A 246 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 108|
Heft 6|
11. Februar 2011DEUTSCHER ETHIKRAT
„Rationierung offen thematisieren“
Der Deutsche Ethikrat hat eine Stellungnahme zur Kosten-Nutzen-Bewertung vorgelegt. Dabei ging es weniger um das Verfahren als darum, eine neue
Diskussion über Priorisierung und Rationierung im Gesundheitswesen anzustoßen.
D
rei Patienten warten auf ei- ne Organtransplantation. Herr Müller benötigt dringend ein neues Herz, Herr Meier eine neue Niere, bei Herrn Schmidt müssen beide Or- gane ersetzt werden. Alle sind gleich alt und hätten nach dem Eingriff ei- ne vergleichbare Lebenserwartung.Wer soll die Organe erhalten, wenn nur ein passendes Herz und nur eine passende Niere zur Verfügung ste-
hen? Ist das Leben von zwei Patien- ten mehr Wert als das von Herrn Schmidt oder umgekehrt?
So konstruiert dieses Beispiel auch ist, illustriert es doch, worauf der Deutsche Ethikrat mit seiner Stel- lungnahme „Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen – Zur normativen Funktion ihrer Bewertung“ hinwei- sen will: Wie verteilen wir medizini- sche Leistungen, wenn die Ressour- cen und das Geld nicht mehr für je- den reichen? Der Rat geht bei seinen Überlegungen davon aus, dass die
Gesundheitsversorgung immer teuer wird, bis ein Punkt erreicht ist, an dem nicht mehr alles Notwendige für jeden bezahlt werden kann. Deshalb fordert er eine offene Diskussion über Priorisierung und Rationierung.
In der Stellungnahme wird ein gerechtes Verteilungsverfahren ge- fordert, das medizinische, ökonomi- sche, ethische und juristische As- pekte einbezieht. Dabei dürfe das
Recht vieler auf Gesundheit nicht das Recht des Einzelnen überwie- gen. Auf das Eingangsbeispiel be - zogen bedeutet dies, dass alle drei Patienten für eine Transplantation in Betracht gezogen werden müssen.
Deshalb sei eine Kosten-Nutzen- Bewertung allein als Basis einer Al- lokationsentscheidung abzulehnen.
Dies führe sonst dazu, dass der ge- sellschaftliche Wert einer Personen- gruppe einer anderen gegenüberge- stellt und mit den erwarteten Be- handlungskosten verrechnet würde.
Auf die Spitze getrieben, hieße dies eventuell: Ein Arbeitnehmer wird eher behandelt als ein Arbeitsloser oder Rentner, weil seine Versor- gung ein besseres Kosten-Nutzen- Verhältnis ergibt.
Über die Verteilung begrenzter medizinischer Leistungen müsse ei- ne entsprechend demokratisch legi- timierte Instanz entscheiden, heißt es weiter. Dabei handele es sich um eine Gerechtigkeitsfrage, so der Rat, die „nicht an wis- senschaftliche Institute, Ver - bände oder Interessengruppen delegierbar ist“. Der Gemein- same Bundesausschuss, der derzeit über die Leistungen der gesetzlichen Krankenversiche- rung entscheide, sei hierzu nicht ausreichend legitimiert.
Der Gesetzgeber muss nach Meinung des Ethikrats solche Dinge selbst entscheiden oder ein transparenteres Auswahl- verfahren schaffen.
In einem Sondervotum spricht sich Prof. Dr. Weyma Lübbe, Lehrstuhlinhaberin für Praktische Philosophie an der Universität Regensburg, grund- sätzlich dagegen aus, Kostenef- fizienz in Priorisierungsüber- legungen mit einzubeziehen.
Würden nämlich alle anderen Kriterien gleich ausfallen, wie im Transplantationsbeispiel, entschei- de am Ende doch der ökonomische
„Mehrwert“ darüber, wer behan- delt werde und wer nicht. Eine of- fene Diskussion über Rationierung finde bisher aber wegen ihrer Nähe zu nationalsozialistischen Begrif- fen wie „Selektion“ und „Euthana- sie“ nicht statt, kritisiert Lübbe.
Die Vergangenheit dürfe uns aber nicht davon abhalten, diese Debat-
te zu führen. ■
Dr. rer. nat. Marc Meißner Gerechte Vertei-
lung – der Ethikrat lehnte in einer Stel- lungnahme die Kos- ten-Nutzen-Bewer- tung als Basis für Priorisierung und Rationierung im Ge- sundheitswesen ab.
(Mitglieder des Deutschen Ethik- rats, von links nach
rechts: Ulrike Rie- del, Eckhard Nagel, Christiane Woopen, Jochen Taupitz)
Foto: Deutscher Ethikrat