgenommen werden.

Im Folgenden wird dann definiert, welche Handlungen zur Erfüllung der Passbe- schaffung regelmäßig zumutbar sind. Dazu gehört u.a. gemäß Absatz 3 Nummer 3 auch die Pflicht, gegenüber der Behörde des Herkunftsstaates zu erklären, freiwillig auszureisen, wenn dies Voraussetzung für die Passerteilung ist. Eine solche staatli- che Verpflichtung zur Abgabe einer unwahren Erklärung – in der Praxis ist dies etwa gegenüber Staaten wie etwa dem Iran oder Mali erforderlich – ist aus Sicht des Pari- tätischen Gesamtverbandes unzumutbar und stellt einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG dar. Und auch das Bundessozialgericht macht deutlich, dass nicht verlangt werden kann, eine so ge- nannte Freiwilligkeitserklärung gegenüber der Herkunftsbotschaft abzugeben, ob- wohl diese gerade nicht dem inneren Willen entspricht. Ein gegenteiliger Wille könne von der malischen Klägerin nicht verlangt werden, da der Wille als solcher staatlich nicht beeinflussbar sei. „Eine andere Frage ist, ob von dem Betroffenen trotz eines entgegenstehenden Willens bestimmte Handlungen abverlangt werden können. Der Zwang, dies auch zu wollen, entspräche einem dem Grundgesetz fremden totalitä- ren Staatsverständnis.“2

Da bislang noch keine Gesetzesbegründung vorliegt, lässt sich auch noch nicht ab- schließend einschätzen, ob durch die Neuregelung im Ergebnis tatsächlich eine Konkretisierung der Zumutbarkeit der Passbeschaffung erfolgt. In der aktuellen Bera- tungspraxis stellt die Frage der Passbeschaffung einen Schwerpunkt dar. Besonders problematisch ist, dass Betroffene immer wieder zu ihrer Herkunftsbotschaft ge- schickt werden, um einen Pass zu beantragen, obwohl diese schon mehrfach die Ausstellung verweigert hat.

Aber auch die Frage der Zumutbarkeit hoher Gebühren oder Kosten einer Reise zu weit entfernten Botschaften oder Konsulaten stellt in der Beratungspraxis ein großes

2 Bundessozialgericht, Urteil vom 30.10.2013 - B 7 AY 7/12 R, Rn 30.

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Problem dar, welches durch die Neuregelung voraussichtlich nicht gelöst wird. Prob- lematisch gestaltet sich die Kostenübernahme vor allem für diejenigen Personen, die Leistungen gemäß § 1a AsylbLG erhalten. Die Leistungseinschränkungen schließen eine Kostenübernahme nach § 6 AsylbLG aus. Insbesondere für den Personenkreis, der Leistungseinschränkungen aufgrund des Fehlens eines Passes hinnehmen muss, stellt sich das Problem, dass die Leistungseinschränkung nur beendet werden kann, wenn ein Pass vorliegt – ein Teufelskreis.

Integrationspolitisch besonders gravierend ist die in Absatz 5 geplante Regelung, wonach die Zeit, in der man im Besitz einer Duldung „für Personen mit ungeklärter Identität“ ist, nicht als sog. „Voraufenthaltszeit“ angerechnet wird. Darüber hinaus darf die Erwerbstätigkeit nicht gestattet werden und es ist eine Wohnsitzauflage im Sinne des § 61 Abs. 1 AufenthG zu verhängen. Im Ergebnis heißt dies insbesondere, dass die Erteilung einer sog. Bleiberechtsregelung, also einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25a oder b AufenthG sowie eines humanitären Aufenthalts nach § 25 Abs.

5 AufenthG massiv erschwert würde. Für die Ausbildung- und Beschäftigungsdul- dung gibt es zwar Übergangsvorschriften im § 105 AufenthG-E, im Ergebnis dürfte sich die Einführung dieser Sonderform der Duldung auch hier negativ auswirken.

Die Norm sollte deshalb ersatzlos gestrichen werden.

§ 62 Abs. 3 AufenthG-E: Abschiebungshaft in Form der Sicherungshaft

Die Voraussetzungen für die Anordnung einer Abschiebungshaft werden erneut her- abgesetzt. Insbesondere die „Fluchtgefahr“, welche gemäß § 62 Abs.3 eine wesentli- che Voraussetzung für die Verhängung von Abschiebungshaft ist, wird neu definiert.

Nach der bisherigen Regelung des § 62 Abs. 3 AufenthG ist ein Ausländer zur Siche- rung der Abschiebung auf richterliche Anordnung in Haft zu nehmen, „wenn im Ein- zelfall Gründe vorliegen, die auf den in § 2 Absatz 14 festgelegten Anhaltspunkten beruhen und deshalb der begründete Verdacht besteht, dass er sich der Abschie- bung durch Flucht entziehen will (Fluchtgefahr)“. Diese Regelung wird nunmehr ext- rem verkürzt: Geplant ist gemäß § 62 Abs. 3 AufenthGE, dass „ein Ausländer … in Haft zu nehmen ist, wenn Fluchtgefahr besteht“. Sodann werden in § 62 Abs. 3a AufenthG-E gleich 6 Regelbeispiele formuliert, bei deren Vorliegen eine Fluchtgefahr

„widerleglich vermutet“ wird. Hier erfolgt eine Beweislastumkehr mit dem Ergebnis, dass die Betroffenen selbst nachweisen müssen, dass eine Fluchtgefahr nicht vor- liegt. Wie ein solcher Nachweis erfolgen soll, dazu schweigt die Gesetzesbegrün- dung aber. Insbesondere der Nachweis einer negativen Tatsache ist aber besonders schwer und birgt in der Praxis die Gefahr, dass Haft zukünftig bei Vorliegen einer solchen gesetzlichen Vermutung nahezu automatisch verhängt wird.

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Ein Grund für eine solche widerlegliche Vermutung ist gemäß Abs. 3a Nr. 2 z.B. das unentschuldigte Nichterscheinen zu einer Anhörung bei einer konsularischen Vertre- tung oder ärztlichen Untersuchung zur Feststellung der Reisefähigkeit. Dieser Tatbe- stand wird laut der Gesetzesbegründung gleichgesetzt mit dem in der Vergangenheit existierenden Haftgrund des Nichtantreffens bei einem vorher angekündigten Ab- schiebungstermins. Die beiden Sachverhalte sind jedoch nicht miteinander ver- gleichbar: Denn den Betroffenen ist oft nicht bewusst ist, dass die angekündigten Maßnahmen bereits der konkreten Vorbereitung der Abschiebung dienen. Darüber hinaus wäre die Vorführung zu der geplanten Anhörung oder Untersuchung in jedem Fall ein adäquates milderes Mittel gegenüber der Sicherungshaft und somit der Ab- schiebungshaft vorzuziehen.

Darüber hinaus werden in § 62 Abs. 3b AufenthG-E weitere 7 Gründe definiert, die einen konkreten Anhaltspunkt für das Vorliegen einer Fluchtgefahr darstellen sollen.

Dazu gehören u.a. die Täuschung über die Identität in der Vergangenheit, das Auf- wenden erheblicher Geldbeträge für die unerlaubte Einreise, wobei diese nicht mehr nur für Schleuser, sondern auch für reguläre Verkehrsmittel aufgebracht worden sein können oder Verstöße gegen die Passbeschaffungs- und weitere Mitwirkungspflicht Insbesondere letzteres ist aus unserer Sicht besonders gefährlich: Aus unserer Bera- tungspraxis wissen wir, dass schon jetzt häufig zu Unrecht unterstellt wird, dass nicht hinreichend an der Klärung der Identität oder der Beschaffung von Reisedokumenten mitgewirkt wird, obwohl alle erforderlichen Mitwirkungshandlungen erfolgen, aber bei den Behörden der entsprechenden Herkunftsländern nicht oder erst nach langen Wartezeiten zu dem gewünschten Erfolg führen. Ob dieses Problem durch die Defini- tion der Zumutbarkeit im Rahmen des § 60b AufenthG-E zukünftig besser wird, bleibt abzuwarten.

Die Ausweitung der Gründe, die für eine Fluchtgefahr sprechen bei gleichzeitiger Umkehr der Beweislast zulasten der Ausreisepflichtigen droht in der Praxis zu zahl- reichen Verstößen gegen Art. 2 Abs. 2 GG zu führen. Die Freiheit der Person aber ist ein besonders hohes Rechtsgut, in das nur aus wichtigen Gründen eingegriffen wer- den darf. Dabei spielt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine besondere Rolle:

Haft darf stets nur das letzte Mittel, also „ultima ratio“ sein.

Die geplante Regelung droht die Möglichkeit zur Verhängung einer Abschiebungshaft unverhältnismäßig auszuweiten und sollte unterbleiben.

§ 62 Abs. 6 AufenthG-E: Mitwirkungshaft

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Mit dieser Norm soll eine neue Form der Haft eingeführt werden für den Fall, dass Ausreisepflichtige unentschuldigt zu einem Termin zur Vorsprache bei der Vertretung des Herkunftslandes nicht erschienen sind. Diese Termine dienen in erster Linie der Klärung der Identität der Betroffenen. Die bis zu 14-tägige Haft soll laut Gesetzesbe- gründung dazu dienen, die Abschiebung erst zu ermöglichen. Sie diene dazu, „Druck auf den Ausländer auszuüben mit dem Ziel, seine Kooperationsbereitschaft zu erhö- hen“. Auch hinsichtlich dieser neuen Form einer Beugehaft bestehen erhebliche Be- denken an ihrer Verhältnismäßigkeit. Insbesondere aus einem einmaligen Fernblei- ben von einem angeordneten Termin kann nicht schon geschlossen werden, dass er*sie sich dauerhaft dieser Maßnahme entziehen will. Darüber hinaus gibt es in der Regel mildere Mittel – wie etwa die Vorführung – die die Anordnung dieser Haft aus- schließen.

§ 62a AufenthG-E: Vorübergehende Aufhebung des Trennungsgebots zwi- schen Strafhaft und Abschiebungshaft (Artikel 1 und 6)

Die Abschiebungshaft soll bis zum 30.06.2022 auch in regulären Hafteinrichtungen möglich sein. Diese Aufhebung des in Art. 16 der europäischen Rückführungsrichtli- nie (RL 2008/115/EG) verankerten Trennungsverbots stellt einen klaren Verstoß ge- gen geltendes Europarecht dar. Dies hat der Europäische Gerichtshof auch bereits entschieden: Selbst die Unterbringung in einem gesonderten Gebäude auf dem Ge- lände einer gewöhnlichen Justizvollzugsanstalt kann nicht als spezielle Hafteinrich- tung im Sinne der Rückführungsrichtlinie gelten.3

Abschiebungshaft ist keine Strafhaft und dient auch nicht etwa der Bestrafung für eine Verletzung der Ausreisepflicht, sondern allein der Durchsetzung der letzteren.

Aus diesem Grund scheidet eine Unterbringung im Rahmen regulärer Strafanstalten, die naturgemäß eine Gefängnisumgebung mit entsprechenden Sicherheitsmaßnah- men und Auflagen im Hinblick auf Bewegungsfreiheit und Kommunikation mit sich bringen, aus. Dies sehen im Übrigen auch die Justizministerien fast aller Bundeslän- der ähnlich. Diese verweisen darüber hinaus auf die Tatsache, dass auch die regulä- ren Justizvollzugsanstalten bereits ausgelastet seien.

Deutschland befindet sich auch nicht etwa in einer „Notlage“, wie es der Gesetzes- begründung zu entnehmen ist, die eine Ausnahme vom Europarecht zulassen könn- te. Wie bereits oben aufgeführt, kann von der Zahl der Ausreisepflichtigen allein kei- nesfalls auf die Zahl der Personen geschlossen werden, bei denen eine Abschiebung auch tatsächlich durchgeführt werden könnte. Es besteht vielmehr bei einer Vielzahl

3 EuGH, C-473/13 und C 514/13, Urteil vom 17.07.2014.

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von Personen ein tatsächliches oder rechtliches Abschiebungshindernis, welches die Anordnung der Abschiebungshaft ausschließt. Darüber hinaus ist zu beachten, dass selbst in den Jahren, in denen in Deutschland fast keine Abschiebungshaft durchge- führt wurde, die Zahlen der Abschiebungen nicht relevant abgenommen haben.

Insbesondere aber kann Deutschland sich im Jahr 2019 nicht darauf berufen, dass eine „unvorhersehbare Überlastung der Kapazitäten der Hafteinrichtungen“ eingetre- ten ist, wie es Art. 18 der Rückführungsrichtlinie fordert. Denn spätestens seit dem Jahr 2015 ist absehbar gewesen, dass im Hinblick auf die Zunahme der Einreisen- den auch die Zahl der Ausreisepflichtigen steigen wird.

§ 97a AufenthG-E: Geheimhaltungspflichten

Die im vorgehenden Referentenentwurf geplanten Änderungen des § 95 AufenthG-E, die weitreichende Strafen für Berater*innen und Akteure der Zivilgesellschaft enthiel- ten, wurden gestrichen.

Stattdessen ist mit der geplanten Einführung eines § 97a AufenthG-E nunmehr be- absichtigt, insbesondere Amtsträger oder vergleichbare Personen, die Informationen zum konkreten Ablauf einer Abschiebung oder einer geplanten Vorsprache bei der Botschaft der Herkunftsstaates weitergeben, unter Strafe zu stellen. Indem diese In- formationen als „Dienstgeheimnisse“ im Sinne des § 353b Strafgesetzbuch (StGB) definiert werden, könnten z.B. Beamte einer Ausländerbehörde, die solche Informati- onen unbefugt an Dritte weitergeben, mit Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren bestraft werden.

Die im vorhergehenden Referentenentwurf angelegte Kriminalisierung von Bera- tungsstellen und NGOs ist jedoch auch im Rahmen des nunmehr vorgelegten Geset- zesentwurfs nicht vom Tisch. Vielmehr können sich auch Personen, die selbst nicht Amtsträger sind, der Beihilfe oder Anstiftung zur Verletzung eines Dienstgeheimnis- ses strafbar machen. Eine ausdrückliche Ausnahme von der Strafbarkeit der Beihilfe ist nämlich lediglich für Journalisten im Sinne des § 53 Abs. 1 Nr. 5 StPO vorgese- hen. Daraus folgt, dass für andere Personen – und damit ggf. auch Berater*innen und NGOs – eine Strafbarkeit nicht ausgeschlossen werden kann. Dies wird auch aus der Gesetzesbegründung deutlich.

Dies ist aber zwingend erforderlich, eine unabhängige, professionelle Beratung Aus- reisepflichtiger zu gewährleisten. Die Arbeit der betroffenen Beratung verdient Wert- schätzung und Rückendeckung – und sollte auch zukünftig ohne Angst vor straf-

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rechtlichen Sanktionen möglich sein. Die vorgesehenen Neuregelungen im § 97a AufenthG-E sollten daher gestrichen werden.

Artikel 5 Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes

Allgemeine Einschätzung

Das Ziel einer „besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“ soll neben ordnungs- rechtlichen Maßnahmen durch verschärfte sozialrechtliche Sanktionierungen und durch (vollständigen) Leistungsentzug bei bestimmten Personengruppen durchge- setzt werden.

Der Paritätische lehnt Kürzungen im Asylbewerberleistungsgesetz unterhalb der re- gulären Grund- oder Analogleistungen grundsätzlich ab, da es sich dabei um eine migrationspolitisch motivierte Relativierung des Menschenrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums handelt. Diese sind nicht mit der

Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu vereinbaren. Aus diesem Grund lehnt der Paritätische erst Recht die geplante Ausweitung der Sanktionierungen ab, die für bestimmte Gruppen nach den Plänen der Bundesregierung nun sogar zu ei- nem vollständigen Leistungsausschluss führen sollen.

Aus Sicht des Paritätischen widersprechen die Leistungskürzungen aus migrations- politischen Gründen einer Vielzahl höherrangiger Rechtsvorschriften und höchstge- richtlicher Rechtsprechung.

Sie sind nicht mit der Verfassung zu vereinbaren. Art. 1 GG i. V. m. Art. 20 GG garantieren nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungs- gerichts auch für ausländische Staatsangehörige, die sich in Deutschland auf- halten, die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums als Menschenrecht. Dieses Menschenrecht „ist migrationspolitisch nicht zu relati- vieren“. Das Bundesverfassungsgericht versteht dies als „einheitliches, das physische und soziokulturelle Minimum umfassendes Grundrecht“, welches „in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss“. Auch eine kurze Auf- enthaltsdauer oder Aufenthaltsperspektive in Deutschland rechtfertigt „nicht, den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzmini- mums auf die Sicherung der physischen Existenz zu beschränken.“ (BVerfG, Urteil vom 18.7.2012). Die vorgesehenen Leistungskürzungen widersprechen diesen Vorgaben eklatant.

Sie sind nicht mit der EU-Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU) zu verein- baren. Art. 20 Abs. 5 AufnRL verpflichtet den Mitgliedsstaat im Falle einer So- zialleistungskürzung, dass er diese „jeweils für den Einzelfall, objektiv und un- parteiisch [trifft] und begründet. Die Entscheidungen sind aufgrund der beson-

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deren Situation der betreffenden Personen, [...] unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu treffen.“ Die Sanktionsnormen des AsylbLG lassen jedoch keinen Raum für Einzelfallentscheidungen unter Berücksichti- gung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, sondern haben den Charakter ei- nes Automatismus – es besteht kein Ermessen. Zudem ist es nach der ge- setzlichen Systematik nicht möglich, über die Bedarfe für Ernährung, Unter- kunft, Heizung, Gesundheitspflege und in Ausnahmefällen für Kleidung und Hausrat hinaus, zusätzliche Leistungen zu erbringen. Damit sind etwa die Leistungen nach § 6 AsylbLG sowie Leistungen des Bildungs- und Teilhabe- pakets sowie sämtliche Bedarfe für das soziokulturelle Existenzminimum ka- tegorisch ausgeschlossen. Damit ist es nach der Gesetzessystematik nicht möglich, die besondere Situation besonders Schutzberechtigter Personen zu berücksichtigen. Dies widerspricht Art. 20 und Art. 21 EU-AufnRL.

Sie sind nicht mit der UN-Kinderrechtskonvention zu vereinbaren. Eine Leistungskürzung für Minderjährige widerspricht der UN-

Kinderrechtskonvention (insbesondere Art. 3, 23, 24, 27, 31), die unter ande- rem die vorranginge Berücksichtigung des Kindeswohls, die Förderung behin- derter Kinder, das Höchstmaß an Gesundheit, auf angemessene Lebensbe- dingungen und die Beteiligung am kulturellen Leben vorschreibt.

Insgesamt ist festzustellen, dass eine Vielzahl der im AsylbLG vorgesehenen Leis- tungskürzungen nicht durch eine individuelle Verhaltensänderung beeinflusst werden können. Sanktioniert wird vielmehr die bloße Anwesenheit im Bundesgebiet. Somit besteht für die Betroffenen keinerlei Möglichkeit, durch die Korrektur eines „Fehlver- haltens“ wieder in den Genuss ungekürzter Leistungen gelangen zu können. Dies widerspricht auch der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 12.5.2017 – B 7 AY 1/16 R).

In sämtlichen Fällen einer Leistungskürzung fehlt die Klarstellung, dass Kinder nicht in Mithaftung für ein „Fehlverhalten“ der Eltern genommen werden dürfen – die Leis- tungskürzungen oder -ausschlüsse mithin für Kinder nicht anwendbar sind. Die bis- herige Praxis zeigt das Gegenteil.

Die Folge ist eine dauerhafte Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzmini- mums für eine ganze Bevölkerungsgruppe. Der Paritätische lehnt eine solche In- strumentalisierung des Sozialrechts für ausländerrechtliche Zwecke ab. Das Grund- recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums darf nicht zu einem Instrument des Ausländerrechts werden.

Auch die geplante Verlängerung der Voraufenthaltszeit für die Analogleistungen nach

§ 2 AsylbLG von 15 auf 18 Monate lehnt der Paritätische aus integrations- und ver- fassungsrechtlichen Gründen ab.

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Zu einigen Regelungen im Einzelnen

§ 1 Abs. 4 AsylbLG:

Vorgesehen ist ein vollständiger Leistungsausschluss für vollziehbar ausreisepflichti- ge Personen, die einen internationalen Schutzstatus in einem anderen EU-Staat ha- ben. Dieser Personenkreis soll nur noch einen Anspruch auf zweiwöchige „Überbrü- ckungsleistungen“ im Umfang von § 1a AsylbLG haben. Nur im Falle besonderer Umstände und zur Überwindung einer besonderen Härte müssen auch weitere Leis- tungen nach §§ 3, 4 und 6 AsylbLG erbracht werden, zur Überwindung einer beson- deren Härte und zur Deckung einer befristeten Bedarfslage auch länger als zwei Wochen. Diese Regelung entspricht weitgehend wortgleich den Regelungen für be- stimmte Gruppen von Unionsbürger*innen in § 7 SGB II und § 23 SGB XII.

Mit der geplanten Regelung wird erstmalig ein vollständiger Sozialleistungsaus- schluss für eine bestimmte Flüchtlingsgruppe eingeführt. Durch eine Verhaltensände- rung ist es für die Betroffenen nicht möglich, wieder in den Genuss existenzsichern- der Leistungen zu gelangen. Auch Kinder und besonders schutzbedürftige Personen wären von diesem vollständigen Sozialleistungsausschluss betroffen. Die Regelung lässt sich mit einiger Berechtigung als ein gesetzlich normiertes „Aushungern“ be- zeichnen.

Da zu erwarten ist, dass ein erheblicher Teil der Betroffenen trotz des Sozialleis- tungsausschlusses nicht ausreisen wird – was angesichts der teilweise menschen- unwürdigen Zustände beispielsweise in Bulgarien, Griechenland oder Italien kein Wunder ist – wird diese Regelung zu Verelendung, Obdachlosigkeit, Schutzlosigkeit und Ausbeutbarkeit führen.

Der Paritätische lehnt diese Änderung ab.

§ 1a Abs. 1 AsylbLG

Der bisherige Absatz 2 wird Absatz 1 und regelt künftig den Umfang der Leistungen im Falle einer Leistungskürzung für alle Fallkonstellationen. Wir bisher dürfen im Fal- le einer Leistungskürzung nur noch Leistungen für Ernährung, Unterkunft, Heizung, Körperpflege und Gesundheitspflege erbracht werden. In besonderen Ausnahmefäl- len sind zusätzlich nur Leistungen für Kleidung und Hausrat zu erbringen. Sämtliche anderen Leistungen sind hingegen kategorisch ausgeschlossen: Dies betrifft unter anderen die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets für Kinder, die Behand- lung chronischer Erkrankungen, sämtliche Bedarfe für das soziokulturelle Existenz- minimum sowie die Bedarfe nach § 6 AsylbLG, die zur Deckung besonderer Bedürf- nisse für Kinder „geboten“ oder zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Ge- sundheit „unerlässlich“ sind.

Schon aus logischen Gründen ist es in keiner Form nachvollziehbar, dass eine „uner- lässliche“ Leistung dennoch ausgeschlossen sein soll. Auch die Ausschlüsse der für Kinder „gebotenen“ Leistungen sind vor dem Hintergrund des Kindeswohls in keiner

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Form nachzuvollziehen. Es liegt auf der Hand, dass diese Regelung mit den Vorga- ben des Bundesverfassungsgerichts nicht vereinbar ist.

Die so genannte „Härtefallregelung“ des § 1a umfasst somit lediglich Leistungen für Kleidung und Hausrat und ist somit im Vergleich zur „Härtefallregelung“ aus § 1 Abs.

4 AsylbLG drastisch eingeschränkt. Es ist unter keinen Umständen möglich, das menschenwürdige Existenzminimum zu decken oder besondere Bedarfslagen zu berücksichtigen. Auch durch eine Verhaltensänderung ist diese Leistungseinschrän- kung nicht zu korrigieren.

Der Paritätische lehnt diese Regelung daher ab.

§ 1a Abs. 2 AsylbLG

Der bisherige Absatz 1 wird Abs. 2. Danach unterliegen Personen mit einer Duldung oder vollziehbar Ausreisepflichtige und ihre Familienangehörigen einer Leistungskür- zung, wenn sie nach Deutschland eingereist sind, um Leistungen nach dem AsylbLG zu erhalten. Anders als bisher sollen sie nicht mehr das „unabweisbar Gebotene“

erhalten, sondern nur noch die festgelegten Leistungen nach dem neuen § 1a Abs.

1. Somit wird in Zukunft auch für diese Personen keine rechtlich vorgesehene Mög- lichkeit mehr bestehen, eine besondere Bedarfslage zu berücksichtigen, alle Leis- tungen über das rein physische Existenzminimum hinaus sind kategorisch ausge- schlossen.

Besonders gravierend ist dies, da das Motiv der Einreise rückwirkend nicht korrigier- bar oder veränderbar ist. Somit unterliegen auch Personen einer Leistungskürzung, die zwischenzeitlich unter Umständen ein (unverschuldetes) Abschiebungs- bzw.

Ausreisehindernis geltend machen können. Sozialrechtlich sanktioniert wird ein Ver- halten in der Vergangenheit, unabhängig davon, ob dies noch (rechtliche) Auswir- kungen auf die Gegenwart hat.

Der Paritätische lehnt diese Regelung daher ab.

§ 1a Abs. 3 AsylbLG

Der Absatz regelt eine Leistungskürzung für Personen mit Duldung oder vollziehbar Ausreisepflichtige die die Unmöglichkeit ihrer Abschiebung selbst zu vertreten haben und hatte materiell auch bisher schon Gültigkeit. Eine Änderung erfolgt für die Fami- lienangehörigen dieser Personen: Auch für sie soll eine Leistungskürzung greifen.

Nach dem Wortlaut würde somit eine sozialrechtliche „Sippenhaftung“ vorgesehen:

Auch Kinder und andere Familienangehörige unterliegen künftig einer Leistungskür- zung, obwohl sie selbst kein individuell vorwerfbares „Fehlverhalten“ zu vertreten ha- ben. Dies widerspricht offenkundig der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, das bereits klargestellt hat, dass eine Sanktionierung „bei verfassungskonformer Auslegung des § 1a AsylbLG nicht auf ein Fehlverhalten der Eltern gestützt werden dürfe“ (BSG, Vergleich vom 28. Mai 2015; B 7 AY 1/14 R).

Der Paritätische lehnt diese Regelung daher ab.

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§ 1a Abs. 4 AsylbLG

In § 1a Abs. 4 AsylbLG wird geregelt, dass Personen, die eine Aufenthaltsgestattung besitzen oder ein Asylgesuch geäußert haben, sanktioniert werden, wenn sie in ei- nem anderen EU-Staat entweder über einen Schutzstatus oder über ein anderes Aufenthaltsrecht verfügen.

Diese Sanktionierung während eines laufenden Asylverfahrens ist nicht von der EU- Aufnahmerichtlinie gedeckt, die in ihrem Art. 20 eine abschließende Auflistung von Sanktionstatbeständen aufführt. Der bestehende Schutz- oder Aufenthaltsstatus in einem anderen EU-Staat gehört nicht dazu.

Zudem ist es verfassungsrechtlich bedenklich, die Inanspruchnahme eines Grund- rechts (nämlich die Stellung eines Asylantrags in Deutschland) zu sanktionieren, oh- ne dass ein individuelles Fehlverhalten vorliegen würde – zumal es keineswegs aus- geschlossen ist, dass der Asylantrag zumindest zu einem Abschiebungsverbot be- züglich des anderen EU-Staats führen kann. In Fällen, in denen anerkannten

Schutzberechtigten in dem anderen EU-Staat extreme materielle Not drohen würde und somit noch nicht einmal die elementarsten Bedürfnisse befriedigt werden, „wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zu- stand der Verelendung versetzte“ (EuGH, C-297/17, C-318/17, C-319/17 und

C-438/17), darf der Asylantrag in Deutschland nicht als unzulässig abgelehnt werden und es müsste sogar ein internationaler Schutzstatus in Deutschland zuerkannt wer- den.

Diese Fragen berücksichtigt eine kategorische Leistungskürzung allein aufgrund des bestehenden Schutzstatus in dem anderen EU-Staat nicht.

Der Paritätische lehnt diese Reglung daher ab.

§ 1a Abs. 5 AsylbLG

Es werden für Personen mit Aufenthaltsgestattung (bzw. nach Stellung eines Asylge- suchs oder Folgeantrags) weitere Tatbestände eingeführt, die zu einer Leistungskür- zung während des Asylverfahrens führen sollen.

Leistungskürzungen sind in folgenden Fällen vorgesehen:

 Keine unverzügliche Asylantragstellung

 Nichtvorlage und Überlassen des (vorhandenen) Passes oder Passersatzes

 Wenn das BAMF „festgestellt hat“, dass nicht alle erforderlichen Urkunden und sonstigen Unterlagen, die in seinem Besitz sind, den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten den Behörden vorgelegt und überlassen werden

 Wenn das BAMF „festgestellt hat“, dass im Falle des Nichtbesitzes eines gül- tigen Passes oder Passersatzes nicht an der Beschaffung eines Identitätspa- piers mitgewirkt wird und auf Verlangen nicht alle Datenträger, die für die

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Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit von Bedeutung sein können und in deren Besitz er ist, vorgelegt, ausgehändigt und überlassen werden.

 Wenn die vorgeschriebenen erkennungsdienstlichen Maßnahmen nicht ge- duldet werden

 Verweigerung der Angaben über Identität oder Staatsangehörigkeit

 Nichtwahrnehmung des Anhörungstermins beim BAMF

Die Aufnahmerichtlinie sieht in Art. 20 eine abschließende Auflistung möglicher Sanktionstatbestände vor. Diese sind nach der Richtlinie in begründeten Ausnahme- fällen dann möglich, wenn eine Person• eine Residenzpflicht-Auflage verletzt (diese Möglichkeit wird umgesetzt in § 11 AsylbLG), oder ihren Melde- und Auskunftspflich- ten oder Aufforderungen zu persönlichen Anhörungen im Rahmen des Asylverfah- rens nicht nachkommt oder einen Folgeantrag stellt. Es dürfte zweifelhaft sein, ob von dieser Ermächtigung auch § 1a Abs. 5 Nr. 2 AsylbLG (Pflicht zur Vorlage und Aushändigung des Passes) sowie Abs. 5 Nr. 3 AsylbLG (Pflicht zur Vorlage und Aushändigung sonstiger Unterlagen zur Identitätsklärung) erfasst sind. Zudem stellt sich die Frage, welche Handlungen zur Beschaffung eines Identitätspapiers zumut- bar sein könnten, da während eines Asylverfahrens eine Passbeschaffung nicht ver- langt werden darf.

§ 1a Abs. 6 AsylbLG

Sämtliche Leistungsberechtigten sollen einer Sanktion unterliegen, wenn sie vorsätz- lich oder grob fahrlässig nicht von einem Freibetrag geschütztes Vermögen verbrau- chen oder nicht unverzüglich mitteilen und deshalb zu Unrecht Leistungen beziehen.

Das deutsche Sozialrecht kennt in anderen Leistungssystemen nicht eine Bestrafung wegen Verletzung derartiger Mitwirkungspflichten durch Leistungskürzungen. Viel- mehr wird in anderen Leistungssystemen wie dem SGBG II oder XII darauf mit einer

„Ersatzhaftung“ reagiert – das heißt, die Betroffenen müssen die erbrachten Leistun- gen erstatten. Daneben besteht unabhängig davon die Möglichkeit eines Strafverfah- rens.

Der Entzug existenzsichernder Sozialleistungen, der für mindestens sechs Monate verhängt wird, ist in diesem Fall kein angemessenes Mittel.

§ 1a Abs. 7 AsylbLG

Personen mit Aufenthaltsgestattung oder vollziehbar Ausreisepflichtige ohne Dul- dung sollen einer Leistungskürzung unterliegen, wenn das BAMF eine Unzulässig-

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keitsentscheidung aufgrund der Dublin-III-Verordnung getroffen hat, auch wenn diese Entscheidung noch nicht unanfechtbar ist.

Nach dem Wortlaut sollen die Leistungskürzungen dann greifen, wenn „das BAMF“

eine Unzulässigkeitsentscheidung getroffen hat. Selbst wenn daraufhin das Verwal- tungsgericht eine positive Eilentscheidung trifft und dadurch die aufschiebende Wir- kung der Klage gegen die Unzulässigkeitsentscheidung wieder hergestellt worden ist, soll die Leistungskürzung weiter greifen. Dies ist nicht akzeptabel, zumal in einer Vielzahl von Fällen die Verwaltungsgerichte eine Überstellung im Eilverfahre aus gu- ten Gründen untersagen: Diese Quote positiver Eilentscheidungen betrug 2018 etwa in Bezug auf Bulgarien in 62,5% aller entschiedenen Fälle (Griechenland: 42,6%, Rumänien: 28,2%, Italien: 27,9%). In Zukunft sollen trotz einer gerichtlichen Untersa- gung einer Überstellung die Betroffenen einer Leistungskürzung unterliegen. Das ist nicht nachvollziehbar.

Der Paritätische lehnt diese Regelung daher ab.

§ 2 Abs. 1 AsylbLG

Die Vorbezugszeit für die Analogleistungen soll von 15 auf 18 Monate verlängert werden. Die Bundesregierung begründet dies damit, dass in Zukunft in der Regel auch eine 18monatige Unterbringung in Landeseinrichtungen vorgesehen sei und sich die Regelung des § 2 AsylbLG daran orientieren solle. Laut Gesetzesbegrün- dung werde „während dieser Zeit das physische Existenzminimum der Leistungsbe- rechtigten zwingend durch Sachleistungen gedeckt. Die Integrationsmöglichkeiten sind eingeschränkt. Die Perspektive auf einen Daueraufenthalt ist noch nicht gege- ben.“

Diese Begründung ist nicht ansatzweise nachvollziehbar: Denn zum einen soll die Regelaufenthaltszeit in Landeseinrichtungen für Familien mit minderjährigen Kindern auf sechs Monate begrenzt werden. Insofern müssten entsprechend dieser Begrün- dung für Minderjährige und ihre Familienangehörigen die Voraufenthaltszeit für Ana- logleistungen ebenfalls auf sechs Monate begrenzt werden. Zum anderen gesteht die Bundesregierung bestimmten Personenkreisen ausdrücklich auch bereits während des Asylverfahrens eine „gute Bleibeperspektive“ zu und gewährt bewusst bereits frühzeitigen Zugang zu Integrationsleistungen (Integrationskurs, Arbeitsmarktförde- rung usw.). Es erschließt sich logisch nicht, wie die Bundesregierung bei ein und demselben Personenkreis einerseits von einer „guten Bleibeperspektive“ ausgeht (und daher Integrationsangebote frühzeitig öffnet) und andererseits davon ausgeht, dass die „Perspektive für einen Daueraufenthalt noch nicht gegeben“ sei (und daher den Zugang zu den Analogleistungen über einen längeren Zeitraum verwehrt).

Nachvollziehbar wäre es vielmehr, die Voraufenthaltszeit für die Analogleistungen an die durchschnittliche Dauer der Asylverfahren zu koppeln, die zuletzt etwa sechs Monaten bis zur BAMF-Entscheidung dauerten.

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Nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts darf wegen eines nur „kurzfris- tigen Aufenthalts“ für einzelne Personengruppen der existenznotwendige Bedarf nur dann niedriger festgelegt werden als im regulären Leistungsbezug, wenn

 „deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürfti- ger signifikant abweicht und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden kann“ und

 sicher gestellt ist, „dass die gesetzliche Umschreibung dieser Gruppe hinrei- chend zuverlässig tatsächlich nur diejenigen erfasst, die sich regelmäßig nur kurzfristig in Deutschland aufhalten. Dies lässt sich zu Beginn des Aufenthalts nur anhand einer Prognose beurteilen.“ (BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10).

Beide Voraussetzungen sind bei der Erhöhung der Voraufenthaltszeit von 15 auf 18 Monate nicht erfüllt: Zum einen hat die Bundesregierung gerade nicht in einem transparenten und nachvollziehbaren Verfahren nachgewiesen, warum innerhalb der ersten 18 Monate (übrigens ebenso wenig wie innerhalb der ersten 15 Monate) des Aufenthalts tatsächlich ein geringerer Bedarf bestehen sollte.

Zum anderen betrifft die Verlängerung der Voraufenthaltsdauer (und damit die Ver- längerung des Bezugs nur eingeschränkter Leistungen nach § 3 AsylbLG) sämtliche Leistungsberechtigten – auch wenn bereits (sogar nach der Logik der Bundesregie- rung) von Beginn an feststeht, dass mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine positive Asylentscheidung angenommen werden kann.

Der Paritätische lehnt diese Regelung daher ab.

Berlin, 15.02.2019

Ansprechpartner: Harald Löhlein/ Kerstin Becker Abteilung Migration und Internationale Kooperation Kontakt: Kerstin Becker (asyl@paritaet.org)

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