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I. Probleme der Untersuchung von Feldpostbriefen — eine Kritik

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Klaus Latzel

Vom Kriegserlebnis zur Kriegserfahrung.

Theoretische und methodische Überlegungen zur

erfahrungsgeschichtlichen Untersuchung von Feldpostbriefen

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Vor nimmehr fünfzehn Jahren erschien eine Sammlung von Feldpostbriefen aus dem Zweiten Weltkrieg, die bald besondere Bedeutung erlangte: »Das andere Gesicht des Krieges«2. Offensichlich hatte sie den Nerv des damals sowohl in der Öffentlichkeit wie in der Fachwissenschaft unter neuen Vorzeichen formulierten Interesses an Na- tionalsozialismus und Krieg getroffen. Auf archivalischer Seite war Anfang der acht- ziger Jahre der Wunsch nach Erfassung und Bewahrung dieser Zeitzeugnisse neu erwacht; etwa gleichzeitig war unter dem Signum der »Alltagsgeschichte« die Be- wegung der Geschichtswerkstätten entstanden, die sich nicht zuletzt der Geschich- te von Nationalsozialismus und Krieg widmete; und schließlich wurde auch in der etablierten historischen Zunft immer vernehmlicher die Kritik an einer Konzeption von Geschichte als Historischer Sozialwissenschaft artikuliert, welcher die han- delnden und leidenden Subjekte weitgehend aus den Augen geraten waren.

Feldpostbriefe schienen nicht nur eine für die »Innenseite« der Geschichte, spe- ziell für die Geschichte des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges, beson- ders aussagekräftige Quelle zu bieten. Darüber hinaus waren sie massenhaft vor- handen und zudem relativ leicht greifbar, nicht nur in Archiven, sondern auch bei privaten Sammlern und manchmal in der eigenen Familie. In der Folgezeit er- schienen etliche weitere Briefveröffentlichungen zu beiden Weltkriegen, freilich nicht als wissenschaftliche Editionen; neue private Sammlungen wurden angelegt, und in einer Anzahl von kleineren Studien und Monographien begann man mit der Auswertung von Feldpostbriefen, die schließlich als Quellen auch Einzug in den Schulunterricht und als Exponate Einzug in historische Ausstellungen hielten. Mitt- lerweile können Feldpostbriefe als Quellengattung gelten, die sich in der Ge- schichtswissenschaft erfolgreich etabliert hat, wie sich in neueren Veröffentlichungen zur Militär- und Kriegsgeschichte unschwer feststellen läßt3.

1 Dank geht nach Freiburg an Gerd Krumeich und sein Oberseminar für die Gelegenheit, dort eine frühere Fassung der hier formulierten Thesen zur Diskussion zu stellen.

2 Das andere Gesicht des Krieges. Deutsche Feldpostbriefe 1939-1945, hrsg. von Ortwin Buchbender und Reinhold Sterz, München 1982.

3 Vgl. als neue Überblicke Martin Humburg, Deutsche Feldpostbriefe im Zweiten Welt- krieg — eine Bestandsaufnahme, in: Andere Helme — andere Menschen? Heimaterfah- rung und Frontalltag im Zweiten Weltkrieg. Ein internationaler Vergleich, hrsg. von Det- lef Vogel und Wolfram Wette, Essen 1995 (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte, N.F., Bd 2), S. 13-35; Bernd Ulrich, »Militärgeschichte von unten«. Anmerkungen zu ihren Ursprüngen, Quellen und Perspektiven im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesell- schaft (GG), 22 (1996), S. 473-503, sowie die Einleitung zu Klaus Latzel, Kriegsbriefe und Kriegserfahrung. Deutsche Feldpostbriefe aus dem Zweiten Weltkrieg. Dokumentation, Analyse und Vergleich mit dem Ersten Weltkrieg, phil. Diss. Bielefeld 1996 (erscheint voraussichtlich Frühjahr 1998).

Militärgeschichtliche Mitteilungen 56 (1997), S. 1-30 © Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam

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2 MGM 56 (1997) Klaus Latzel Diese Erfolgsgeschichte leidet freilich unter einem unübersehbaren Mangel:

Mit der Innovationsfreude, die das erneute Auftauchen dieser Quelle ausgelöst hatte, konnte die Innovativität bei deren Auswertung kaum mithalten. Gering ist die Zahl der Beiträge geblieben, die sich theoretisch und methodisch mit dem spe- zifischen Erkenntnispotential befassen, das die Briefe als Quellen für eine modern aufgefaßte Militär- und Kriegsgeschichte bergen, und selbst herausragende Veröf- fentlichungen zeigen sich noch eigentümlich diffus, wenn es darum geht, zu be- nennen, wonach und wie die Briefe sinnvollerweise zu befragen sind und welche Reichweite den jeweils gewonnenen Ergebnissen zukommt. Vielfach fehlt es an orientierenden Begriffen, und zu oft bleiben die Methoden der inhaltlichen Ana- lyse und die Probleme von Repräsentativität und Generalisierung unreflektiert.

Ohne weitere theoretische und methodische Klärungen wird es darum schwerfal- len, zu auch längerfristig haltbaren Ergebnissen bei der Analyse dieser Quellen zu kommen.

Ich möchte diese Kritik zunächst am Beispiel einer besonders anregenden neue- ren Veröffentlichung erläutern (I). Anschließend folgen einige theoretische Über- legungen zur Konzeption von Erfahrung und Erfahrungsgeschichte (II), aus de- nen sich methodische Konsequenzen und Vorschläge für die Frage nach der Kriegs- erfahrung (HI), für die Analyse von Feldpostbriefen (IV) sowie für die Probleme von Repräsentativität und Generalisierung (V) ergeben.

I. Probleme der Untersuchung von Feldpostbriefen — eine Kritik

In dem verdienstvollen, jüngst von Detlef Vogel und Wolfram Wette herausgege- benen Sammelband »Andere Helme — andere Menschen?« werden in einem breit angelegten, internationalen Vergleich »Heimaterfahrung und Frontalltag« auf der Basis von deutschen, österreichischen, ungarischen, japanischen, italienischen, so- wjetischen, französischen, englischen, amerikanischen und kanadischen Feld- postbriefen untersucht4. Erstmals werden auch ausführlich die in den meisten bis- herigen Veröffentlichungen vernachlässigten Briefe von Frauen an die Front the- matisiert, insgesamt also ein bislang einmaliges Unternehmen der neueren Ge- schichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg. Doch so vielfältig das in den einzelnen Studien entworfene Bild über die jeweilige Archivlage sowie über die Möglichkeiten und den Stand der Forschung ist, so aufschlußreich sich manche nationalen Differenzen etwa im Hinblick auf die im Kriege geübte Zensurpraxis darstellen, und so anregend die Quelleninterpretationen oft sind — immer noch beeinträchtigen die eben genannten methodischen und theoretischen Probleme die Aussagekraft der inhaltlichen Briefanalysen. Diese Probleme werden im folgen- den gezielt aufgesucht, wodurch die Ausführungen den besagten Qualitäten der Beiträge des Bandes natürlich nicht gerecht werden.

Andere Helme (wie Anm. 3).

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1. Das Problem der Begriffe

Wer einmal mit Feldpostbriefen gearbeitet hat, kennt die Verführungskraft dieser Quelle, die lebendig wie keine andere von Schauplätzen der Geschichte berich- tet, auf denen der Tod regiert. Doch so sprechend und evident die Briefe auf den ersten Blick auch anmuten mögen, ihre Aussagekraft hängt wie die jeder ande- ren Quelle auch zunächst einmal von den Fragen ab, die an sie gerichtet werden.

Über den Ertrag dieser Fragestellungen wiederum entscheiden nicht zuletzt die darin verwendeten Begriffe, deren heuristische und analytische Fruchtbarkeit auf die theoretische Klärung ihrer Bedeutung angewiesen ist. Betrachten wir also zunächst das Spektrum der Begriffe, mit denen in den Aufsätzen des Bandes die Perspektiven benannt werden, unter denen die Feldpostbriefe jeweils in den Blick geraten. Zur besseren Übersicht habe ich diese Begriffe jeweils bestimmten Ober- begriffen (1-12) und diese wiederum drei Dimensionen (A-C) zugeordnet:

A. Wahrnehmung und Deutung der Akteure 1. Gefühle

Gefühle, Stimmung, Empfindungen, Ängste, Gefühlslage, Gefühlswelt, Moral, Kampfgeist

2. Gedanken

Gedanken, Denken, Selbstreflexion 3. Mentalität

Mentalität, Einstellungen, Haltung, Disposition, Identität, Kriegsmen- talität, mentaler Grundzug

4. Einschätzung

Einschätzungen, Selbsteinschätzung, Ansicht, Meinungen, Vorstellun- gen, Beurteilung, Selbstverständnis, Sichtweise, Betrachtungsweisen, Überlegungen, Erkenntnisse

5. Erlebnis

Erlebnisse, Erleben, Kriegserlebnis, Kriegserleben 6. Verarbeitung

Verarbeitung des Kriegserlebnisses, Prozesse der Verarbeitung des Ge- schehens, Verarbeitung von Konflikten, Verarbeitung ihrer Geschichte durch die Betroffenen, damit zurechtkommen, Sinn, Sinnsuche, umgehen mit (Erlebnissen)

7. Kriegsauswirkungen

Auswirkungen des Krieges, Folgen des Kriegsalltags, Kriegsauswir- kungen auf die Menschen

8. Erfahrung

Erfahrungen, Heimaterfahrung 9. Erwartung

Erwartung, Hoffnungen, Träume B. Verhalten

10. Verhalten/Handeln

Verhalten, Verhaltensweisen, Reaktionen, Überlebensstrategien

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4 MGM 56 (1997) Klaus Latzel C. Dimensionen des Krieges

11. Alltag

Alltag, Frontalltag, Kriegsalltag, Alltag in der Heimat, Alltagsleben 12. Leben

Leben, Frontleben, Alltagsleben, Lebenswelten

Die Übersicht macht deutlich, daß der weitaus größte Teil der hier verwendeten Be- griffe auf die in den Feldpostbriefen greifbar werdenden Wahrnehmungen und Deu- tungen (A) des Krieges zielt. Die Begriffe, unter denen diese »subjektiven« Lei- stungen gefaßt werden, richten sich teils auf die Ebene der Gefühle und Stim- mungen (1), teils auf die Verstandesebene (2); sie beziehen sich auf tiefer verwur- zelte Mentalitäten (3) oder auf aktuellere Einschätzungen und Beurteilungen (4);

sie thematisieren das Erlebte (5), dessen Verarbeitung (6) und dessen Folgen (7), sie erfassen die Erfahrungen (8) wie die Erwartungen (9) der Kriegsteilnehmer.

Daneben stehen Begriffe, die auch auf das nach außen sichtbare Verhalten oder Handeln (B) abheben, ohne daß sie die eben genannte Binnenperspektive aus- schließen (10), und schließlich werden Begriffe verwendet, die das Augenmerk auf bestimmte Dimensionen des Krieges (C) richten sollen (11,12).

Bei aller Vielfalt veranschaulichen diese Begriffe also die Einigkeit darüber, daß Feldpostbriefe in erster Linie als Quelle für die Beantwortung von Fragen gelten, die auf die »subjektive« Dimension von Geschichte gerichtet sind. Da diese Be- griffe jedoch selten näher definiert, zum Teil synonym verwendet und keineswegs immer systematisch auf die Quellen bezogen werden, können sie ihre Aufgabe, die Untersuchungen anzuleiten, oft nicht erfüllen. Ihre bunte Vielfalt verweist auf eine gewisse Beliebigkeit; der Feldpostbrief-Forschung fehlt weiterhin ein theore- tisch begründeter Zugriff, der die Frage nach dieser »subjektiven« Dimension struk- turieren, also systematisch orientieren könnte. Er sollte ihre Erkenntnisse genauer formulierbar, besser vergleichbar und schließlich wiederum für die historische Theorie fruchtbar machen. Ein Beispiel mag die Notwendigkeit der Begriffsklärung erläutern:

In seiner zusammenfassenden Schlußbetrachtung stellt Wolfram Wette im Hin- blick auf die Reaktionen in den einzelnen Ländern auf den Beginn des Zweiten Weltkrieges die Frage,

»ob — ausweislich der Feldpostbriefe — bei den Menschen der jeweiligen Na- tionen eine Kriegsmentalität anzutreffen war oder eine solche gewaltfördernde Disposition fehlte. Anders formuliert: Wie haben die wehrpflichtigen Soldaten [...] auf die Tatsache reagiert, daß ihr Land in den Krieg eintrat und daß sie nun selbst zum Kriegsdienst einrücken mußten? Gab es so etwas wie eine Kriegsbe- geisterung oder zumindest ein williges Akzeptieren der Lage? Oder war die Stimmung eher durch Fatalismus und Resignation gekennzeichnet? Gibt es auch den Fall, daß Feldpostbriefe eine Ablehnung des Krieges sowie eine wider- ständige Gefiihlslage erkennen lassen?5«

Der Unterschied zwischen Mentalitäten und Dispositionen einerseits, Stimmun- gen und Gefühlslagen andererseits ist jedoch nicht einer der Formulierung, sondern der Gegenstände: Mentalitäten gehören einer sehr viel langlebigeren Zeitschicht von »Subjektivität« an als eher kurzlebige, viel stärker auf je aktuelle Umstände

5 Wolfram Wette, In Worte gefaßt — Kriegskorrespondenz im internationalen Vergleich, in: Andere Helme (wie Anm. 3), S. 329-348, Zitat S. 335 f. (Hervorhebungen von mir).

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ansprechende Stimmungen und Gefühle; auch ist keine dieser Ebenen aus der je- weils anderen einfach abzuleiten. Am historischen Beispiel: Aus »Kriegsbegeiste- rung« in Deutschland zu Beginn des Ersten Weltkrieges ließe sich so wenig auf ei- ne entsprechende »Kriegsmentalität« schließen wie umgekehrt aus mangelnder Kriegsbegeisterung zu Beginn des Zweiten Weltkrieges auf eine vergleichsweise tiefer verwurzelte Distanz zum Krieg, eher war sogar das Gegenteil der Fall: Die innere — wenn man so will: mentale — Bindung insbesondere der Soldaten an das nationale Kriegsprojekt war im Zweiten Weltkrieg offensichtlich stärker und dau- erhafter als im Ersten. In der gern gebrauchten Formel von der »widerwilligen Loyalität«6 im September 1939 sind die beiden Ebenen treffend zusammengefaßt, freilich analytisch zu trennen: Mag, grob vereinfacht, die Stimmung im Verlaufe des Krieges anfangs widerwillig, später durchaus begeistert und schließlich fata- listisch bis verzweifelt gewesen sein, so blieb ungeachtet dieser Konjunkturen die Loyalität, also eine tiefer verwurzelte Art von Bindung, der Wehrmachtsoldaten doch erstaunlich konstant und langfristig wirksam. Für Untersuchungen, die etwa auf das Spektrum zwischen Anpassung und Widerstand abzielen, scheint mir ei- ne Unterscheidung wie die genannte unabdingbar.

2. Das Problem der Methoden

Wette betont zwei Umstände, die bei der Analyse von Feldpostbriefen auf alle Fäl- le zu berücksichtigen sind: zum einen den meist unsystematischen und zudem zu- fälligen, also kaum repräsentativen Charakter der Briefsammlungen, die für die Forschung zur Verfügung stehen, wodurch die Generalisierung von Aussagen er- heblich erschwert wird; zum anderen die Bedeutung der äußeren und inneren Zen- sur für den Inhalt der Briefe7. Das Problem der Repräsentativität wird im folgen- den Abschnitt behandelt, zunächst zur Frage der Methoden: Auf welchem Wege läßt sich zu gesicherten Erkenntnissen über die Aussagen von Feldpostbriefen ge- langen?

Einhellig wird in den Beiträgen des Bandes darauf verwiesen, die Bedeutung der Zensur in Rechnung zu stellen, und die Darlegungen über die Art und Weise, wie die Zensur in den verschiedenen Ländern gehandhabt wurde, geben detail- lierte Einblicke in deren Praxis. Fast genauso einhellig werden aber darüber hin- ausgehende Ausführungen über die verwendeten Untersuchungsmethoden ver- mieden. Einzig Robert Streibel reflektiert in seiner zusammenfassenden Betrachtung die methodischen Voraussetzungen, die seine Analyse der »Sklavensprache« in Feldpostbriefen erfüllen mußte: »Deutlich wird, daß eine Analyse, die sich nur auf die Analyse des Wortschatzes, der Lexik, beschränkt, um so die Ideologierelevanz zu definieren, bei weitem zu kurz greift.« Nur in einer »erweiterten >Diskursana- lyse<«, die »nicht nur das innersprachliche, sondern auch das biographische Um-

6 Der Begriff zuerst bei Helmut Krausnick und Hermann Graml, Der deutsche'Widerstand und die Alliierten, in: Vollmacht des Gewissens, Bd 2, Frankfurt a.M. 1965, S. 475-521, hier S. 482; vgl. Wilhelm Deist, Überlegungen zur »widerwilligen Loyalität« der Deut- schen bei Kriegsbeginn, in: Der Zweite Weltkrieg. Analysen, Grundzüge, Forschungsbi- lanz, hrsg. von Wolfgang Michalka, München 1989, S. 224-239.

7 Wette, Worte (wie Anm. 5), S. 334. Zur Zensur siehe unten, S. 21 und Anm. 57.

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6 MGM 56 (1997) Klaus Latzel feld in die Betrachtung« einbezog, konnten die Sprachstrategien entschlüsselt wer- den, die seine Protagonisten verfolgten, um der Zensur zu entgehen8.

Und Margaretta Jolly, die allerdings keine inhaltliche Briefanalyse vornimmt, be- tont, »daß das Schreiben [von Feldpostbriefen] mehr war als nur ein Mittel zur Kommunikation, nämlich ein neues Forum für die allgemeine Kreativität. Im Hin- blick darauf ist es nötig, Briefe als Texte zu lesen, die nicht nur einfachen histori- schen Erzählungen ähneln, sondern die eine Methodologie erfordern, die Litera- turkritiker für den Bereich der Briefstudien entwickelt haben9

In den übrigen Beiträgen aber enthält man sich jeglicher Hinweise auf die ver- wendeten Untersuchungsmethoden. Faktisch wird die Argumentation dann ge- wöhnlich um eine Auswahl von Briefzitaten zu den jeweils interessierenden The- menbereichen aufgebaut, die hermeneutisch interpretiert und in unterschiedlichem Ausmaß in weitere historische Zusammenhänge eingebettet werden. Ob die Aus- sagen über den Inhalt der Quellen systematisch oder eher impressionistisch ge- wonnen wurden, welcher Status den Zitaten (Begründung oder Illustration) zu- kommt, bleibt dabei offen, der Begründungsstatus von Illustrationen wird freilich impliziert. So anschaulich die expressive Qualität der Quellen dabei auch wird, so unklar bleibt doch meist der Rahmen, innerhalb dessen die Untersuchungsergeb- nisse Gültigkeit beanspruchen können.

3. Die Probleme von Repräsentativität und Generalisierung

Prinzipiell ist es zunächst gleichgültig, ob einer Analyse die Briefe weniger10 oder vieler Absender/innen11 oder Briefauszüge aus den Feldpostprüfstellen12 zugrun- de liegen. Auch hier hängt zunächst alles von der Art der Fragestellung an die

8 Robert Streibel, »So sind unsere Landsleute eben.« Über den Krieg, die österreichische Heimat und den Sieg, in: Andere Helme (wie Anm. 3), S. 59-80, hier S. 74 f.

9 Margaretta Jolly, Briefe, Moral und Geschlecht. Britische und amerikanische Analysen von Briefen aus dem Zweiten Weltkrieg, in: Andere Helme (wie Anm. 3), S. 173-203, Zi- tat S. 173.

10 So den Beiträgen zu Andere Helme (wie Anm. 3) von Streibel, Landsleute (wie Anm. 8);

Sändor Szakäly, »Es wäre schön, zur Weinlese wieder daheim zu sein.« Ungarische Kriegs- post aus den Jahren 1942 und 1943 (S. 81-98); Ulrike Jordan, »This silly old war ...« Brie- fe englischer Frauen an die Front (S. 237-256) und Johanna Pfund, »Zurück nach Hau- se!« Aus Feldpostbriefen amerikanischer GIs (S. 283-305).

11 So den Beiträgen von Klaus-Robert Heinemann, Der »Sturm der Götter« kann uns ret- ten. Aus Briefen japanischer Kamikaze-Flieger und anderer Soldaten (S. 99-112); Sabine Rosemarie Arnold, »]ch bin bisher noch lebendig und gesund.« Briefe von Fronten des sowjetischen »Großen Vaterländischen Krieges« (S. 135-156); Angela Schwarz, »Mit dem größtmöglichen Anstand weitermachen.« Briefe britischer Kriegsteilnehmer und ihrer Angehörigen im Zweiten Weltkrieg (S. 205-236); Jeff Keshen und David Mills, »Ich be- reite mich auf den Tag vor, da es zu Ende geht!« Briefwechsel von Kanadierinnen und Kanadiern im Krieg (S. 257-282) und Judy Β. Litoff und David C. Smith, »Macht Euren Job und kommt bald heim!« Briefe amerikanischer Frauen an die Fronten (S. 307-327).

12 So den Beiträgen von Detlef Vogel, »Aber man muß halt gehn, und wenn es in den Tod ist.« Der deutsche Kriegsalltag im Spiegel von Feldpostbriefen (S. 37-57); Nicola della Volpe, »Werden wir es jemals schaffen, nach Italien heimzukehren?« (S. 113-134) und Georges Coudry, »Es sind immer die gleichen, die kämpfen und sich opfern.« Feldpost- briefe von Soldaten der 1. französischen Armee (1944/45) (S. 157-172).

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Quellen ab. Die Heterogenität der Quellenbasis, auf der die einzelnen Beiträge des Bandes jeweils beruhen, erschwert jedoch die Vergleichbarkeit von deren Aussa- gen ganz erheblich. Die Reichweite, die diese Aussagen beanspruchen können, ist natürlich etwa für die 83 Briefe einer ungarischen Bauernfamilie viel geringer als für die 30 000 Briefe von 500 amerikanischen Frauen aus allen Gesellschafts- schichten13. Fallen zudem die Hinweise auf die Herkunft der Quellen, die in allen Beiträgen gegeben werden (Archive, private Sammlungen, Briefeditionen), oder auf die angelegten Kriterien der Quellenauswahl allzu summarisch oder unklar aus14, dann läßt sich die Reichweite möglicher Aussagen kaum noch feststellen.

Die Bedeutung, die den damit auftretenden Problemen der Repräsentativität der Quellenbasis und der möglichen Generalisierung von Befunden zukommt, hängt ebenfalls zunächst von der Art der Fragestellung an die Quellen ab. An ex- plorative Untersuchungen mit dem Ziel der Thesenbildung sind in dieser Hinsicht geringere Anforderungen zu richten; ausweichen läßt sich diesen Problemen frei- lich nicht. Welche Wege zu ihrer Lösung werden in dem Band eingeschlagen?

Zunächst zu einigen Bemerkungen über die Verallgemeinerungsfähigkeit je- weils weniger Briefserien. Streibel konstatiert über eine Korrespondenz, an der vier Personen beteiligt waren: »Diese Briefwechsel spiegeln das Denken eines Teils der politisch bewußten Kritiker des Nationalsozialismus wider [...]«1S, ohne aber die- se Einschätzung näher zu erläutern.

Bei Sändor Szakäly heißt es:

»Der Analyse liegt nicht eine großangelegte Stichprobenerhebung zugrunde, vielmehr orientiert sie sich an der wechselseitigen Korrespondenz einer einzi- gen Familie. Aus eben diesem Grunde kann natürlich nicht ausgeschlossen wer- den, daß es von dem hier vermittelten Bild auch andere, abweichende Er- scheinungen gegeben haben könnte. In Kenntnis der Umstände können wir al- lerdings sagen, daß der Lagebericht, den diese Korrespondenz widerspiegelt, im großen und ganzen verallgemeinert werden kann16

Man kann dieser Behauptung Glauben schenken; wenn aber die Kenntnis der — leider nicht weiter qualifizierten — Umstände bereits so bemessen ist, daß sie er- laubt, über die Allgemeingültigkeit einer einzigen Korrespondenz zu entscheiden, welche über diese Kenntnis hinausgehenden Erkenntnisse können die Briefe dann eigentlich noch bieten? Die Argumentation ist nur unter der Voraussetzung trif- tig, daß die Feldpostbriefe illustrativ zur Veranschaulichung des schon Bekannten verwendet werden. In dieser Funktion wäre die Frage nach ihrer Repräsentativität freilich unerheblich, denn wenn den Briefen keine genuine Aussagekraft zugetraut wird, die durch keine andere Quelle ersetzt werden kann, darin stellt sich auch die Frage nach ihrer Repräsentativität nicht.

Anders und schließlich doch ähnlich die Argumentation von Ulrike Jordan:

»Bewußt wurde keine generalisierende Aussage angestrebt. Dies ist bei einer willkürlichen Quellenauswahl nicht möglich. Gleichwohl zeigen die ausge- wählten Briefe [...], daß es gruppenspezifische Betrachtungsweisen gibt, die sich aus sozialen, geographischen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt auch ge-

13 In den Beiträgen von Szakäly, Weinlese (wie Anm. 10) bzw. Litoff/Smith, Job (wie Anm. 11).

14 Besonders in den Bemerkungen von Vogel, Tod (wie Anm. 12), S. 55, Anm. 1; Schwarz, Aufstand (wie Anm. 11), S. 207 f. und Keshen/Mills, Tag (wie Anm. 11), S. 257.

15 Streibel, Landsleute (wie Anm. 8), S. 62.

16 Szakäly, Weinlese (wie Anm. 10), S. 87 f.

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8 MGM 56 (1997) Klaus Latzel nerationsbedingten Umständen herleiten. Sie ermöglichen somit nicht mehr, aber auch nicht weniger als den vertieften Blick in individuelle Lebenswelten17

Hier fällt die Antwort widersprüchlich aus: Da Repräsentativität nicht herzustel- len ist, wird sie zunächst auch nicht behauptet, sondern dafür eine Leistung der Quelle benannt, die, so könnte m a n ergänzen, sie von anderen Quellen unter- scheidet, also ihre spezifische Qualität ausmacht: sie gewähre »vertieften« Einblick in »individuelle Lebenswelten«. Implizit wird dann freilich doch Repräsentativität behauptet: Wenn einzelne, individuelle Zeugnisse (je eine Briefschreiberin aus der

»Oberschicht«, aus der »Schicht des unabhängigen Unternehmertums«, aus »aka- demischen Kreisen« und aus der unteren Mittelschicht) zugleich »gruppenspezi- fische Betrachtungsweisen« zeigen können, dann setzt das die zunächst vernein- te Generalisierungsfähigkeit dieser Zeugnisse wieder voraus, es sei denn, man be- schränkt sich auf deren Verwendung zur Illustration bereits bekannter »gruppen- spezifischer Betrachtungsweisen«, u m damit wie Szakäly vor dem Problem zu stehen, in den Quellen nichts genuin Neues finden zu können und damit die Fra- ge nach der Generalisierung überflüssig zu machen18.

Diese Antworten bleiben also unbefriedigend. Eine weitere geben Judy Β. Li- toff und David C. Smith:

»Es ist unmöglich festzustellen, ob die 30 000 von uns gesammelten Briefe für die Milliarden von Briefen charakteristisch sind, die von amerikanischen Frau- en während des Zweiten Weltkrieges verfaßt wurden. Dennoch, nach dem, was Linda Gordon als das methodologische Prinzip der ausreichenden Menge< be- zeichnet hat, können wir ziemlich sicher sein, daß wir eine typische Auswahl der verschiedenen Arten von Briefen ausfindig gemacht haben, die von Frau- en während des Zweiten Weltkrieges geschrieben wurden19

Das Kriterium, das Gordon angibt20, u m eine Auswahl als ausreichend zu be- zeichnen, ist kein quantitatives etwa im Sinne einer bestimmten Samplegröße, son- dern eines der Erfahrung im Forschungsgang: Ab einer nicht a priori zu bestim- menden, aber schließlich erkennbaren Menge vorhandener Quellen scheint die in- haltliche Variation der Aussagen dieser Quellen erschöpft, ein Phänomen, das vie- len aus der Forschungspraxis bekannt sein wird. Bricht man also an diesem Punkt die weitere Sammlung von Quellen ab, so ist das zwar mit Unsicherheiten behaf- tet, denn natürlich läßt sich das unerwartete Auftauchen neuer Aspekte nie aus- schließen, doch trifft dies im Prinzip auch für eine streng repräsentative Quel-

17 Jordan, Silly old war (wie Anm. 10), S. 238.

18 Unzureichend ist auch die Argumentation von Coudry, Immer die gleichen (wie Anm. 12), der eine Analogie bemüht, wo eine Begründung stehen müßte: »>So wie eine Garbe Wei- zen genügt, um die ganze Ernte zu symbolisieren^ geben uns diese wenigen Zeugnisse wenn schon kein umfassendes, so doch ein im Detail zutreffendes Bild von dem, was viele Kriegsteilnehmer dachten und was sie erlitten.« (S. 157).

19 Litoff/Smith, Job (wie Anm. 11), S. 310. Litoff/Smith haben weitere Kriterien bei ihrer Sammlung von Briefen beachtet, in erster Linie eine möglichst weitgehende Streuung der sozialen und geographischen Herkunft der Briefschreiberinnen (S. 308).

20 Linda Gordon, Social Insurance and Public Assistance: The Influence of Gender on Welfare Thought in the United States, 1890-1935, in: American Historical Review, 97 (1992), S. 19-54, hier S. 22: »I make no claims to have assembled an inclusive or representative list, but, on the principle of saturation, I doubt that the addition of more people would alter my find- ings.« Ihre Auswahl besteht aus je 76 Frauen und Männern, welche »national leaders of welfare reform movements from 1890 to 1935« waren. Diese Argumentation ist natürlich um so plausibler, je überschaubarer die Grundgesamtheit ist, aus der die Auswahl stammt.

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lenauswahl zu. Die Konsequenz ist zum einen der Verzicht auf Aussagen über Ver- teilungsgrößen in der Grundgesamtheit, für welche die Quellen stehen; zum an- deren wird der Charme der pragmatischen Lösung mit dem Nachteil eines eher von Intuition und Forschungserfahrung als von nachprüfbaren Kriterien bestimmten Vorgehens erkauft. Ist, wenn dies eingeräumt wird, die Argumentation von Litoff und Smith plausibel?

Ihre an der wichtigsten Stelle unklare Formulierung verhindert leider eine kla- re Antwort. Ist mit der wenig eindeutigen Wendung: »typische Auswahl der ver- schiedenen Arten von Briefen« gemeint, daß über die im Sample versammelten Briefarten hinaus in der Grundgesamtheit von Frauenbriefen keine weiteren Brief- arten mehr zu erwarten sind? Liegt das »Typische« der Auswahl also darin, daß (vermutlich) alle in der Grundgesamtheit vorkommenden »verschiedenen Arten von Briefen« auch in ihr enthalten sind, nur die Abbildung von deren Verteilungen nicht berücksichtigt ist? Dann hängt die Triftigkeit des Arguments davon ab, was unter den »verschiedenen Arten von Briefen« zu verstehen ist, doch bleibt das und damit ein wesentlicher Bestandteil des Arguments leider offen. Im Prinzip wäre diese Lücke in der Argumentation jedoch zu schließen.

Die Verwendung des Wörtchens »typisch« signalisiert nicht nur in diesem Fall eher das Problem, als daß es schon die Lösung mit sich führte. Formulierungen wie »typische Auswahl« oder »typische Sachverhalte«21 vermeiden zwar den Be- griff der Repräsentativität, doch müssen sie sich dann neuen Fragen stellen: In wel- cher der möglichen Bedeutungen wird »typisch« verwendet22? Wenn »typisch« als eine Art weniger exakt auszuweisendes Äquivalent zur statistischen Repräsenta- tivität eingesetzt wird: wofür wäre dann etwas jeweils typisch (für den zugrunde- liegenden Quellenbestand, für eine bestimmte Gruppe von Personen etc.), und wie ließe sich das begründen?

Eine weitere pragmatische, aber besonders unbefriedigende Lösung des Pro- blems der Generalisierung ist die des »exemplarischen« Zitierens, die gern bei der Analyse umfangreicherer Quellenbestände verwendet wird:

»Spätestens Ende 1944 kamen einigen doch Bedenken, ob solche Verhaltens- weisen [der rücksichtslosen deutschen Besatzungspolitik in der Sowjetunion]

gerechtfertigt wären. Manche Briefschreiber gaben jedenfalls zu erkennen, daß sie die offiziellen Parolen allmählich durchschauten. Nicht wenige sahen sich mißbraucht, als > Kanonenfutter benutzt und fühlten oft Mitleid mit Ihresglei- chen in der Fremde: >Wir müssen uns auch selber verpflegen, dem armen Zivil müssen wir Schweine, Hühner, Gänse, Kühe abholen, damit wir was zu essen haben<, schrieb beispielsweise ein Gefreiter im August 1944 von der Ostfront23

So, wie ich es in diesem Falle auch gemacht habe, werden dabei allgemeine The- sen anhand einzelner Briefbeispiele vermeintlich belegt, tatsächlich aber nur illu- striert. Mit Hilfe tentativer Quantifizierungen (manche, einige, nicht wenige, vie- le Soldaten; oft, selten etc.) werden imaginäre Gruppen unterschiedlicher Größe gebildet, denen die einzelnen Aussagen als typisch zugeschrieben werden. Auch

21 Litoff/Smith, Job (wie Anm. 11), S. 210; Wette, Worte (wie Anm. 5), S. 334.

22 Heiner Schultz, Begriffsgeschichte und Argumentationsgeschichte, in: Historische Se- mantik und Begriffsgeschichte, hrsg. von Reinhart Koselleck, Stuttgart 1979 (= Sprache und Geschichte, Bd 1), S. 43-74, nennt als Bedeutungen von »typisch«: »in inhaltlichem Sinne differenziert«, »in zeitlichem Sinne initiativ«, »in quantitativem Sinne repräsenta- tiv«, »in sozialem Sinne folgenreich« (S. 51).

23 Vogel, Tod (wie Anm. 12), S. 52.

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10 MGM 56 (1997) Klaus Latzel dieses eher impressionistische Verfahren verweigert die Auskunft über den Weg, auf dem seine Ergebnisse gewonnen wurden, und die Pseudoverteilungen sind wenig aussagekräftig.

II. Erfahrungsgeschichte — eine Konzeption

1. Die Perspektive auf die historischen Akteure

Die oben genannten begrifflichen Probleme sind weder spezifisch für den hier her- angezogenen Sammelband noch für die historische Feldpostforschung insgesamt24, sondern sie spiegeln den gegenwärtigen Diskussionsstand um im weitesten Sinne kulturwissenschaftliche Ansätze in der Geschichte wider. Zwar ist die theoretische Kritik an der Historischen Sozialwissenschaft vornehmlich Bielefelder Prägung mittlerweile so überzeugend vorgetragen worden, daß allenthalben die Möglich- keiten ihrer kulturgeschichtlichen Erweiterung diskutiert werden25. Das zentrale Ar- gument der Kritik beanstandet die Vernachlässigung der Dimension der histori- schen Akteure zugunsten einer höchst einseitigen Privilegierung übergreifender Strukturen und Prozesse. Da Historische Sozialwissenschaft aber nicht umhin kann, von Geschichte und mithin von Veränderungen in der Zeit zu sprechen, hat sie, in einer »kategoriale[n] Verwechslung« von wissenschaftlichem Ordnungsbegriff und historischem Referenzobjekt, Strukturen und Prozesse implizit und vielfach auch explizit zu historischen Akteuren erhoben26.

Nun ist sich die Kritik zwar darin einig, daß »Handlungen, Deutungen, Ideo- logien, Diskurse und Mythen« konstitutiv zur Sozialgeschichte gezählt werden müssen27, doch macht sie meist vor einer theoretischen Entfaltung dieser Begriffe halt28. Insbesondere wird die theoretische Auseinandersetzung der Nachbarwis-

24 Ein weiteres jüngeres Beispiel, das diese Kritik bestätigt, ist die sonst beeindruckende (nicht auf die Auswertung von Feldpostbriefen beschränkte) Zusammenschau von Ste- phen G. Fritz, Frontsoldaten. The German Soldier in World War II, Lexington, Ken. 1995.

25 Vgl. zuletzt Kulturgeschichte Heute. 12 Beiträge, hrsg. von Wolfgang Hard twig u n d Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1996 (= Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 16).

26 Reinhard Sieder, Sozialgeschichte auf dem Weg zu einer historischen Kulturwissen- schaft?, in: GG, 20 (1994), S. 445-168, hier S. 446 f. Sieder entwirft hier Perspektiven ei- ner »kulturwissenschaftlich erweiterten Sozialgeschichte (oder, was immer mehr auf dasselbe hinausläuft: einer verstehenden Historischen Soziologie)« (S. 465). Dazu auch Ute Daniel, Quo vadis, Sozialgeschichte? Kleines Plädoyer für eine hermeneutische Wen- de, in: Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion, hrsg. von Winfried Schulze, Göttingen 1994, S. 54r-64; Alf Lüdtke, Stofflichkeit, Macht-Lust und Reiz der Oberflächen. Zu den Perspektiven von Alltagsgeschichte, in: ebd., S. 65-80;

ders., Einleitung. Was ist und wer treibt Alltagsgeschichte?, in: Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, hrsg. von Alf Lüdtke, Frank- furt a. M., New York 1989, S. 9-47.

27 Sieder, Sozialgeschichte (wie Anm. 26), S. 449.

28 Vgl. aber z.B. Reinhart Koselleck, >Erfahrungsraum< und >Erwartungshorizont< — zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zei- ten, Frankfurt a.M. 1989, S. 349-375; Peter Schöttler, Mentalitäten, Ideologien, Diskurse.

Zur sozialgeschichtlichen Thematisierung der »dritten Ebene«, in: Alltagsgeschichte (wie Anm. 26), S. 85-136; Jörn Rüsen, Die vier Typen des historischen Erzählens, in: ders., Zeit

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s e n s c h a f t e n m i t d e m u b i q u i t ä r v e r w e n d e t e n Begriff » E r f a h r u n g « , m i t d e m P r o - b l e m der Konstitution v o n Sinn u n d m i t der k o n s t i t u t i v e n B e d e u t u n g , d i e d e r Spra- che d a b e i z u k o m m t , in d e r G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t u n d a u c h speziell i n d e r n e u e - r e n Militär- u n d Kriegsgeschichte n o c h z u w e n i g beachtet2 9. I m G e g e n s a t z z u r Feld- p o s t b r i e f - F o r s c h u n g ist die theoretische Reflexion in Oral-History-Projekten z u N a - t i o n a l s o z i a l i s m u s u n d Z w e i t e m Weltkrieg, d e r e n t h e o r e t i s c h e u n d m e t h o d i s c h e P r o b l e m e z u m Teil g a n z ä h n l i c h g e l a g e r t s i n d , d e u t l i c h w e i t e r gediehen3 0.

Ich m ö c h t e i m f o l g e n d e n d i e T h e s e b e g r ü n d e n , d a ß ein s o z i a l p h ä n o m e n o l o - gisch i n f o r m i e r t e r Begriff v o n E r f a h r u n g einerseits g e n a u e r u n d a n d e r e r s e i t s u m - f a s s e n d e r als d i e b i s l a n g v o r n e h m l i c h v e r w e n d e t e n K o n z e p t i o n e n v o n Alltag o d e r M e n t a l i t ä t g e e i g n e t ist, d a s Interesse a n d e r »subjektiven« D i m e n s i o n v o n Kriegs- geschichte begrifflich z u f a s s e n u n d d i e F r a g e s t e l l u n g e n f ü r i h r e U n t e r s u c h u n g z u s t r u k t u r i e r e n . Ich b e z i e h e m i c h d a b e i auf eine i n d e r p h ä n o m e n o l o g i s c h e n Sozio- logie3 1 e n t w i c k e l t e K o n z e p t i o n v o n E r f a h r u n g , d i e seit l a n g e m vorliegt u n d a u c h in d e r T h e o r i e d i s k u s s i o n d e r G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t l a n g s a m a n E i n f l u ß g e w o n - n e n hat3 2. Bei d e r A n a l y s e v o n F e l d p o s t b r i e f e n w i r d sie h i n u n d w i e d e r als Refe- r e n z benannt3 3, i n i h r e n t h e o r e t i s c h e n u n d m e t h o d i s c h e n K o n s e q u e n z e n aber n i c h t wirklich rezipiert u n d umgesetzt. Die n a c h f o l g e n d e n Ü b e r l e g u n g e n greifen z u n ä c h s t

und Sinn. Strategien historischen Denkens, Frankfurt a.M. 1990, S. 153-230, hier S. 167-171;

Lutz Niethammer, Fragen — Antworten — Fragen, in: »Wir kriegen jetzt andere Zeiten«.

Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern. Lebens- geschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet (LUSIR) Bd 3, hrsg. von Lutz Niethammer und Alexander v. Plato, Berlin, Bonn 1985, S. 392-445, hier S. 428 f.; Karin Hartewig, »Wer sich in Gefahr begibt, kommt (nicht) darin um«, sondern macht eine Erfahrung! Erfah- rungsgeschichte als Beitrag zu einer historischen Sozialwissenschaft der Interpretation, in: Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Älltagsge- schichte, hrsg. von der Berliner Geschichtswerkstatt, Münster 1994, S. 110-124; Carola Lipp, Alltagskulturforschung in der empirischen Kulturwissenschaft und Volkskunde, in: ebd., S. 78-93.

29 Eine konzise theoretische Skizze zur Kriegserfahrung findet sich bei Reinhart Koselleck, Der Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein, in: Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, hrsg. von Wolfram Wette, München 1992, S. 324-343, hier S. 324-333.

30 Vgl. etwa Niethammer, Fragen (wie Anm. 28); Hans Joachim Schröder, Die Vergegen- wärtigung des Zweiten Weltkriegs in biographischen Interviewerzählungen, in: MGM, 49 (1991), S. 9-37; Gabriele Rosenthal, Die erzählte Lebensgeschichte als historisch-so- ziale Realität. Methodologische Implikationen für die Analyse biographischer Texte, in:

Alltagskultur (wie Anm. 28), S. 125-138.

31 Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verste- hende Soziologie (1932), 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1981. Weitergeführt in: ders. und Tho- . mas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt (1975), 2 Bde, Frankfurt a.M. 1979 und 1984;

ferner Peter L. Berger und Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie (amerikan. Ausg. 1966), Frankfurt a.M.

1980.

32 Die folgenden theoretischen und methodischen Überlegungen sind teilweise in die Kon- zeption und Durchführung meiner Dissertation (wie Anm. 3) eingegangen (dort auch die einschlägige Literatur), teilweise führen sie darüber hinaus. Vgl. auch die von der Intention her ähnlichen, vornehmlich auf die Oral-History-Forschung bezogenen Über- legungen bei Schröder, Vergegenwärtigung (wie Anm. 30).

33 Etwa bei Klara Löffler, Aufgehoben: Soldatenbriefe aus dem Zweiten Weltkrieg. Eine Studie zur subjektiven Wirklichkeit des Krieges, Bamberg 1992 (= Regensburger Schrif- ten zur Volkskunde, Bd 9), S. 51, oder Peter Knoch, Erleben und Nacherleben: Das Kriegs- erlebnis im Augenzeugenbericht und im Geschichtsunterricht, in: Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch... Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, hrsg. von Gerhard

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12 M G M 56 (1997) Klaus Latzel diese Erfahrungskonzeption auf und leiten dann daraus einen Begriff von Erfah- rungsgeschichte ab, um anschließend Vorschläge zur systematischen Anwendung dieser Konzeption auf die Untersuchung von Kriegserfahrung generell und speziell auf die Analyse von Kriegserfahrung in Feldpostbriefen zu formulieren.

2. Eine K r i e g s e r f a h r u n g

Am 20. Juli 1941 schreibt der zwanzigjährige Soldat Hans Olte an seine Eltern:

»So und nun will ich Euch einmal etwas von den russischen Verhältnissen schil- dern. [...] Das schlimmste bei der ganzen Sache ist [...] daß hier die Straßen un- ter aller Sau sind. Die Bevölkerung ist sehr freundlich. Wir kommen ja meistens in ein kleines Bauerndörfchen, w o zum Teil noch nie deutsche Landser gewe- . sen waren. Da könntet Ihr einmal etwas erleben. Von dem wenigen was diese Leute besitzen geben sie aber den deutschen Soldaten fast alles was sie besit- zen. Man kann ja gar nicht alles schreiben, wie der Kommunismus dieses arme Volk geknechtet hat. Wir hatten ja das Buch von Dwinger34, >Und Gott Schweigt<.

Es ist nicht viel übertrieben35

Bekanntlich lassen sich derartige Quellen unter zwei Perspektiven betrachten: Die eine besteht darin, Oltes Blick einfach zu folgen, also seinen Brief als Quelle über die Menschen und die Lebensverhältnisse in der Sowjetunion zu lesen. Die ande- re Perspektive richtet sich dagegen auf den Urheber der Quelle, sie fragt vor- nehmlich nach dem Subjekt, nicht nach dem Objekt des Blickes. Inwiefern also ver- rät uns die zitierte Quelle etwas über Olte?

Aus der zitierten Briefpassage läßt sich bereits in nuce die Struktur der Kon- stitution von Erfahrung gewinnen. Olte schreibt von Erlebnissen (verheerende Straßenverhältnisse, freundliche, arme, unterdrückte Menschen), die ihm als kon- krete Eindrücke völlig neu sind. Dennoch überraschen sie ihn nicht, denn er ver- fügt über einen Vorrat an Wissen, der ihm die Erklärung liefert für das, was er sieht:

Die Menschen leben in Armut und Elend — das ist kein Wunder, denn sie leben un- ter dem Kommunismus. »Wir hatten ja das Buch von Dwinger« heißt also: wir wußten es ja schon, hatten es nur noch nicht gesehen, nicht selbst erlebt. Oltes ak- tuelle Erlebnisse und sein Vorwissen können integriert werden, mit anderen Wor- ten: Wir sind Zeugen eines Prozesses der Sinnbildung geworden, oder wiederum anders: Wir konnten Olte bei der Produktion von Erfahrung beobachten.

Der Ausdruck »Produktion« wurde bewußt gewählt. Die Umgangssprache weiß, daß Erfahrungen »gemacht« werden; dieses Wissen soll nun systematischer gefaßt werden.

Hirschfeld und Gerd Krumeich in Verbindung mit Irina Renz, Essen 1993, S. 199-219, hier S. 199 f.

34 Edwin Erich Dwinger, Und Gott schweigt. Bericht und Aufruf, Jena 1936. Die Gefühle des Mitleids und der Empörung, die in den teilweise ergreifenden Hungerszenen dieses viel- gelesenen Buches erweckt werden, und der Appell an Menschenrechte und Gerechtig- keit, der darin oft vorgetragen wird, werden perfiderweise zum Vehikel des Rassismus, indem Dwinger die Folgen der Unmenschlichkeit als genuine Eigenschaften ihrer Opfer präsentiert.

35 Einzelnachweise bei Latzel, Kriegsbriefe (wie Anm. 3), Teil I.

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3. Begriffe

a) Erlebnis

Die für die Konzeption von Erfahrung benötigten Begriffe sind soeben alle schon verwendet worden: Erlebnis, Wissensvorrat, Sinnbildung. Grob verkürzt und auf das Wesentliche konzentriert, läßt sich das Verhältnis von Erlebnis, Sinnstiftung und Erfahrung wie folgt darstellen:

Ob im zivilen Alltag oder unter den Bedingungen des Krieges, die menschlichen Sinne werden permanent von einem unablässigen Strom äußerer und innerer Im- pulse gereizt. Am Beispiel Oltes: er märschiert über die russischen Straßen, die Füße schmerzen, die Mücken stechen, der Staub und die Läuse beißen, die Sonne und der Durst brennen; er sieht sich einer Fülle von Landschaften, Dörfern, Städ- ten und deren Bewohnern gegenüber, er ist mit einer Vielzahl von Kameraden Tag und Nacht zusammen. Er hört den Lärm der Schlacht, er schießt auf sowjetische Flugzeuge, er ermordet angebliche Partisanen. Er sieht die Leichen seiner Kame- raden und der Soldaten der Roten Armee. Er schwitzt oder friert, ist mutig oder fei- ge, ausgeglichen oder aggressiv, er leidet unter Heimweh, Schlaflosigkeit, Lange- weile oder erfreut sich an der überwältigenden Wirkung der eigenen Waffen.

All dies hier nur grob Angedeutete und vieles andere mehr ließe sich analy- tisch in eine Unzahl von einzelnen Eindrücken und Sinnesdaten auflösen, die von innen und außen auf Olte einströmen. In diesem undifferenzierten und unreflek- tierten Strom »werdender und entwerdender«36, ständig ineinander übergehender Impressionen lebt Olte. Solche Impressionen sind per definitionem individuell, an den je eigenen Körper und die je eigene Perspektive gebunden. In ihrer Masse sind sie diffus, doch ihre Wahrnehmung ist selektiv. Um sich in der Fülle körperlicher und seelischer Sensationen nicht zu verlieren, ist Olte darauf angewiesen, diese beständig in wichtige und unwichtige zu sortieren. Manche werden kaum regi- striert, anderen hingegen wird besondere Aufmerksamkeit zuteil: Wenn aus der überwältigenden Fülle der Eindrücke bestimmte abgegrenzt, also gegenüber an- deren hervorgehoben werden, ist die erste Voraussetzung geschaffen, diese Im- pressionen mit Sinn zu versehen: sie sind zu Erlebnissen geworden. Wie werden n u n diese Erlebnisse zu Erfahrungen?

b) Wissensvorrat u n d Sinnstiftung

Wir haben oben gesehen, daß Olte mit bestimmten Bildern im Kopf in den Krieg gezogen ist, die sein Vorwissen von den Lebensverhältnissen in der Sowjetunion ausmachten. Diese Bilder sind nicht seine Privatsache, sondern Bestandteil des ge- sellschaftlichen Wissensvorrats seiner Zeit. Ein solcher Vorrat an sozialem Wissen besteht nur zum geringeren Teil aus elaborierten Urteilen, Vorurteilen oder aus- formulierten Weltanschauungen, wie Olte sie unter anderem aus dem »Bericht«

36 Schütz, Aufbau (wie Anm. 31), S. 50.

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14 MGM 56 (1997) Klaus Latzel Dwingers bezogen hatte. Der größte Teil dieses Wissens ist vielmehr praktische^ Be- wußtsein, ist Routinewissen für das tägliche Leben, umfaßt insbesondere typisierte alltägliche Handlungsweisen und die Bedeutungsstrukturen der Sprache. Das In- dividuum eignet sich den Wissensvorrat in den Prozessen primärer und sekundä- rer Sozialisation an. Dieser Vorrat schafft Sinn im weitesten Sinne, indem er dem Individuum seine alltägliche Welt nicht nur verständlich, sondern tendenziell selbst- verständlich macht.

Dies vorausgeschickt, kann Sinnstiftung für ein Erlebnis als Ergebnis eines Ver- gleichs bestimmt werden: Das Erlebte wird mit dem gesellschaftlichen Wissen ab- geglichen, das hierfür zur Verfügung steht. Gelingt dieser Vergleich, dann ist das Erlebnis mit Sinn versehen und zur Erfahrung geworden. Und Erfahrungen wer- den nicht nur gemacht, sondern auch gespeichert: Die Erlebnisse und ihre Sinn- stiftungen lagern sich im Bewußtsein oder im Unbewußten, jedenfalls im Gedächtnis ab, und zwar in Schichten unterschiedlicher Tiefe und Zugänglichkeit, die ihrerseits die je aktuellen Wahrnehmungen formen.

c) Erfahrung

Erfahrungen sind also gelungene Auslegungen oder Interpretationen von aktiven und passiven Erlebnissen. Sie können quasi unbewußt oder auf unterschiedlichen Niveaus der Reflexion gemacht werden, was an ihrer Struktur nichts ändert. Sie schichten sich im Verlaufe des Lebens auf und gruppieren sich zu größeren Er- fahrungszusammenhängen, die in ihrer Gesamtheit Gedächtnis und persönliche, aber gesellschaftlich vermittelte Identität bilden:

»Erfahrung ist gegenwärtige Vergangenheit, deren Ereignisse einverleibt wor- den sind und erinnert werden können. Sowohl rationale Verarbeitung wie un- bewußte Verhaltensweisen, die nicht oder nicht mehr im Wissen präsent sein müssen, schließen sich in der Erfahrung zusammen. Ferner ist in der je eige- nen Erfahrung, durch Generationen oder Institutionen vermittelt, immer frem- de Erfahrung enthalten und aufgehoben37

Gelingen einer Sinnstiftung muß nicht heißen, daß die Übereinstimmung zwischen Vorwissen und Erlebnis bis zur Kongruenz geht. Dann würden frühere Erfahrun- gen immer nur bestätigt, aber niemals neue Erfahrungen gemacht. Es reicht aus, wenn die Deckung zwischen Erlebnis und bereitstehendem Sinnpotential so groß ist, daß das Erlebnis nicht sinnlos bleiben muß und damit verstörend wird, ein Zu- stand, der Identität bedrohen kann.

Reicht die Deckimg nicht von vornherein aus, dann kann sie auch dadurch her- gestellt werden, daß Sinnmuster gedehnt, modifiziert, an die äußeren Herausfor- derungen angepaßt werden. Das ist natürlich um so leichter zu bewerkstelligen, wie diese nicht den Kontext der zuvor sedimentierten Erfahrungen sprengen. Kriegs- erfahrung ist in diesem Sinne oftmals Erfahrung, die nicht gelingen will, da die Di- mensionen des Erlebten, insbesondere die Dimensionen von Gewalt und Tod, die Kapazitäten des individuellen wie des gesellschaftlichen Erfahrungshaushalts im- mer wieder überstrapazieren. Gelingt die Sinnstiftung nicht, dann geistern die Er-

3 7 Koselleck, Erfahrungsraum (wie Anm. 28), S. 354.

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lebnisse gleichsam als unbearbeiteter Rohstoff durch das Gedächtnis, sind darum jedoch nicht weniger virulent. Die vielfach aufgeregten und aufgewühlten Reak- tionen von ehemaligen Wehrmachtsangehörigen auf die Ausstellung »Vernich- tungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944« sind dafür ein bezeichnendes Beispiel.

d) Erfahrung und Sprache, Individuum und Gesellschaft

Erfahrungen werden von Individuen gemacht, doch nicht »individuell«; für die Frage nach der Verallgemeinerungsfähigkeit persönlicher Zeugnisse wird dies von Bedeutung sein. Bei Lichte besehen gibt es weder »individuelle« noch »gesell- schaftliche« Erfahrungen, sondern in Erfahrungen werden diese Sphären ständig miteinander verknüpft. Wie das geschieht, läßt sich an der konstitutiven Bedeu- tung der Sprache für die Sinnbildung erläutern.

Sprache ermöglicht, definiert und begrenzt Erfahrungen38; sie speichert gesell- schaftliches Wissen, sie bietet Typen, Erfahrungsmuster, Bedeutungsstrukturen an, die für die Sinnbildung zur Verfügung stehen. Die Individuen, Olte im genannten Beispiel wie alle anderen auch, bedienen sich aus diesem allgemeinen Wissens- vorrat. Zeugnisse wie die Feldpostbriefe zeigen, daß sie dies jedoch auf ihre je ei- gene Weise tun. Die jeweiligen Bedeutungen sind der Sprache nicht untrennbar, eindeutig und gleichbleibend zu eigen, sondern sie werden im Sprachgebrauch re- produziert, aber auch nuanciert, modifiziert, verändert, mit individuellen Eigen- heiten und kontextabhängigen Differenzen. Bedeutungen sind gesellschaftliche Konventionen, doch sie existieren nicht unabhängig von den Individuen, sondern werden von diesen angeeignet und dabei bestätigt oder verändert. Genau ge- nommen existieren sie sogar nur im Modus dieser beständigen Aneignung: Be- deutungen, die nicht mehr abgerufen werden, verschwinden. Das System sprach- licher Bedeutungen ist also interindividuell, aber nicht überindividuell, es besteht nicht jenseits der Individuen39; diese ihrerseits erleben ihre je individuellen, wenn- gleich mit vielen anderen Individuen geteilten Erlebnisse, sind aber für deren Sinn- deutung auf die interindividuellen, sprachlich gespeicherten Typen, Muster und Strukturen angewiesen.

38 Schütz/Luckmann, Strukturen (wie Arm. 31), Bd 1, S. 281-283; Bd 2, S. 201-212; Ber- ger/Luckmann, Gesellschaftliche Konstruktion (wie Anm. 31), S. 36-48; Reinhart Ko- selleck, Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte, in: Sozialgeschichte in Deutschland.

Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, hrsg. von Wolfgang Schieder und Volker Sellin, Bd 1: Die Sozialgeschichte innerhalb der Geschichtswissen- schaft, Göttingen 1986, S. 89-109; Gareth Stedman Jones, Klassen, Politik und Sprache.

Für eine theorieorientierte Sozialgeschichte. Hrsg. und eingel. von Peter Schöttler, Mün- ster 1988, S. 307. Vgl. auch den kritischen Überblick von Maurice Roche, Die philoso- phische Schule der Begriffsanalyse (Conceptual Analysis), in: Sprachanalyse und Sozio- logie. Die sozialwissenschaftliche Relevanz von Wittgensteins Sprachphilosophie, hrsg.

von Rolf Wiggershaus, Frankfurt a.M. 1975, S. 131-200, sowie Andreas Gestrich, Einlei- tung: Sozialhistorische Biographieforschung, in: Biographie — sozialgeschichtlich. Sie- ben Beiträge, hrsg. von Andreas Gestrich [u.a.], Göttingen 1988, S. 5-28, bes. S. 9-20.

3 9 Vgl. dazu Eugenio Coseriu, Synchronie, Diachronie und Geschichte. Das Problem des Sprachwandels, München 1974, S. 27-37.

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16 MGM 56 (1997) Klaus Latzel

»Erfahrung« bildet also nicht das begriffliche Gegenstück zu »Struktur«, son- dern kann selbst auf ihre Strukturen hin befragt werden. Die Erfahrungsdimensi- on von Geschichte ist nicht mit der individuellen Dimension deckungsgleich, son- dern Erfahrungen bilden sich an der Schnittstelle von Individuum u n d Gesell- schaft, genauer: Diese Schnittstelle wird in jeder Konstitution von Erfahrung ge- bildet, mit jeder einzelnen Erfahrung neu; indem die Individuen auf das gesellschaftliche Wissen zurückgreifen, stellen sie es her. Denn »Gesellschaft« exi- stiert ihrerseits ebensowenig über den Individuen wie das gesellschaftliche Wis- sen. Gesellschaft, so hat schon vor über einhundert Jahren Georg Simmel betont, existiert nicht als Substanz, sondern allein als beständiges Geschehen, als »Verge- sellschaftung«, die sich in unzähligen Wechselwirkungen zwischen Individuen in verschiedensten Formen, Gruppierungen und auf unterschiedlichsten Ebenen voll- zieht. Und die Individuen wiederum sind nie allein Individuen, sondern ihrerseits immer schon auch vergesellschaftet40.

Damit werden im Gegenzug auch vielgebrauchte Begriffe wie »gesellschaftli- che Erfahrung« oder »kollektives Gedächtnis« problematisch, denn sie stellen die flüchtige Dialektik von Individuum und Gesellschaft nur zur anderen Seite hin still. Sie lassen sich als abkürzende theoretische, als metaphorische und sprach- pragmatisch schwer zu umgehende, nicht aber als ontologische Begriffe rechtfer- tigen41. Dies in Rechnung gestellt, läßt sich vom »kollektiven Gedächtnis« jedoch das gleiche behaupten wie vom »individuellen«: Es speichert Erlebnisse und Sinn- stiftungen bis hin zu größeren Erfahrungszusammenhängen. Und nicht jede kol- lektive Sinnstiftung muß oder kann gelingen: Die regelmäßig wiederkehrenden Debatten über die angemessenen Formen des Gedenkens an den Zweiten Welt- krieg oder über das geplante Holocaust-Denkmal legen davon Zeugnis ab.

e) Erfahrungsgeschichte

Die Geschichte von Erfahrungen kann also verstanden werden als die Geschichte der Deutungen von Erlebnissen auf allen nur denkbaren historischen Handlungs- feldern durch die dort Handelnden, oder anders formuliert: Erfahrungsgeschich- te ist die Geschichte der Verwendung, das heißt der Produktion, Reproduktion und Veränderung sozialer Wissensbestände auf diesen Handlungsfeldern durch die hi- storischen Akteure. Erfahrungsgeschichte meint also nicht eine weitere Dimensi- on für die historische Untersuchung neben der Geschichte von sozialer Ungleich- heit, Ökonomie, Politik oder Krieg. Erfahrungsgeschichte ist vielmehr konstituti-

40 Georg Simmel, Über sociale Differenzierung (1890), in: ders., Aufsätze 1887 bis 1890, Frankfurt a.M. 1989 (= Georg Simmel Gesamtausgabe, hrsg. von Otthein Rammstedt, Bd 2), S. 109-295, hier S. 123-138; ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908), Frankfurt a.M. 1992 (= Gesamtausgabe, Bd 11), S. 1-62.

41 Vgl. dazu Peter Burke, Geschichte als soziales Gedächtnis, in: Mnemosyne. Formen und Funktionen kultureller Erinnerung, hrsg. von Aleida Assmann und Dietrich Harth, Frank- furt a.M. 1991, S. 289-304, hier S. 291; James E. Young, The Texture of Memory. Holocaust Memorials and Meanings, New Haven, Cortn., London 1993; Die Legitimation der Er- innerung u n d die Geschichtswissenschaft, hrsg. von Clemens Wischermann, Stuttgart 1996 (= Studien zur Geschichte des Alltags, 15).

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ver Bestandteil jeder dieser wie aller anderen denkbaren Geschichten. Ohne Sinn- bildungsprozesse, ohne Erfahrung, wird nicht ein einziges Produkt in bestimmter Weise hergestellt oder konsumiert, wird Herrschaft weder angestrebt noch hinge- nommen oder bekämpft, wird auch kein Krieg vorbereitet, geführt, durchgehal- ten oder sabotiert, kurz: Keine Geschichte in actu ist ohne die konstitutive Bedeu- tung von Erfahrung denkbar, keine Geschichte ist ex post ohne den Rekurs auf Er- fahrung plausibel zu erzählen oder zu erklären42.

Erfahrungsgeschichte zu schreiben, heißt nicht, einfach für die lebenspralle Er- gänzung der Geschichte von übergreifenden Strukturen und Prozessen zu sorgen.

Als Geschichte von alltäglichen und außeralltäglichen Sinndeutungen konstruiert Erfahrungsgeschichte ihrerseits Strukturen43, nämlich Strukturen von Bedeutun- gen, und sie untersucht die Prozesse von deren Veränderung. Beide sind allerdings nicht ohne die einzelnen historischen Akteure, also die Erfahrenden, zu denken, und sie sind auch nur in deren je einzelnen Erfahrungen greifbar44. Darum muß Erfah- rungsgeschichte den Lebensstoff, den sie interpretieren will, in seiner ganzen Fül- le ausbreiten, doch ihre Aufgabe erschöpft sich nicht darin.

Erfahrungsgeschichte reduziert ihren Blick auf die Vergangenheit nicht auf die Perspektive der Deutungen, aber sie zentriert ihn darauf, ohne dabei die Perspek- tive auf die Handlungen und Handlungsbedingungen auszublenden45. Erfahrung wäre als Sinnstiftung für alltägliche und nichtalltägliche Erlebnisse ohne den Re- kurs auf diese Erlebnisse, welche die Sinndeutung veranlassen, im historischen Rückblick gar nicht verständlich; zu diesen Erlebnissen aber gehören eigene wie fremde Handlungen untrennbar dazu. Was schließlich die Handlungsbedingungen angeht, so muß betont werden, daß diese nur im Medium von Erfahrungen wirk- sam werden. Erfahrungsgeschichte zu schreiben erfordert nicht nur, sondern er- möglicht auch erst, die Bedeutung struktureller Zwänge in der Geschichte zu un- tersuchen.

Erfahrungsgeschichte begreift Erfahrung als Praxis und als Prozeß, also als genuin historisches Phänomen, in dem, »personengebunden und interpersonal zugleich«46, Veränderungen in der Zeit vollzogen werden. Dabei ist ihr wichtigster Ausgangs- und Bezugspunkt ein anthropologischer: die begrenzte menschliche Lebenszeit47.

III. Die Frage nach der Kriegserfahrung — eine Strukturierung

Menschliche Lebenszeit ist begrenzt, aber der Krieg begrenzt sie mit Gewalt. Der Tod »ist und bleibt die letzte Wahrheit des Krieges«, eine so offensichtliche Wahr- heit, daß sie allzuoft vergessen wird48. Und neben dieser ultimativen Herausfor-

4 2 Vgl. dazu Daniel, Quo vadis (wie Anm. 26), S. 60 f.

4 3 Vgl. Sieder, Sozialgeschichte (wie Anm. 26), S. 452.

4 4 Reinhart Koselleck, Darstellung, Ereignis und Struktur, in: ders., Vergangene Zukunft (wie Anm. 28), S. 144-157, hier S. 149.

45 Letzteres die Befürchtung bei Sieder (wie Anm. 26), S. 454.

4 6 Koselleck, Erfahrungsraum (wie Anm. 28), S. 354 f.

4 7 Vgl. dazu Gustav Seibt, Der Ort des Alltags: Die Historiographie, in: Freibeuter, 36 (1988), S. 79-83, hier S. 81.

4 8 George L. Mosse, Über Kriegserinnerungen und Kriegsbegeisterung, in: Kriegsbegei-

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18 MGM 56 (1997) Klaus Latzel derung hält der Krieg eine Vielzahl von weiteren bereit, mit denen die Menschen konfrontiert werden. Die hier skizzierte Konzeption von Erfahrung und Erfah- rungsgeschichte hat zur Konsequenz, die Frage nach der Kriegserfahrung in zwei aufeinander aufbauende Fragenkomplexe zu unterteilen, die in sich weiter zu dif- ferenzieren sind: in die Frage nach dem Kriegserlebnis und in die Frage nach der Sinnstiftung, durch die das Kriegserlebnis zur Kxiegserfahrung wird. Der folgende Vorschlag zur Strukturierung wird zunächst ohne Bezug auf bestimmte Quellen- gattungen grundsätzlich formuliert49; im nachfolgenden Abschnitt wird diese Struk- turierung dann auf die Gattung der Feldpostbriefe übertragen.

1. Kriegserlebnis

Der erste Fragenkomplex betrifft also die Kriegserlebnisse, die auf die Soldaten oder auf die Zivilbevölkerung warten und zur Sinhstiftung herausfordern. Diese Er- lebnisse sind in ihrer Vielfalt potentiell unbegrenzt, doch können sie für die Un- tersuchung strukturiert, zum Beispiel nach zeitlichen oder räumlichen Kriterien zu bestimmten Erlebnisbereichen zusammengefaßt werden. So lassen sich die Welt- kriege jeweils in verschiedene Phasen einteilen, wobei die Kriterien zu solchen Ein- teilungen sich nicht nur an den Verlaufsstrukturen der militärischen Großwetter- lagen orientieren, sondern auch erfahrungsgeschichtlich reflektiert werden soll- ten, denn bekanntlich richtet sich die Periodisierung der Erfahrungen des gelebten Lebens keineswegs einfach nach den Konjunkturen der allgemeinen oder der Kriegs- geschichte50. Räumlich bietet sich zunächst eine Unterscheidung der Erlebnisbe- reiche in Front und Heimat an; hier könnte nach Kriegsschauplätzen, Einsatzor- ten, Kampfzonen, nach Front oder Etappe differenziert werden, nach Stadt, Land, Region, nach privaten oder beruflichen Handlungssphären usw.

Sodann können die Erlebnisse nach sozialen oder funktionalen Kriterien wie etwa nach Klassen- bzw. Schichtzugehörigkeit, Geschlecht, Alter, oder nach Zugehörig- keit zu einer Waffengattung, nach Dienstgrad, ziviler Dienstverpflichtung usw.

strukturiert werden. Dabei sollte nicht vergessen werden, daß nicht nur bestimm- te, nach sozialen Kriterien definierte Gruppen bestimmte Erlebnisse teilen, sondern daß auch bestimmte Erlebnisse ihrerseits soziale Gruppen konstituieren können, Erlebnisgemeinschaften, die quer zu den genannten liegen, etwa die Gruppe der Wit- wen, der Ausgebombten, der Waisenkinder, der Verwundeten, der Deserteure etc.

Bereits hier dürfte offensichtlich sein, daß die vorgeschlagenen Strukturierun- gen schon von sich aus nach Einbettung in das verfügbare kriegs-, politik- und so-

sterung und mentale Kriegsvorbereitung. Interdisziplinäre Studien, hrsg. von Marcel van der Linden und Gottfried Mergner unter Mitarbeit von Herman de Lange, Berlin 1991 (= Beiträge zur Politischen Wissenschaft, Bd 61), S. 27-36, Zitat S. 31; Michael Gey- er, Eine Kriegsgeschichte, die vom Tod spricht, in: Physische Gewalt. Studien zur Ge- schichte der Neuzeit, hrsg. von Thomas Lindenberger und Alf Lüdtke, Frankfurt a.M.

1995, S. 136-161.

49 Vgl. zum folgenden Koselleck, Einfluß (wie Anm. 29).

50 Dies war eines der wesentlichen Ergebnisse des LUSIR-Projekts; vgl. u.a. Ulrich Herbert, Zur Entwicklung der Ruhrarbeiterschaft 1930 bis 1960 aus erfahrungsgeschichtlicher Perspektive, in: »Wir kriegen jetzt andere Zeiten« (wie Anm. 28), S. 19-52.

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zialgeschichtliche Kontextwissen verlangen, da die zeitlichen, räumlichen und so- zialen Kriterien ohne diese Einbettung überhaupt nicht zu begründen wären. Wie immer aber die gewählten Zuordnungen, die sich zum Teil überlagern, auch aus- sehen mögen, sie werden in jedem Falle verdeutlichen, daß der Krieg zwar eine Vielzahl von Einzelerlebnissen mit sich bringt, jedoch dabei immer wieder ge- meinsame Problemlagen stiftet, die unabweisbar zur Sinnstiftung drängen.

2. Kriegserfahrung

Der zweite Fragenkomplex richtet sich auf die Kriegserfahrung, also auf die gelin- genden (oder scheiternden) Sinnstiftungsprozesse, in denen die mannigfaltigen Kriegserlebnisse zu Kriegserfahrungen werden (oder nicht werden). Innerhalb die- ses Fragenkomplexes können die gleichen analytischen Schnitte vorgenommen werden wie bei der Frage nach den Knegserlebnissen: es kann also, bezogen auf die verschiedenen Erlebnisbereiche oder sozialen Gruppen, nach der Art und Weise der Sinnstiftung gefragt werden, die dort jeweils vollzogen wurde. Dabei ist bei der Verwendung von sozialen und funktionalen Kriterien erneut zu berücksichti- gen, daß nicht nur diese zugeschriebenen Eigenschaften soziale Gruppen definie- ren, sondern daß Übereinstimmungen in der Sinnstiftung, genauer: daß der ge- meinsame Rückgriff auf gleiche Bestandteile des sozialen Wissens seinerseits ge- eignet ist, soziale Gruppen zu definieren, Erfahrungsgemeinschaften, deren Grenzen sich keineswegs mit den nach »objektiven« Kriterien gezogenen sozialen oder funk- tionalen Grenzen decken müssen: etwa die besorgt-eifersüchtigen Ehemänner, die

»tapferen« Ehefrauen, die Führergläubigen, die radikalen Rassisten, die »Soldati- schen«, die »Unsoldatischen«, die in unterschiedlichem Grade Oppositionellen und viele andere mehr. Anders formuliert: Die Zuordnung von Kriegserfahrung und sozialer Lage ist jeweils erst zu bestimmen, erstere nicht aus letzterer abzuleiten.

3. Zeitschichten von Kriegserfahrung

Darüber hinaus sollte zwischen zumindest zwei verschiedenen Zeitschichten von Kriegserfahrung unterschieden werden. Die erste ist die gewissermaßen konjunk- turabhängige Schicht der kurzlebigen Stimmungen und Verstimmungen, in der Kriegserfahrung als jeweils weitgehend situativ zu verstehende Reaktion auf die akuten Wechselfälle der kleineren und größeren Kriegsereignisse, -erlebnisse und -pausen aufgefaßt werden kann, von der Hoffnung auf den nächsten Brief über den Ärger mit dem Vorgesetzten bis zur Regeneration nach den Strapazen zurück- liegender Kämpfe.

Die zweite ist die eher träge Schicht der Völkerstereotypen, der nationalen Selbst- und der Feindbilder, der Identifizierungen als Marin und Soldat, als Frau und Mutter, der politischen Überzeugungen und religiösen Gewißheiten etc., also der längerfristig gültigen, allein situativ nicht zu verstehenden Sinnstiftungen, die auf dauerhaftere, Vorkriegs- und Kriegszeit oft übergreifende Strukturen des so-

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20 MGM 56 (1997) Klaus Latzel zialen Wissens zurückgreifen, deren subjektive Gültigkeit für das Individuum mit einer Veränderung seiner Stimmungslage unter dem Eindruck der Kriegserleb- nisse zwar aufgebrochen werden kann, keinesfalls aber mufl. Diese Wissensstruk- turen können ihrerseits unterteilt werden in tiefer im Erfahrungshaushalt abge- sunkene, kaum bewußte oder aber leichter zugängliche, bewußtere und diskursiv eher abrufbare Wissensbestände. Das würde etwa Theodor Geigers bekannter Un- terscheidung zwischen Mentalität und Ideologie entsprechen51, doch fehlen diesen Begriffen gegenüber dem zeitlich übergreifenden Erfahrungsbegriff dessen aktive Bedeutungsgehalte, was insbesondere beim Mentalitätsbegriff dazu verleiten kann, die historischen Akteure nur hinter einer weiteren (hier: mentalen) Struktur ver- schwinden zu lassen52.

Auch mit dem Begriff des Kriegsalltags ist das hier angedeutete Spektrum der Kriegserfahrungen nicht zu erfassen. Die allgemeinen begrifflichen Probleme mit dem Alltag sind mittlerweile erschöpfend diskutiert worden53, und speziell der Begriff des Kriegsalltags ist in jüngerer Zeit vor allem im Hinblick auf die extremen Gewalterlebnisse im Krieg überzeugend als zu eng kritisiert worden54. Wenn zum Alltag konstitutiv die Routine von Lebensvollzügen gehört, dann gerät dieser Be- griff angesichts des Krieges und besonders angesichts des Todes, der keineswegs Routine wird55, schnell an seine Grenzen.

Die hier entwickelte Fragenstruktur muß natürlich auf die unterschiedlichen Quellen bezogen werden, die der Untersuchung von Kriegserfahrung zugrunde- gelegt werden können, sie muß sich also in der Anpassung an die Möglichkeiten bewähren, welche die verschiedenen denkbaren Quellengruppen bieten. Eine die- ser Quellengruppen sind die Feldpostbriefe.

IV. Die Analyse von Kriegserfahrung in Feldpostbriefen — systematische Zugänge

Feldpostbriefe können als Quellen sowohl für die Kriegserlebnisse wie auch für die Produktion von Kriegserfahrung dienen. Mit den folgenden Überlegungen wird versucht, verschiedene methodischen Anforderungen für ihre Untersuchung

51 Theodor Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage, Stuttgart 1932 (= Soziologische Gegenwartsfragen, 1), S. 77 f.

5 2 Dieser Gefahr ist m.E. auch Bourdieus Konzept des Habitus erlegen; vgl. dazu Gottfried Pfeffer, Das fehlende Positive. Sozialdeterministische Aspekte bei Bourdieu und ihr mög- licher »Aufklärungswert«, in: Neue Sammlung, 25 (1985), S. 279-297.

53 Vgl. die bibliographische Auswahl in Winfried Schulze, Einleitung, in: Sozialgeschichte (wie Anm. 26), S. 6-18, hier S. 15 f.

54 Vor allem von Hans Joachim Schröder, Die gestohlenen Jahre. Erzählgeschichten und Geschichtserzählung im Interview: Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht ehemaliger Mann- schaftssoldaten, Tübingen 1992 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd 37), S. 318-327; ders., Alltagsleben im Rußlandkrieg 1941-1945. Eine deutsche Per- spektive, in: Deutsch-russische Zeitenwende. Krieg und Frieden 1941-1995, hrsg. von Hans-Adolf Jacobsen [u.a.], Baden-Baden 1995 (= Schriften der Paul-Kleinewefers-Stif- tung, Bd 2), S. 388-409.

5 5 Peter Knoch, Gewalt wird zur Routine. Zwei Weltkriege in der Erfahrung einfacher Sol- daten, in: Der Krieg des kleinen Mannes (wie Anm. 29), S. 313-323.

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