Rudolf Roth.
Vortrag, gehalten in der Sitzung der Gesellschaft von B. DelbrUck.
M. H. ! Der ausgezeichnete Gelehrte, zu dessen Gedäehtniss ich
einige Worte vor Ihnen reden möchte, stammte aus einer alten schwä¬
bischen Pamilie, die eine grosse Reihe von Beamten und unter
ihnen namentlich Theologen tmd Schulmänner geliefert hat. Ein
durchgehender Familienzug ist leicbt erkennbar. Ein Oheim Rotb's,
der uns als Beispiel dienen mag, wird uns geschildert als arbeitsam, pflichttreu, streng in seinem Urtheil, unnachsichtig gegenüber seinen Scbülern, unnachgiebig wo er sich in seinem Rechte glaubte, während
die weicheren Züge nur im Familienverkehr sparsam hervortraten.
Als ein echter Sohn dieses mannhaften Geschlechtes wurde Waither
Rudolf Roth am 3. April 1821 in Stuttgart geboren, wo sein
Vater Oberrevisor war. Er besuchte das Gymnasium in Stuttgart
und das niedere Seminar in Urach und bezog mit 17 Jahren die
Landesuniversität , wo er auf dem Stift Theologie studirte. Er
genoss die vielseitige nicht blos theologische , sondern auch philo¬
sophische und historische Bildung, wie sie auf diesem Institut üblich
ist und bestand im Jahre 1842 das theologische Dienstexamen.
Die für sein Leben wichtigste Anregung empfing er von Ewald,
bei dem er ausser theologischen Vorlesungen vier Curse im Sanskril;
(den ersten in seinem siebenten Semester) und zwei Curse Persisch
hörte. Eine Abneigung gegen die Theologie scheint bei dem
Wechsel seiner Studienrichtung nicht im Spiele gewesen zu sein,
wie er denn später als Privatdocent aueh noch Vorlesungen über
Dogmatik und Liturgik des alten Testaments oder Erklärmig eines
Propheten gehalten hat. Nachdem er sich an der Hand der
Tübinger Handschriften tiefer in das Sanskrit eingearbeitet hatte,
brachte er zwei Jahre überwiegend in Paris und London zu, in
Paris im Verkehr mit Bumouf, Julius Mohl und Andern, in London,
wo er hauptsächlich dureh Wilson gefördert wurde, völlig versenkt
in die Dm-charbeitung der Handschriftenschätze des East India-
House. Die erste Frucht dieser Studien ist seine Schrift: „Zur
Litteratur und Geschichte des Weda" Stuttgart 1846.
Delbrüclc, Rudolf Roth. 551
Da an dieser Stelle Roth's Arbeiten in den grossen Strom der
wissenschaftlichen Entwicklung einmünden, so wird es richtig sein
wenn ich Sie, meine Herren, daran erinnere, wie es im Anfang der
vierziger Jahre um das Studium des Veda bestellt war, mit dem
Rotb's Name seitdem dauernd verbunden geblieben ist. Der erste,
der uns Europäer über den Veda genauer unterrichtet hat, ist
Colebrooke. Es geschah unter Benutzung selbstgesammelter Hand¬
schriften in dem berühmten Aufsatz: ,0n the Veda or saered
writings of the Hindoos" in den , Asiatic Researches" vol. 8,
pp. 369—476, Calcutta 1805. Da der Verfasser die Aufgabe hatte,
über einen grossen Complex von Schriften zum ersten Mal zu
orientiren, so äusserte er sich natürlich zunächst über die Theile
und Schulen des Veda und gab Auskunft über gewisse Aeusserlich¬
keiten der üeberlieferung, wie z. B. die verschiedenen Schreibungen desselben Textes, die zwei einander durchkreuzenden Eintheilungen
des Rigveda und Aehnliches. Indem er dabei nach indischer Weise
von den Sängern der Hymnen und den Gottheiten derselben redet,
äussert er sich über die letzteren wie folgt : „ Es mag hier genügen,
zu bemerken, dass Indra oder das Firmament, das Feuer, die Sonne,
der Mond, das Wasser, die Luft, die Geister, die Atmosphäre, die
Erde die hauptsächlichsten Gegenstände der Verehrung sind". Von
Textproben erhalten wir wenig und nm- solche, die vom indischen
Standpunkt aus besonders wichtig erscheinen mussten , nämlich
zunächst die berühmte Gäyatri, dureh welche ungezählte indische
Knaben in das Studium des Veda und die Plage der Schule ein¬
geführt worden sind, und sodann einige Hymnen speculativen Inhalts.
Slit den Worten: „Ein anderer Theil, welcher, wie es scheint, zu
demselben Veda gehört, wird Aitareya-Brähmana genannt" beginnt eine etwas einlässlichere Beschreibung dieses liturgischen Werkes,
auf die eine Auskunft über das Aitareya-Äranyaka folgt. Wie man
sieht stehen für Colebrooke die Hymnensammlungen, die liturgischen
und theologischen Werke, die nach indischer Auffassung zum Veda
gehören, ungefähr auf der gleichen geschichtliehen Ebene. Colebrooke's
Gesammturtheil über den Veda lautet: „Die Vedas sind zu imi-
fänglieh für eine vollständige üebersetzung des Ganzen und was
sie enthalten , würde schwerlich die Arbeit des Lesers und noch
weniger die des üehersetzers lohnen. Der alte Dialect, in welehem
sie abgefasst sind, ist äusserst schwierig und dunkel, und obgleich er merkwürdig ist als Vorläufer einer glätteren und feineren Sprache, nämlich des classischen Sanskrit, so werden seine Schwierigkeiten
doch noch lange eine solche Durchforschung des ganzen Veda ver¬
hindern , wie sie nöthig sein würde , um all Dasjenige heraus¬
zuziehen , was in diesen umfänglichen Werken merkwürdig und
wichtig ist. Dagegen verdienen die Vedas wohl, gelegentlich von
Orientalisten befragt zu werden". Dieses ürtbeil aus dem Munde
eines Kenners von allererstem Range war nicht eben ermuthigend,
und in der That hat sieh auch die Sanskritforschung etwa ein
Menschenalter hindurch anderen Aufgaben als dem Studium des
Veda zugewendet. So kommt es, dass ich als nächstes Buch eines
zu erwähnen habe, welches aus dem Jahre 1838 stammt. Unser
Landsmann Priedrich Rosen , Professor in London , ein Orientalist
von weitestem Horizont, hatte den kühnen Plan gefasst, den Rig¬
veda mit lateinischer Uebersetzung und Anmerkungen herauszugeben,
aber das Werk brach mit dem vielbeklagten Tode des Mannes jäh
ab, so dass nur ein Torso übrig ist. Er enthält 121 Hymnen Text
und Uebersetzung , die letztere meist nach dem Commentar des
Säyana, von dem in den Anmerkungen vielfältig Proben gegeben
werden. Es ist für uns belehrend zu sehen, wie in diesem Werke
ein neues Wissen sich unter Straucheln und Wiederaufstehen lang¬
sam gestaltet. Nicht Weniges hat er zuerst gesehen , namentlich
auch auf dem Gebiete der Vergleichung. So ist er z. B. der Erste
gewesen , der bei Gelegenheit der Geschichte von den Kühen der
Panis auf die vergleichbaren Mythen von Cacus und Evander auf¬
merksam machte. Ein Index verborum kam aus seinem Nachlass in
Lassens Hände , aber die beabsichtigte Veröffentlichung ist unter¬
blieben. Das dritte Werk ist Roths ebengenannte Erstlingsarbeit.
Sie verlangt und verträgt eine Vergleichung mit der berühmten
Arbeit von Colebrooke, aber wie verschieden ist die Stimmung und
die Absicht der beiden Verfasser! Während der ältere Meister
dem zu erwartenden Gewinn , wie wir sahen , ziemlich resignirt
gegenübersteht, verspricht dem jüngeren das Studium des Veda die
reichste Ausbeute. „Denn es könnte", so sagt er, „nach meiner
Ueberzeugung der Geschichte des alten Orients , vielleicht der
ganzen alten Geschichte in diesem Augenblick kein wesentlicherer
Dienst geleistet werden , als eine Bekanntmachung und genaue
Untersuchung der vedischen Schriften". Colebrooke betrachtet den
Veda mit dem Auge des Inders , also unhistorisch , theologisch,
phüosophisch; Roths Anschauungsweise dagegen ist durchaus ge¬
schichtlich. Das zeigt sich überall. Die Sammlung des Rigveda
ist nach ihm nicht um liturgischer Zwecke willen gemacht, mau
kann sie vielmehr mit vollem Recht den geschichtlichen Veda
nennen. Während für Colebrooke Veda und Brähmana unmittelbar
zusammenhängen, errichtet Roth zwischen beiden Schriftgattungen
eine tiefe Kluft. Colebrooke hatte die beiden Einteilungen des
Rigveda mitgetheüt, ohne sich über ihren Werth weiter auszulassen ;
Roth erklärt die eine für die geschichtliche und darum allein be¬
rechtigte , und vollends von dem Inhalt des Rigveda bekommen
vrir ein durchaus anderes Bild. „Mehr als tausend jener heiligen
Lieder", heisst es, „sind hier vereinigt, mit welchen die Vorväter,
wohnend um die Ufer der fünf Ströme, für sich und ihre Heerden
Gedeihen erfleht, die aufgehende Morgenröthe begrüsst, den Kampf
des blitztragenden Gottes mit der finsteren Macht besungen und
die Hüfe der Himmlischen gepriesen hatten, die in ihren Kämpfen
sie rettete". Was Roth uns aus dem Veda mittheilt, sind nicht
Delbriick, Rudolf Roth. 553
philosophische Gedanken sondern die Spuren der unzähligen Kämpfe,
welche im Fünfstromland zwischen den einzelnen Stämmen in grauer
Vorzeit geführt worden sind. Mit besonderer Vorliebe verweilt er
schon in seiner Erstlingsarbeit bei der Ausmalung der (wirklichen
oder angeblichen) Gegensätze zwischen den verschiedenen Perioden
des indischen Volkslebens. »Auf jene Lieder, die Kampf und Streit
athmen, folgten die Gesänge der friedlichen Opferer in den üppigen
Ebenen des Südens und Südostens. Die Götter wurden anders,
das ritterliche Volk vrurde träumerisch und gewann die Ruhe lieb,
nur auf dem Gebiet der Askese blieb der streitbare Sinn und jene
Festigkeit des Charakters lebendig'. Wenn Colebrooke uns die
indische Auffassung des Veda vermittelt hatte , so liegt in Roths
Schrift der erste Versuch vor, das geschichtliche Problem des
indischen Alterthums mit den Mitteln der europäischen kritischen
Methode anzugreifen. Die wenig Bogen füllende Arbeit wurde von
den Zeitgenossen als epochemachend anerkannt, nnd wer sie heute
liest, muss den Mann bewundern, der im Alter von fünfundzwanzig
Jahren soviel Wissen mit soviel Urtheil und soviel reifer Zurück¬
haltung vereinigte.
Eine der wichtigsten Fragen, welche auch in dieser Schrift
schon eine erhebliche Rolle spielt , ist die nach dem Werthe der
indischen Erklärungsliteratur. Es wäre offenbar nicht möglich ge¬
wesen, der Schwierigkeiten des Veda derartig Herr zu werden, wie
es geschehen, wenn uns nicht unsere indischen Collegen vorgearbeitet
hätten , deren Auseinandersetzungen oft den Eindruck machen , als
ob sie mehr für Ausländer als für Inländer geschrieben seien. Es
handelt sich dabei theils um solche Arbeiten, welche sich mit der
äusseren Gestalt des vedischen Textes beschäftigen, die sogenannten
Prätisäkhyen , von denen Roth in der genannten Schrift die erste
Kunde gegeben hat, theils und hauptsächlich um Sacherklärung.
Der älteste der Vedacommentatoren ist Yäska, der umfänglichste
und wichtigste Säyana, welcher dem 14. Jahrhundert n. Chr. an¬
gehört. Zu beiden hatte Roth Stellimg zu nehmen. Yäskas Beiträge
zur Erklärung schwieriger Vedaworte und -stellen erschienen ihm so
wichtig, dass er es für seine nächste Aufgabe hielt, das sogenannte
Nirukta nebst den dazu gehörigen Wörtersammlungen mit Ein¬
leitung und Anmerkungen herauszugeben (1852). Mancher wird unter
uns sein, der sich mit Dank daran erinnert, wie sehr er in seinen
ersten Bemühungen um den Veda durch die Roth'schen Anmerkungen
gefördert worden ist. Von Säyanas Commentar meint Roth, er werde
für uns sowohl die hauptsächlichste Quelle für Vedaerklärung, als
eine Fundgrube für die Geschichte der Literatur überhaupt bleiben,
er gehöre zwar einer Zeit an, deren Gesichtskreis jene alte Literatur
so fem lag, dass ein sicheres Verständniss für sie tmmöglich war,
„aber', so heisst es wörtlich, „es wäre für die Beförderung vedischer
Studien sicherlich nichts angelegentlicher zu wünschen , als eine
vollständige Bekanntmachung der Sanhitä des Rigveda und ihres
wortreichen Commentators.' Ein solches Werk wii-d denn auch an¬
gekündigt, es sollte unter Wilsons Leitung von Trithen, Rieu und
Roth herausgegeben werden. Wie bekannt, ist das nicht geschehen,
sondern das Werk ist in Max Müllers Hände gekommen. Und
wenn nun Roth durch diese Wendung der Dinge von einer intimen
Beschäftigung mit Säyana etwas abgewendet wurde, so hat er doch
im Laufe des Lebens immer wieder darauf zurückkommen müssen,
und hat vielfältig Gelegenheit genommen, seine Stellung zu Säyana,
dem er immer unabhängiger gegenübertrat, grundsätzlich aus¬
zusprechen. Was er, als er auf der Höhe des Lebens stand, darüber
dachte, lässt sich etwa in folgende Worte zusammenfassen: Es gibt
in Indien keine unmittelbar von der Entstehung der beiligen
Schriften an fortgeleitete Tradition , sondern nur eine mit den
heiligen Schriften sich beschäftigende Gelehrsamkeit. Als Gelehrte
haben jene Männer zwar ein gewisses Sprach- und Heimatsgefühl
vor uns voraus, sie sind aber ungünstiger als wir gestellt, insofern
sie historisch befangen und deshalb geneigt sind, die Gegenwart
auf die Vergangenheit zu übertragen, und weiter insofem ihre etymo¬
logische und grammatische Kunst geringer war , als . die unsrige.
Wir erkennen deshalb zwar an, dass die indische Gelehrsamkeit für
uns ein wichtiges Hilfsmittel zur Erkenntniss des Veda ist und
namentlicb gewesen ist , aber wir behaupten , dass wir den Veda
besser verstehen müssen , als alle indischen Commentatoren zu¬
sammengenommen.
Inzwischen hatte sich Roth in Tübingen habUitirt, las über
Sanskritgrammatik, Veda und Avesta, Geschichte der Religion und
philosophische Systeme des Morgenlandes, Persiscb und Anderes,
und versenkte sich in das philologische Studium der vedischen
Texte. Da traf ihn im Januar 1852 die Aufforderung Böhtlingks
an dem grossen Sanskritwörterbuch , welches dieser vorhatte , die
vedische Partie zu übernehmen. Roth zögerte anfangs, denn seine
eigentliche Absicht war auf eine vedische Archäologie und Mytho¬
logie gerichtet, dann aber sagte er zu, in Erwägung der grund¬
legenden Wichtigkeit des Unternehmens. Aufrechts Hilfe, die in
Aussicht genommen war, wurde ihm nur bis agra zu Theil, dafür
erfreute er sich der Unterstützung Anderer , wie Whitneys , der
das Sanskritstudium von Berlin und Tübingen nach Amerika ver¬
pflanzt hatte und namentlich Albrecht Webers, welcher eine immer
anwachsende schwierige, theilweise nur ihm zugängliche Literatur
für das Wörterbuch ausbeutete. Das grosse Werk vereinter Kräfte,
welches so in mehr als zwanzigjähriger Arbeit entstand, bedarf
meines Lobes nicht, es wird richtiger sein, wenn ich an dieser
Stelle die wissenschaftliche Situation, in welcher sich Roth befand,
und die persönlichen Vorbedingungen für das Gelingen einer solchen
Arbeit erörtere. Wenn man sonst ein Wörterbuch über einen Theil
der alten Litteratur untemimmt, wendet man sich zunächst an die
gedrackten Ausgaben mit all ihrem Zubehör, wie Commentare,
Delbrück, Rudolf Roth. bbb
Indices , Uebersetzungen u. s. w. Davon konnte aber in diesem
Falle kaum die Rede sein. Zwar war der erste Theil von Max Müllers
grosser Ausgabe des Rigveda vorhanden, welche auch die Accente
gab, die bei Rosen noch fehlten, und dazu den vollständigen Com¬
mentar des Säyana, ferner Benfeys in höchstem Grade verdienst¬
volle Ausgabe des Sämaveda mit Uebersetzung und Glossar, auch
von Webers Yajurveda der erste Theil; aber was war das gegen
die Masse, die lediglich in Handschriften ausgebeutet werden musste ! Uebersetzungen ausser der Benfey'schen ebengenannten existirten nicht,
ebensowenig europäische Commentare und mit den indischen Er¬
klärern lag Roth im Kampfe. Er wusste wohl, dass man sie nicht
vernachlässigen dürfe, aber er empfand immer mehr, dass es seine
Aufgabe sei, an die Stelle des Halbwahren, das sie so oft bieten,
das Wahre zu setzen. So blieb ihm denn nichts übrig, als den
Weg zu gehen , den die Erfahrungen der Philologie vorschrieben,
er musste ein Verzeichniss aller Worte und Pormen anfertigen und
den Sinn derselben durch Zusammenhalten aller nach Form und
Inhalt verwandten Stellen zu ermitteln suchen, eine schwierige Auf¬
gabe, zu deren Lösung es verschiedenartiger geistiger Kräfte be¬
durfte. Ich rede nicht von der langweiligen Arbeit des Sammeins,
die schliesslich auch ein anderer hätte besorgen können. Einer
ganz besonderen Veranlagung bedurfte es bei der Feststellung der
Bedeutung, denn die Bedeutung eines Wortes lässt sich aus den
verschiedenen Stellen, an denen es vorkommt, nicht ausrechnen; es
muss der Funke des Geistes hinzukommen , um die Masse zu be¬
leben, populär gesagt: es muss einem Etwas einfallen. Ist man
auf einen Einfall gerathen, so folgt nothwendig die Selbstkritik, denn es gehört zu den Bosheiten des Objects, dass eine Vermuthung
die für neun Stellen passt , durch die zehnte wieder umgeworfen
werden kann, und es gehörte Entschlossenheit und Selbstvertrauen
dazu, eine so gewonnene Ansicht festzuhalten, auch wenn sie von
der Ansicht der Inder abwich, die doch so zu sagen die nächsten
dazu waren. Dass Roth alle diese Eigenschaften in hohem Masse
eigen waren, hat die Erfahrung gelehrt, und wer dem scharfsinnigen
und muthigen Forscher auf seinen Wegen gefolgt ist, kann das
hohe Selbstgefühl begreifen , mit dem er auf der Innsbrucker
Philologen Versammlung (1874) über den Verlauf und den nahen
Ahschluss des Werkes berichtete. (Vgl. Mei. asiat. der Pet. Ak.
VII, 591 ff.)
Mit der Arbeit am Wörterbuch war Roths Thätigkeit nicht
beschlossen, er lieferte ausserdem mit Whitney zusammen die Aus¬
gabe des Atharvaveda 1857 nebst einigen dazu gehörigen Abhand¬
lungen in Tübinger Universitätsschriften und anderswo, sodann eine
sehr grosse Reihe von einzelnen Aufsätzen bezüglich auf Indisches
und Avestisches, welche sich meist in unserer Zeitschrift abgedruckt
finden. Ich erwähne davon : Brahma und die Brahmanen Bd. 1,
Das Würfelspiel bei den Indem Bd. 2, Die höchsten Götter der
arischen Völker Bd. 6, Todtenbestattung im indischen Alterthum
Bd. 8; Ueher gelehrte Tradition im Alterthum, besonders in Indien
Bd. 21, Ueber den Soma Bd. 35, Wo wächst der Soma? Bd. 38,
Wehrgeld im Veda Bd. 41, Indischer Feuerzeug Bd. 43. Sie alle
zeichnen sich durch das Bestreben aus, uns das Indische menschlich
näher zu bringen und sind wie alle seine Werke in schöner, über¬
sichtlicher und kräftiger Sprache abgefasst. Von allgemeinerem
Interesse scheinen mir namentlich zwei derselben, nämlich zunächst
der Aufsatz: Ueber die höchsten Götter der arischen Völker, in
dem sich folgende bezeichnende Stelle allgemeiner Art findet: „Die
Forschung strebt in der Religionsgeschicbte vielleicht mehr als
sonstwo, zurück zu den Anfängen und muss diese zu fassen suchen,
um die folgende Entwicklung richtig zu beurtheilen , aber das¬
jenige, was angebliche Speculation als die Anfänge findet, oder
was eine geistreich sich anstellende Sagendeutung ohne Unterschei¬
dung von Zeit und Ort zusammenbildet, das sind Gestalten ohne
Leben. Die vrirkliche Geschichte bietet überall, wo sie uns redende
Zeugnisse von dem Geistesleben einer hohen Vorzeit erhalten hat,
klare Umrisse imd einfache und edle Formen. Das böchste Alter¬
thum kennt die Gebeimthuerei nicht, die man ihm anmuthet,
sein Glaube ist kindlich und zutraulich, bis priesterliche Weisheit
dessen Lenkung übernimmt und das Erhabene in die Schauer des
Geheimnisses, in überwältigende Masse und Zahlen kleidet. Umso¬
mehr haben wir das gütige Geschick zu preisen, welches wenigstens
bei einem unserer Brudervölker den Weg zu den Ursprüngen, den
wir suchen, vollständig off'en gelassen hat". Dass hierin eine An¬
schauung zu Tage tritt, an welche unsere Kritik anzuknüpfen hat,
werde ich sogleich anzudeuten haben. Ebenso steht es mit dem
Aufsatz über die Todtenbestattung, in welchem er sich bis ins
Einzelne hinein sowohl von dem Ritual wie von dem Commentar
zu emancipiren sucht und nur nach dem Text selhstständig aufbaut,
wobei denn freilich etwas Unmögliches unternommen sein dürfte.
Ueber Roths Verdienste auf dem Gebiet des Avesta zu be¬
richten, muss ich mir versagen. Es genüge zu bemerken, dass
er in Vorlesungen und Aufsätzen vieKache Anregung gegeben hat
und auch in dieser Literatur bestrebt gewesen ist, den ein¬
fachen, natürlichen, allgemein menschlichen Sinn aus der trüben
Umhüllung priesterlicher Weisheit hervortreten zu lassen. Indem
ich Sachkundigeren überlasse, sich über dieses Gebiet zu äussern,
möchte ich den Versuch wagen wenigstens anzudeuten, wie sich die
Gegenwart zu den Roth'schen Arbeiten stellt, um sodann die zer¬
streuten Züge zu einem Gesammthild des Forschers zu vereinigen.
Dass die Roth'schen Arbeiten über den Veda eine Epoche in
diesen Studien bedeuten, wurde von competenten Zeitgenossen,
z. B. von Lassen, sofort anerkannt, jedoch fehlte es auch nicht an
Gegnerschaft auf Seiten der Anhänger der indischen Tradition. Ein
scharfsinniger, aber befangener Gelehrter sprach von einer besonderen
Delbrück, Rudolf Roth. mt
Feuerverehrung, v?eiche der Prof. Eoth in Tübingen eingerichtet
habe und meinte, Roths Aufstellungen im Wörterbuch hätten eigent¬
lich nur Werth für dessen dereinstigen Biographen, üeber solche
Extravaganzen ist man jetzt längst hinaus. Man gibt jetzt aller¬
seits zu, dass Roth Recht hatte, vrenn er behauptete, die indischen
Commentatoren seien nur ein Hüfsmittel zur Erklärung neben
anderen, aber man wirft zugleich die Frage auf, ob Roth nicht,
entsprechend der kritisch - subjectiven Richtung, in der er auf¬
gewachsen war, seinem eigenen kritischen Ingenium zuviel vertraut,
die indische Gelehrsamkeit zu entschlossen bei Seite geschoben und
den Veda zu weit von dem übrigen Sanskrit getrennt habe. Man
sieht, es handelt sich nicht mehr um ein Entweder — oder, son¬
dem um ein Mehr oder weniger. Nicht sowohl die grundsätzliche
Erörterung, als die Bearbeitung einer Masse von EinzelfäUen kann
eine Entscheidung bringen. So muss denn eine Würdigung, vrie
ich sie hier vorhabe, bei der Einzeluntersuchungen nicht vorgetragen
werden können, nothwendig einen durchaus vorläufigen Charakter
tragen. Was zunächst das Wörterbuch angeht, so sind auf die
Roth'schen Leistungen andere, zum Theil bedeutende, gefolgt; es
fehlt uns nicht an der Möglichkeit, bei den wichtigsten vedischen
Wörtern die verschiedenen Ansichten zu vergleichen. Ich muss
gestehen, ich pflege bei solchen Vergleichimgen gewöhnlich zu der
Meinung zu kommen , dass auf Roths Seite das üehergewicht an
Natürlichkeit und Wahrscheinlichkeit der Auffassung vorhanden ist.
Ich rechne seine Arbeit am Wörterbuch zu den grössten philo¬
logischen Leistungen des Jahrhunderts. Etwas anders liegt es auf
dem antiquarisch - mythologischen Gebiet. Es ist wohl nicht zu
zweifeln, dass Roth die Altertbümlichkeit der vedischen Gesell¬
schaft und die Volkstbümlichkeit der vedischen Poesie überschätzt
hat. Wir haben uns in dem letzten Menschenalter immer deutlicher
zum Bewusstsein gebracht, wie geringfügig die Spanne Zeit ist, die
uns durch literarische üeberlieferang bekannt ist, gegenüber den
ungezählten Menschenaltern die dahinter liegen. Wie die Sprache
der Indogermanen , welche wir durch Vergleichung reconstruiren,
schon ein kunstvoller und durch die Geschichte manniehfaltig um¬
gestalteter Bau gewesen ist, der auf der Entwicklung von vielen
Jahrtausenden beruhte, so war auch die indogermanische Gesell¬
schaft schon alt und complicirt. ünd wie entwickelt ist die vedische
Gesellschaft gegenüber der indogermanischen! Was die Poesie
angeht, so gibt es gewiss im Veda eine Anzahl von Liedern,
in welchen die reinen Töne natürlichen Empfindens erklingen,
aber sie sind rari nantes in gurgite vasto. Die grosse Mehrzahl der
vedisehen Lieder ist priesterlich-conventionell und der ganze Veda
ist überhaupt priesterlicher als Roth annahm. Aelmliche Gesichts¬
punkte sind auch für die Auffassung der Religion und Mythologie
von Wichtigkeit. Wenn wir erst eine Gesehichte der mythologischen
Forschung haben werden, wird man deutlicher als jetzt der Fall
ist , einsehen , wie die Gesammtauffassung auf diesem Gebiet von dem ganzen Complex der religiösen, philosophischen, historischen
und naturwissenschaftlichen Anschauungen der Zeit abhängig ist.
Roth hatte seiner Zeit noch gegen die Ansicht zu kämpfen , als
ob die alten Religionsvorschriften auf Pfaffentnig beruhten, und
bemühte sicb dem gegenüber den menschlich-natürlichen Charakter
der Religion zur Geltung zu bringen. Seine Grundstimmung war
sittlich-ästhetisch, heute ist ein ethnologisch-naturwissenschaftlicher
Zug hinzugekommen. Kein Wunder wenn die Ansichten noch
durcheinander gehen.
Doch genug mit diesen Andeutungen. Soll ich nun versuchen
ein Bild des Mannes und Forschers wenigstens in den Hauptzügen
zu zeichnen, so glaube ich, dass man .sagen darf: wer Roth be¬
urtbeilen will, muss vor allen Dingen bedenken, dass er ein Schwabe
war. Einer der ausgezeichnetsten Vertreter dieses Volksstammes,
ein Mann , dessen glänzende Verständigkeit sich ebensowohl auf
literarischem wie auf politischem Gebiete bewähi-t hat , nämlich
Gustav Rümelin , gefiel sich bei der Eröffnung der Tübinger
Philologenversammlung in der Behauptung, dass das Schwabenland
niemals Philologen, sondern immer nur Theologen und Philosophen
hervorgebracht habe. Man kann ihm bis zu einem gewissen Grade
Recht geben, wenn man bei der Phüologie hauptsächlich an die
Wissenschaft von den Worten denkt. Auch Roth war, obgleich
selbstverständlich ein hervorragender Kenner der Grammatik, nicht
eigentlich grammatisch gestimmt, der Geist war ihm doch wichtiger
als die Form, und so könnte man wohl sagen, dass er durch sein
Lebenswerk von seinem Lebensziel um einige Linien abgelenkt
worden sei. Als einen durchgehenden Zug des Roth'schen Ge¬
schlechts haben wir eine ungewöhnliche, bis zur Härte gehende
Willenskraft kennen gelernt; auch Rudolf Roth war eine willens¬
starke , regierende Natur. Wie mir von verschiedenen Seiten mit¬
getheilt wird, hat er in seinem Amtskreise durch Schroffheit nicht
selten verletzt, aber auch oft wieder durch den sachlichen Emst
seines Urtheils versöhnt. Dass bei seiner wissenschaftlichen Arbeit
Muth und Entschlossenheit überall hervortreten und dass sich also
ein Grundzug seines wissenschaftlichen Wesens auf den angeborenen
Charakter des Geschlechts , dem er angehörte , zurückführen lässt,
brauche ich nicht weiter auszuführen. Nur das sei noch erwähnt,
dass Roths literarische Darstellung zwar Entschiedenheit nirgends
vermissen lässt, aber sich überall durch eine vornehme, gehaltene
Ruhe auszeichnet. Polemik hat er stets vermieden. Roths per¬
sönliche Begabung war gesund und reich. Ueber Herz und
Gemüth eines Mannes zu reden , sollte nur der unternehmen , der
ihm von Jugend auf nahe gestanden hat; so will ich mich denn
nn dieser Stelle begnügen heiTOrzuheben , dass der ernste Mann es
in ungewöhnlichem Masse verstanden hat, nicht etwa bloss Achtung,
sondern auch Liebe und Verehrang zu erwecken , was viele seiner
Delbriick, Rudolf Roth. 559
Schüler bezeugen können'). Das Eigenthümliche seiner wissenschaft¬
lichen Begabung habe ich in dem, was ich bisher vorgetragen habe,
zu zeichnen versucht, daneben besass er ein feines Verständniss für
echte Poesie und Reinheit der Form. Noch darf ich einen Zug
nicht vergessen, der den ganzen Mann bezeichnet. Rudolf Roth
war ein gelehrter Mann und ist viele Jahre seines Lebens hindurch der Hüter beträchtlicher Bücherschätze gewesen, aber er war durchaus
kein Bücher- und Stadtmens*h. Die uns umgebende Natur, der
Wechsel der Jahreszeiten mit dem was sie geben und nehmen,
die Bauernarbeit, auf der alle Cultur beruht, war ihm auf das
Innigste vertraut. Als ich ihm gelegentlich ein Compliment darüber
machte , wie sachverständig er die verschiedenen indischen Aus¬
drücke für Milch , Butter und Käse übersetzt habe , nahm er das
mit grossem Wohlgefallen auf, strich sich, wie es seine Art war,
das Kinn und meinte: ,Ja, so etwas können sie in Berlin nicht".
Er mochte wohl wie der alte Ranke der Ansicht sein, dass wer
ein Stück Geschichte bearbeiten wolle, vor allen Dingen Welt- und
Menschenkenntniss besitzen müsse.
M. H. Wenn Sie mir zum Schluss gestatten wollen , das
Urtheil über den Mann, den ich hier geschildert habe, wie auf¬
richtige Verebrung und Liebe zur Wahrheit es mir eingegeben
haben , in wenige Worte zusammenzufassen , so möchte ich sagen :
Derjenige, von dem hier gesprochen worden ist, war ein gewaltiger
Mann, er hat Bahn gebrochen auf einem schwierigen Gebiet, Vieles
von dem was er geleistet hat wird in dieser veränderlichen Zeit
eine Weile Bestand haben. Irrthümer und Mängel fehlen auch bei
ihm nicht, aber wer sich etwa auf das Gebiet des Tadels begeben
wül, wird doch leicht geneigt sein, den Fuss wieder zurückzuziehen
und wenn er das Ganze dieses wissenschaftlichen Lebens über¬
schaut, wird er gern mit mir sagen: fiwfij'/ßSTai ng /ACikkov rj
fiif/i/asvai.
1) Ich ergreife die Gelegenheit, dem Leser ein hübsches Bild aus dem Leben eines deutschen Professors vorzuführen, das Arthur A. Macdonel in ,,The Journal of the Asiatic Society of Great Britain and Ireland for 189,5" S. 910 mittheilt iu den Worten : „About eight years ago Roth numbered among tho members of his Vedic class an old gentleman upwards of siity years of age.
Having been one of the professor's earliest pupils, he had returned to Tübingen to continue his Oriental studies under his former teacher after an intermission of forty years".
Arabische Piutim.
Von J. E. Zenner.
Die verdienstvollen Bearbeiter des arabischen Piüt (Bd. 48,
S. 22 if.) , sind in der missliehen Lage gewesen, nur eine Hand¬
schrift zur Verfügung zu haben. Durch einen eigenthümlichen
Zufall ist im Laufe dieses Jahres mir ein Codex aus Brasilien
zugegangen, der neben anderem Interessanten imd Eigenartigen
auch den in Prage stehenden Piüt enthält , mit anderer und zwar
augenscheinlich richtigerer Ordnung der Strophen und vielen be¬
deutenden Varianten, welche den von Socin und Stumme geäusserten
Zweifel an der ürsprünglichkeit der von Hirschfeld publieirten
Textesgestalt glänzend bestätigen, ünter diesen ümständen glaube
ich auf das Interesse wie die Nachsicht der Arabisten rechnen zu
dürfen, wenn ich es unternehme, den Inhalt unseres Codex weiteren
Kreisen zugänglich zu maehen. üeber die Gesehichte der Hand¬
schrift meldet eine Bemerkung auf dem Vorsatzblatt: „Erhalten in
üruguayana, aufgefunden auf der Insel Panfa (in rio Jacuhy)'.
Bei Gelegenheit einer Visitationsreise wurde die Handscbrift dem
Bischof von Porto Alegre geschenkt, welcher seinerseits sie seinem
Begleiter P. Carl Teschauer, S. J., überliess; durch letzteren wurde
sie dann naeh Europa geschickt, üeber jüdische Colonien in Bra¬
silien ist mir nur ein Datum bekannt, worüber Jost III, 198 und
Wolf, Bibl. Hebr. III, 537 f berichten. Die Insel Panfa liegt im
Küstengebiet der Provinz Rio grande do Sul.
Die Handsehrift ist ein kleines, etwas dickes Bändchen (6 Centim.),
10,5 Centim. breit, 14,4 Centim. hoch, die beschriebenen Blätter
sind 9,5 X 13,5, und haben durchschnittlich 15—18 Zeilen Text
in marokkanischem Ductus. Nur das Wort ut'C und das erste
Wort jeder Strophe sind in hebräischer Quadratschrift. Der einst
elegante rothe Lederband mit reicher Goldverzierung spricht für
das hohe Interesse, das der erste Besitzer des Buches auf dasselbe
legte. Die Goldverzierung um den Rand der Deckel ist Hand¬
arbeit und als solche unverkennbar an mehreren Stellen, wo die
Figuren des Stempels ungenau ansehliessen oder der zuletzt ab-