Rudolf Strothmann (4. 9. 1877—15. 5. 1960)
Von Rudi Paeet, Tübingen
Nicht selten kommt es vor, daß ein Theologe zur Orientalistik hinüber¬
wechselt. Eine ganze Anzahl bedeutender Orientalisten waren von Haus
aus Pfarrer oder wenigstens Studenten der Theologie. Bei manchen von
ihnen ist das Interesse an theologischen Fragen später — oder schon
unmittelbar im Anschluß an den Übergang von der einen zur anderen
Disziplin — gänzhch eingeschlafen. Nicht so bei Rudolf Steoth-
mann^. Geboren 1877 in Lengerich in Westfalen, hatte er zwar während
seines Universitätsstudiums in HaUe und Bonn auch Orientalia getrieben
(besonders bei C. Beockelmann), war aber dabei der Theologie nicht
untreu geworden und hatte anschheßend viele Jahre lang eine voU-
berufhche Tätigkeit als Oberlehrer in Münster (ab 1905) und als Studien¬
rat und Pfarrer in Schulpforta (1907—23) ausgeübt. Erst 1923, im Alter
von 46 Jahren, erhielt er, ohne sich vorher habilitiert zu haben, einen
Ruf auf das Ordinariat für Orientalistik in Gießen. Im Jahr 1927 kam
er in derselben Eigenschaft als Nachfolger Hellmut Rittees nach
Hamburg. Dort lehrte er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1947 und
darüber hinaus. Publizistisch war er auch in der Folgezeit bis kurz vor
seinem Tod unermüdhch tätig.
Der Wechsel vom Beruf des Studienrats und Pfarrers zu dem des
Universitätsprofessors für Orientalistik bedeutete für Strothmarms
geistige Entwicklung keine Zäsur. Im Grund genommen blieb er, was er
war: ein ernster, für die letzten Fragen des Lebens aufgeschlossener,
durch und durch theologisch interessierter, frommer Mensch, dazu ein
begnadeter Lehrer. Eben als Theologe fand er auch, und zwar schon
längst vor seiner Berufung zum Professor, den unmittelbaren Zugang
zum Islam als einem in erster Linie rehgiösen Phänomen. AUes, was er
in einem langen Gelehrtenleben darüber ausgesagt und niedergeschrieben
hat, war getragen von einem tiefen religiösen Verständnis, und eben
deshalb auch wirksam und eindringUch. Selbst in seinen Editionen
spröder Gnosistexte spürt man etwas von dem menschhch ernsten Be-
1 Eine der wenigen Photographien, die es von Strothmann gibt, ist dem
schönen Nachruf aus der Feder Bertold Spulbrs (Der Islam 36, 1960,
1—3) beigegeben.
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mühen um den Gegenstand und von der Sicherheit, mit der er geradezu
abstruse Einzelphänomene einem großen Ganzen einzuordnen wußte,
das letzten Endes auch für ihn persönlich verbindlich war.
Am fruchtbarsten hat sich Strothmann als Erforscher des islamischen
Sektenwesens betätigt. Seine ersten und dabei schon meisterhaften Ver¬
öffentlichungen galten den Zaiditen, einem heute noch im Jemen ver¬
tretenen Zweig der Schi'iten:
Die Literatur der Zaiditen (Islam 1, 1910, 354—67; 2, 1911, 48—78)
Das Staatsrecht der Zaiditen (Straßburg 1912)
Kultus der Zaiditen (ebenda 1912).
Es folgten eine lange Reihe von Untersuchungen und vor allem von
Editionen und Analysen von Texten aus dem Bereich der Zwölfer- und
der Siebener-Schi'a, der Nusairis und anderer Sekten. Sie seien hier in
der Reihenfolge aufgeführt, in der sie erschienen sind :
Analecta haeretica: Die Jeziden bei den islamischen Symbolikren; Jezid
I. in der islamisohen Folklore (Islam 4, 1913, 72—86)
Das Problem der literarischen Persönlichkeit Zaid b. 'Ali (Islam 13, 1923, 1—52)
Bedr-Ohod und Kerbela (OLZ 1926, 809—818)
Die Zwölfer-Schi'a. Zwei religionsgesehiehtliche Charakterbilder aus der
Mongolenzeit (Leipzig 1926)
Schi'a-Literatur (Bücherkatalog von Otto Harrassowitz Nr. 405, 1926)
Der religionspolitisohe und -dogmatische Ort der Ibäditen; Literatur der
Ibäditen; Literatur der Zwölfer-Schi'a (Otto Harrassowitz, Ephemerides
Orientales 31, 1927)
Berber und Ibäditen (Islam 17, 1928, 258—79)
Islamische Konfessionskunde und das Sektenbucb des As'ari (Islam 19,
1931, 193—242)
Handsehriften und Drucke (Islam 21, 1933, 292—311)
Enzyklopädie des Isläm, III u. IV, 1936 u. 1934, Artikel Sab'iya (er¬
schienen 1924), Shi'a (1927), Taqiya (1928), Tasbbih (1929), Ta'ziya(1930),
Thanawiya (1930), Muhammediya (1933), Zähiriya (1934)
On the History of Islamio Heresiography (Islamic Culture, 12, 1938,
5—16)
Drusenantwort auf Nusairi-Angriff (Islam 25, 1939, 269—281)
Die Geheimlehre der Batiniten nach der Apologie ,, Dogmatik des Hauses
Muhammed" von Muhammed Ibn al-Hasan ad-Dailami (Bibliotheca Isla¬
mica 11, Istanbul 1939)
Gnosis-Texte der Ismailiten. Arabische Handschrift Ambrosiana H 75
(Abh. d. Ak. d. W. in Göttingen, Phü.-hist. KL, 3, 28, 1943)
Maimun Ibn el-Kasim von Tiberias, Festkalender der Nusairier. Grund¬
legendes Lehrbuch im syrischen Alawitenstaat (Islam 27, 1946)
Der Islam, Sekten (Handbuch der Religionswissenschaft hgg. von G. Men¬
sching, 1, Berlin 1948, 95—108)
Die Nusairi im heutigen Syrien (Nachrichten der Ak. d. W. in Göttingen, Phil.-hist. Kl., 1950, 4)
Rudolf Strothmann
Kitäbu'l Kashf of Ja'far b. Mansuri'l Yaman (Islamio Research Asso¬
ciation Series 13, 1952)
Die Nusairi nach Ms arab. Berlin 4291 (Documenta Islamica Inedita Ri¬
cardo Hartmann sacrimi, Berlin 1952, 173—87)
Morgenländiscbe Geheimsekten in abendländischer Forschung und die
Handschrift Kiel Arab. 19 (Abh. d. Deutsch. Ak. d. W. zu Berlin, Klasse
für Sprache, Literatur und Kunst, 1952, 5, Berlin 1953)
Recht der Ismailiten (Islam 31, 1954, 131—46)
Ismailitischer Kommentar zum Koran, Abschnitt 11—20. Arabisehe
Handschrift Ambrosiana H 76 (Abh. d. Ak. d. W. in Göttingen, Phil.-hist.
Kl., 3, 31, 1955)
Esoterische Sonderthemen bei den Nusairi. Geschichten und Traditionen
von den heiligen Meistern aus dem Prophetenhaus (Abh. d. Deutsch. Ak.
d. W. zu Berlin, Kl. f. Sprache, Literatur und Kunst, 1956, 4, Berlin 1958)
Die Mubähala in Tradition und Liturgie (Islam 33, 1958, 5—29)
Seelenwanderung bei den Nusairi (Oriens 12, 1959, 89—114)
Die im Vorhergehenden aufgeführten Veröffentlichungen dokumen¬
tieren schon allein durch ihre Fülle die Intensität, mit der Strothmann
das Studium des islamischen Sektenwesens betrieben und gefördert hat.
Seine wissenschaftlichen Verdienste liegen hauptsächlich auf diesem
Sondergebiet der Islamkunde. Sie sind aber damit noch nicht erschöpft.
Rühmend hervorzuheben ist seine wirkungsvolle Tätigkeit als Heraus¬
geber des „Islam" (seit 1927, von 1948 an gemeinsam mit seinem Nach¬
folger B. Spüler). In vielen Besprechungen und eigenen Beiträgen
(zuletzt in dem aktuellen Aufsatz : Islamstaaten und christlicher Westen
heute, Islam 34, 1959, 1—33) ist er dabei selber zu Wort gekommen. In
mühevoller Kleinarbeit hat er andere zur Mitarbeit gewonnen und an¬
gehalten.
Schheßhch hat er auch noch ein abseits liegendes, aber wichtiges
Spezialgebiet gepflegt, das nun bei seinem Nachfolger B. Spüler eben¬
faUs in besten Händen ist: die Geschichte der morgenländischen Kirchen.
In ein und demselben Jahrzehnt erschienen als selbständige Veröflfent-
hchimg: Die Koptische Kirche in der Neuzeit (Beiträge zur Historischen
Theologie 8, Tübingen 1932) und als Zeitsohriftenaufsätze: Heutiges
Orientchristentum und Schicksal der Assyrer (Zeitschr. f. Kirchen-
Geschichte 55, 1936, 17—82) und: Der Orient und seine Kirchen in
ökumenischer Sicht (Theologische Blätter 17, 1938, 227—42). Auch aus
diesen Publikationen spricht ein Gelehrter zu uns, der seinen Stoff
souverän beherrscht und sich auf die Kunst versteht, die Leser mit einer
individuell prägnanten Ausdrucksweise unmittelbar anzusprechen und
ins Bild zu setzen.
Magdalene Geiger (1877—1960)
Von Heinz Bechebt, Mainz
Am 25. Januar 1960 ist Frau Magdalene Geigeb, geborene Geobe,
von uns geschieden^. Sie wurde am 19. Juni 1877 in Calbe an der Saale
geboren und wuchs dort in ihrem Elternhause heran. Ihr Vater besaß
eine Tuchfabrik, nach der die Straße später ,, Tuchmacherstraße" hieß.
Ihre Ausbildung erhielt Magdalene Geobb, wie dies bei Töchtern wohl¬
habender Familien damals üblich war, nach dem Besuch der Höheren
Töchterschule in der französischen Schweiz.
Ihr Studium begann sie erst nach einer kurzen und nicht glücküchen
Ehe und zwar im Jahre 1911 an der Universität Berlin. Dort wurde sie
am 19. AprU immatrikuliert, was in jenen Zeiten für eine junge Dame
etwas ganz Ungewöhnhches war. Sie beabsichtigte zunächst, klassische
Philologie zu studieren. Schon in ihrem Elternhause hatte sie erste
Grundlagen zur Kenntnis der alten Sprachen mitbekommen.
Nun aber gab ihr der Lehrer, der sie in Privatunterricht zur Hoch¬
schulreife vorbereitete, die Anregung, gleich im ersten Semester Sanskrit
zu lernen. Sanskritkenntnisse galten damals noch als wichtiger Bestand¬
teil des Wissens eines klassischen Philologen, wenn er kein zu enger
Spezialist sein wollte. AUerdings hat der Rat, Sanskrit zu lernen, bei ihr
eine Wirkung gehabt, die jener Lehrer kaum erwartet haben kann. Bald
nach dem Beginn ihres Sanskritstudiums bei Hebmann Beckh ent¬
schloß sie sich, gefesselt von Indiens Literatur und Kultur, nicht klassi¬
sche, sondern indische Philologie zu studieren.
Dabei war Heineich Lüdebs, der damahge Inhaber des indologischen
Lehrstuhles in Berlin, ihr wichtigster Lehrer. Lüdees war mit der Be¬
arbeitung der Handschriftenschätze beschäftigt, die die Kgl. Preußischen
Turfan-Expeditionen aus Ostturkestan nach Berhn gebracht hatten.
Seine Schülerin sollte nach seinen Plänen allerdings Handsehriften aus
einer anderen Sammlung bearbeiten, nämlich aus den Funden, die Sir
Aubel Stein aus Ostturkestan nach England gebracht hatte. Der
Kriegsausbruch machte diese Pläne undurchführbar.
^ Frau Geiger war viele Jahrzehnte hinduroh bis zu ihrem Tode Mit¬
glied der ,, Deutsohen Morgenländischen Gesellschaft". — Für seine wert¬
vollen Mitteilungen bin ich Herrn Professor Dr. Rudolf Geigeb zu großem
Dank verpflichtet.