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Archiv "Medizinische Innovationen: Warum wir Förderstrukturen für Ideen aus der Praxis brauchen" (12.12.2014)

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A 2222 Deutsches Ärzteblatt

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12. Dezember 2014

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lle haben sich daran gewöhnt:

In der Medizin kommen Inno- vationen im Wesentlichen aus zwei Bereichen – der universitären For- schung sowie der forschenden und entwickelnden Pharmaindustrie. Die praktizierenden Ärzte wenden diese Fortschritte meist nur an, tragen aber kaum noch zu ihrer Entwicklung bei.

Das war nicht immer so. Viele bahn- brechende medizinische Entwicklun- gen gingen aus von Beobachtungen und Versuchen im klinischen Alltag.

Prominentes Beispiel ist die Ent- wicklung der Pockenimpfung durch Edward Jenner (1). Aus der neueren Zeit kommen einem Namen wie Bar- ry J. Marshall und Robin J. Warren in den Sinn, die unter anderem mit einem spektakulären Selbstversuch zeigen konnten, dass Magenge- schwüre durch eine bakterielle Infek- tion (Helicobacter) ausgelöst werden.

Dafür wurden beide 2005 mit dem Nobelpreis für Medizin geehrt (2).

Eine Aufgabenteilung zwischen denen, die medizinische Weiterent- wicklung betreiben und denen, die

diese Entwicklungen anwenden, ist einerseits konsequent und sinnvoll.

Dennoch sind bedeutende Nachtei- le erkennbar. Der Weg von univer- sitärer Forschung hin zur medizini- schen Anwendung ist meist sehr lang. Industrielle Forschung und Entwicklung ist ausgerichtet auf ei- ne spätere Vermarktung. So wird nur erforscht, was entsprechende Umsätze verspricht. Medizinische Innovation wird immer abhängiger von Umsatzprognosen. Teilweise interessieren nur teure Lösungen.

Hinzu kommt, dass diese Ent- wicklung eine Einbahnstraße medi- zinischer Innovation bedeutet: Von der Forschung zur Praxis. Ein gutes Innovationssystem braucht aber ge- nauso die Gegenrichtung: Von der Praxis zu Forschung. Dafür fehlt der Medizin fast jegliche strukturel- le Voraussetzung. Für niedergelas- sene Ärzte ist es nahezu unmöglich, Beobachtungen aus der Praxis mit wissenschaftlichen Standards zu do- kumentieren oder in kleine Pilot- projekte zu überführen. Die Gesell-

schaft verzichtet damit auf eine trei- bende Kraft medizinischer Innova- tion, die oftmals sehr viel schneller agieren könnte, als es heute der Fall ist, und auch unabhängig von späte- ren Vermarktungsinteressen.

Anhand zweier Beispiele soll ge- zeigt werden, wie sinnvoll es wäre, Förderinstrumente zu schaffen, da- mit Beobachtungen aus dem nieder- gelassenen Bereich schneller wis- senschaftlich evaluiert und gegebe- nenfalls in die medizinische Versor- gung integriert werden könnten.

Beispiel 1: Prednisolon für HIV-Patienten

In den 1990er Jahren entdeckten französische Forscher, dass Corti- costeroide wie Prednisolon einen günstigen Effekt auf bestimmte Pro- gressionsmarker der HIV-Erkran- kung haben (3). In unserer Praxis in Stuttgart machten wir zunächst zu- fällig unabhängig davon die Beob- achtung, dass bereits sehr geringe Mengen von Prednisolon ausrei- chen könnten, um die beschriebe- MEDIZINISCHE INNOVATIONEN

Warum wir Förderstrukturen für Ideen aus der Praxis brauchen

Weil Förderinstrumente fehlen, ist es für niedergelassene Ärzte schwierig, Beobach- tungen aus der Praxis wissenschaftlich zu dokumentieren oder in kleine Pilotprojekte zu überführen. Die Gesellschaft verzichtet so auf eine treibende Innovationskraft.

Foto: Fotolia/Network Community/James Thew

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12. Dezember 2014 A 2223 nen positiven Effekte zu erzielen.

Wir haben diese Beobachtungen systematisch weiterverfolgt und do- kumentiert. Die mit Prednisolon behandelten Patienten zeigten eine Stabilisierung ihres Immunsystems und mussten im Vergleich zu Pa- tienten, die kein Prednisolon erhiel- ten, im Mittel etwa erst zwei Jahre später mit antiretroviralen Medika- menten behandelt werden (4, 5). Zu einer Zeit, in der man versuchte, antiretrovirale Medikamente so zu- rückhaltend wie möglich einzuset- zen, haben wir dadurch allein in unserem kleinen Zentrum ohne er- sichtlichen Nachteil für die Patien- ten HIV-Medikamente im Wert von circa 25 Millionen Euro eingespart.

Durch weiterführende Untersu- chungen konnten wir zeigen, dass die mit Prednisolon behandelten Pa- tienten eine deutliche Reduzierung der Immunaktivierung aufwiesen, die inzwischen als wichtiger Faktor in der Pathogenese der HIV-Infek - tion gilt (6). Auf diesen Beobach- tungen basierend eröffnete sich in einem gemeinsamen Forschungs- projekt mit dem Missionsärztlichen Institut und der Universität in Würzburg die Möglichkeit, die bis- herigen Befunde durch eine rando- misierte, klinische Studie zu über- prüfen (ProCort, clinicaltrials.gov).

Die Ergebnisse dieser Studie sind derzeit zur Publikation eingereicht.

Inzwischen hat sich der Trend in der antiretroviralen Behandlung der HIV-Infektion eher zu einem mög- lichst frühen Beginn hin verscho- ben, und der Gesichtspunkt des Hi- nauszögerns der Therapie durch Im- munmodulatoren wie Prednisolon ist deshalb zumindest hierzulande nicht mehr aktuell. Unsere Ergeb- nisse legen jedoch nahe, dass bei bestimmten Patienten eine Kombi- nation aus (zum Beispiel Predniso- lon-basierter) Immuntherapie und klassischer antiretroviraler Thera- pie zu einem verbesserten Therapie- ansprechen führen könnte – zumin- dest erscheint es sinnvoll, dieses mit Hilfe einer weiteren klinischen Studie zu untersuchen.

Dies ist ein Beispiel dafür, wie Beobachtungen aus der Praxis der Ausgangspunkt für groß angelegte wissenschaftliche Studien sein kön-

nen. Es zeigt allerdings auch, dass durch das Fehlen geeigneter För- derinstrumente viel Zeit verloren gegangen ist. Insbesondere die fast ein Jahrzehnt dauernde Phase wis- senschaftlicher Dokumentation der Effekte von Prednisolon auf die HIV-Infektion in unserer Schwer- punktpraxis hätte durch die Mög- lichkeit einer schnellen und frühzei- tigen Förderung wissenschaftlicher Projekte für Ärzte in der Praxis deutlich verkürzt werden können;

möglicherweise hätte so auch eine klinische Erprobung deutlich früher erfolgen können. Inzwischen gibt es viele Studien, in denen versucht wird, mit Hilfe von Immunmodula- toren die Langzeiteffizienz der anti- retroviralen Therapie bei der HIV- Infektion zu verbessern.

Agonistische Therapie der Alkoholabhängigkeit

Im suchtmedizinischen Teil unserer Stuttgarter Praxis werden seit über 20 Jahren Suchtkrankheitsverläufe systematisch dokumentiert. Sie zei- gen den meist unerbittlich chroni- schen Charakter von Suchtkrankhei- ten. Für Alkoholabhängige gibt es bis heute kein zufriedenstellendes me - dizinisches Behandlungskonzept, im Gegensatz zu vielen anderen chroni- schen Erkrankungen: Nach körperli- chen Entzügen werden die Alkohol- abhängigen auf psychosoziale Be- treuung, Selbsthilfe- und Therapie- gruppen verwiesen, erhalten aber im Allgemeinen keine medikamentöse Hilfe zur Unterstützung der Alkohol- abstinenz oder zur adäquaten Ein- stellung ihrer Krankheit. Daten aus unserer Praxis ergeben seit Jahren das Bild, dass bei dieser Krankheit medikamentöse Einstellungen in ähnlichem Maße erfolgreich sein können wie bei Diabetes, COPD und Hypertonie. Bei vielen Patienten können wir insbesondere mit agonis- tisch wirkenden Substanzen Verlauf und Prognose ganz entscheidend ver- bessern; medizinische Folgekosten in Milliardenhöhe könnten einge- spart werden (7).

Auch hier könnten Förderstruktu- ren für Ärzte in der Praxis helfen, klinische Daten schneller und syste- matischer zu gewinnen und zu eva- luieren. Gerade neue, unorthodoxe

Behandlungskonzepte haben es oft schwer, in größerem Umfang wis- senschaftlich untersucht zu werden, insbesondere wenn die Industrie kein Interesse hat, weil zum Beispiel die eingesetzten Substanzen alt und vielleicht generisch verfügbar sind.

Oft haben Praktiker ein sehr gutes Gespür für die Wirksamkeit einer Therapie. Sie haben auch bereits Dokumentationsarbeit geleistet, die es wert ist, ernst genommen und aufgegriffen zu werden. Eine geziel- te Förderung von Pilotprojekten, um schneller die Spreu vom Weizen zu trennen, könnte den medizinischen Fortschritt sehr beschleunigen.

Viele wichtige Beobachtungen und Ideen aus der Praxis werden wahrscheinlich nie von der wissen- schaftlichen Fachwelt aufgegriffen, weil die Strukturen fehlen, diese Beobachtungen systematisch und evaluiert zu dokumentieren und in Form von Pilotprojekten weiter zu untersuchen. Gerade das Schaffen einer solchen kritischen Masse an Daten ist aber notwendig, um wei- terführende klinische Studien über- haupt zu ermöglichen. Während Neuentwicklungen mit einem viel- versprechenden Marktpotenzial den Vorteil haben, dass sie mit Nach- druck von der Industrie erprobt wer- den, haben Behandlungskonzepte mit nur geringem Vermarktungs- wert (aber möglicherweise großem medizinischen Nutzen oder Ein- sparpotenzial) kaum eine Lobby.

Es ist deshalb an der Zeit, wis- senschaftliche Förderinstrumente für wissenschaftliche Ideen aus der Praxis zu schaffen. Mit ihnen könn- ten in den Praxen zeitlich befristet Mitarbeiter zur systematischen Do- kumentation und Auswertung der Daten angestellt werden oder kleine Pilotprojekte finanziert werden. Die Kosten solcher Förderinstrumente wären, gemessen an dem mögli- chen Nutzen, minimal.

Dr. med. Albrecht Ulmer Facharzt für Allgemeinmedizin, Stuttgart Prof. Dr. Carsten Scheller Institut für Virologie und Immunbiologie,

Universität Würzburg

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Literatur im Internet:

www.aerzteblatt.de/lit5014 oder über QR-Code

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LITERATURVERZEICHNIS DÄ 50/2014:

MEDIZINISCHE INNOVATIONEN

Weshalb gute Ideen aus der Praxis nie weit kommen

Für niedergelassene Ärzte ist es fast unmöglich, Beobachtungen aus der Praxis mit wissenschaftlichen Standards zu dokumentieren oder in kleine Pilotprojekte zu überführen. Die Gesellschaft verzichtet damit auf eine treibende Innovationskraft.

LITERATUR

1. Jenner E: Two cases of Small-Pox Infection communicated to the Fœtus in Utero under peculiar circumstances, with additional re- marks. Med Chir Trans 1809; 1: 271–7.

2. Talley NJ, Richter J: Nobel Prize in Medicine awarded to a Gastroenterologist in 2005.

Am J Gastroenterol 2006; 101: 211.

3. Andrieu JM, Lu W, Levy R: Sustained in- creases in CD4 cell counts in asymptomatic human immunodeficiency virus type 1-se- ropositive patients treated with predniso- lone for 1 year. J Infect Dis 1995; 171:

523–30.

4. Ulmer A, Müller M, Bertisch-Möllenhoff B, et al.: Low dose prednisolone reduces CD4+T Cell loss in therapy-naïve HIV-pa- tients without antiretroviral therapy. Eur J Med Res 2005; 10: 105–9.

5. Ulmer A, Müller M, Bertisch-Möllenhoff B, et al.: Low dose prednisolone has a CD4-Stabilizing effect in pre-treated HIV- patients during structured therapy interrup- tions (STI). Eur J Med Res 2005; 10:

227–32.

6. Kasang C, Ulmer A, Donhauser N, et al.: HIV patients treated with low-dose prednisolone exhibit lower immune activation than un- treated patients. BMC Infect Dis 2012, 12:

14, DOI: 10.1186/1471–2334–12–14.

7. Ulmer A, Müller M, Frietsch B: Dihydroco- deine/agonists for alcohol dependents.

Frontiers in Psychiatry/Addict Dis 2012; 3, 21: 1–7.

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