• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Geschäfte mit der Angst vor einem qualvollen Tod" (08.04.1994)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Geschäfte mit der Angst vor einem qualvollen Tod" (08.04.1994)"

Copied!
2
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

POLITIK

Drei Aussagen kennzeichnen die Seltsamkeit dieses Prozesses, der oh- ne Zeugen vor dem Augsburger Landgericht geführt, von manchen Beobachtern als unverständlich oder der Sache nicht angemessen und von anderen sogar als Farce empfunden wurde. Der Staatsanwalt: „Was wir ermittelt haben, bildet mit Sicherheit nur die Spitze des Eisbergs; man weiß nicht, ob und wo es an anderer Stelle weitergeht." Der Vorsitzende Richter: „Die eigentliche Sterbehilfe ist nicht unser Thema." Der Ange- klagte: „In zehn, zwanzig oder fünf- zig Jahren wird man noch über die- sen Fall sprechen, aber dann wird man anders darüber denken."

Hans Henning Atrott mußte sich nach elfmonatiger Untersuchungs- haft wegen illegalen Handels mit hochgiftigen Chemikalien und wegen Steuerhinterziehung verantworten.

Angesichts des überwältigenden An- klagematerials, das die Ermittlungs- behörden zusammengetragen hatten, war dem umstrittenen Sterbehelfer keinerlei Raum für Ausweichmanö- ver geblieben.

Geldstrafe

Sein Verfahren begann daher mit einer Flucht nach vorn. In einem

„umfassenden Geständnis" gab At- rott zu, sterbewilligen Menschen Zy- ankali verkauft und eine Gruppe von Mitarbeitern zu gleichartigen Ver- käufen veranlaßt zu haben. Zugleich stufte er sich als unschuldig ein: „Ich übernehme die volle Verantwortung, bin mir aber keiner Schuld bewußt."

Daß sein Gifthandel verboten gewe-

AKTUELL

sen sein könnte, sei ihm nicht in den Sinn gekommen

Bei soviel Geständigkeit hielt seine Verteidigung bezüglich des Zy- ankalis einen Freispruch für ange- bracht, bezüglich seiner Steuerhin- terziehung dachte sie an eine neun- monatige Bewährungsstrafe. Das Ge- richt zog es vor, der realistischeren Sicht des Staatsanwaltes zu folgen.

Es verhängte für den Gifthandel eine Haftstrafe von zwei Jahren auf Be- währung und für die Steuerdelikte ei- ne Geldstrafe von 40 000 DM. Ver- ständlich, daß Atrott, der nur gegen Hinterlegung seines Reisepasses und einer Kaution von 400 000 DM aus der Untersuchungs-Haft freigekom- men war, nach der Urteilsverkün- dung eine Siegermiene aufsetzte. Die Anklageschrift hätte Härteres erwar- ten lassen können.

Die Einnahmen aus dem Gift- handel beliefen sich auf 467 420 DM, an denen Atrotts sogenannte ehren- amtliche Helfer, meist ältere Frauen, nur mit geringen Teilbeträgen betei- ligt wurden. Das aufgedeckte Ver- triebsnetz erstreckte sich mit schnell wechselnden Kurierdiensten über nahezu alle alten Bundesländer. Ver- käufe und Übergaben erfolgten nach konspirativem Agentenritus in ange- mieteten Hotelzimmern, in Bahn- hofshallen oder sogar auf Bahnstei- gen. Stets galt die Devise „Cash and carry", empfangene Geldbeträge wurden nicht quittiert.

Das Zyankali, für das den Emp- fängern je nach Einschätzung ihrer Finanzlage im Einzelfall zwischen 1 000 und 9 000 DM abgenommen wurden, kostete den Sterbehelfer pro Gramm maximal 20 bis 40 Pfennig.

Über Herkunft beziehungsweise Quelle der Giftvorräte konnten bis- lang keine weiterführenden Erkennt- nisse gewonnen werden.

Wohl aber war unschwer festzu- stellen gewesen, daß Atrott dem Fi- nanzamt vier Jahre hindurch weder seine Umsätze noch seine Einkünfte aus dem „nicht angemeldeten Zyan- kaligewerbe" erklärt und somit dem Fiskus Steuern in Höhe von minde- stens 219 994,86 DM vorenthalten hatte. Auch daß Atrott in den Jahren seines schwunghaften Handels mit tödlichen Giftstoffen in Augsburg ein Haus gekauft, Bankkonten im Aus- land eröffnet und eine Wohnung in der Schweiz gemietet hatte. Daß der Staatsanwalt hier unmittelbare Zu- sammenhänge unterstellte, trug ihm scharfe Repliken der Verteidigung ein: er lege „andauernde Aversion gegenüber dem Angeklagten" an den Tag, die Ermittlungstätigkeit seiner Beamten sei „ideologisch motiviert"

gewesen.

Trotz so starker Akzente auf die mehr „technischen" Umstände des Gifthandels kann keine Rede davon sein, daß die „eigentliche Sterbehil- fe" nicht das Thema dieses Prozesses war. Sogar bis in die Anklageschrift hinein zieht eben dieses Thema eine schreckliche Spur, die noch erschrek- kender dadurch wird, daß viele der Giftempfänger den Atrottschen Aus- sendezentralen ebensowenig bekannt waren wie ihre jeweiligen Krank- heitsstadien. Mehrfach ist die Aufli- stung der Ermittlungsergebnisse durch einen knappen Todesvermerk unterbrochen: „. . Verübte mit dem erworbenen Kaliumzyanid Selbst- mord . .".

In einigen Fällen waren die To- deskuriere anwesend, als die Sterbe- willigen ihrem Leben ein Ende setz- ten. Eine der „Helferinnen" tauschte bei Atrott einen Giftbeutel um, nach- dem sie den Eindruck gewonnen hat- te, der Inhalt habe sich „zersetzt".

Eine andere — übrigens diejenige, die sich später der Polizei offenbarte und damit die große Ermittlungswel- le auslöste —, erhöhte die zu verkau- fende Dosis, als sie vom „schreckli- chen Todeskampf" eines „Erlösten"

erfahren hatte.

Im Mageninhalt einer „Kundin", die nach Einnahme des Giftes noch

Sterbehelfer Hans H. Atrott in Augsburg verurteilt

Geschäfte mit der Angst vor einem qualvollen Tod

Der 50jährige Diplom-Politologe Hans Henning Atrott, bis zu seiner Abwahl am 30. Januar 1993 Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben e.V. (DGHS), ist in Augs- burg wegen Gifthandels zu einer zweijährigen Haftstrafe auf Bewährung und für seine Steuerdelikte zu einer Geldstrafe von 40 000 DM verurteilt worden. Der Autor des folgen- den Artikels hat den Prozeß beobachtet.

A-948 (20) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 14, 8. April 1994

(2)

POLITIK

in letzter Minute gerettet werden konnte, wurde eine Giftkonzentrati- on von 151 Milligramm festgestellt.

Die Fachliteratur sagt über Zyankali (Kaliumcyanid): „Gehört zu den Sal- zen der Blausäure; wird zur Schäd- lingsbekämpfung, in der Galvano- technik und im graphischen Gewerbe verwendet. Ein Milligramm pro Kilo- gramm Körpergewicht ist tödlich für den Menschen."

Man befand sich also auch in Augsburg mitten im Thema „Eigent- liche Sterbehilfe". Obwohl die An- klage davon ausgehen mußte, daß das Chemikaliengesetz vom 1. Okto- ber 1986 „jedes Inverkehrbringen oder Verwenden" giftiger Stoffe durch „unbefugte Personen" bei Strafe bis zu fünf Jahren Haft (!) ver- bietet, erklärte Atrotts Verteidiger im Gerichtssaal frei heraus, sein Mandant stehe zu seiner Sterbehilfe

„als der besten, die es in der Welt gibt". Eine direkte Verbindungslinie zur „eigentlichen Sterbehilfe" zog überdies die Anklagevertretung selbst mit dem Hinweis, Atrott habe sich höchstwahrscheinlich unter dem Eindruck einer spektakulären Ster- behilfe (April 1984, Hermine Eckert) aus Geldgier dazu entschlossen, Kali- um- beziehungsweise Natriumzyanid

„im Grammbereich" an Sterbewillige zu verkaufen.

Grundsätze

Für die Ärzte muß es grundsätz- lich dabei bleiben: Hilfe beim Ster- ben ja, Hilfe zum Sterben nein. Aller- dings kann auch die Ärzteschaft nur wünschen, daß die Grauzone, die sich rings um das Giftverbot noch im- mer ausbreitet, bald beseitigt wird.

Denn auch ihr kann nur daran gele- gen sein, daß klare, präzise und justi- tiable Regelungen sie aus der Zwangslage befreien, moribunde Pa- tienten von Gesetzes wegen vermeid- baren Qualen überlassen zu müssen.

Einwände und Vorschläge liegen vor, Beispiele wie das der Niederlande können die Orientierung erleichtern.

Weil der Weg zu einer Lösung des Problems „Humanes Sterben" steinig sein wird, sollten sich zunächst die Ärzte selbst, dann aber auch mög- lichst bald der Gesetzgeber des The- mas annehmen. Kurt Gelsner

AKTUELL

Namentlich der AOK-Bundes- verband lehnt eine weitgehende Pri- vatisierung der gesetzlichen Kran- kenversicherung und eine Reprivati- sierung des Krankheitsrisikos ebenso wie eine sonst hoch im Kurs stehende Aufsplittung in Grund-/Basisversor- gung sowie die Zuwahl von Wahllei- stungen ab (diese „Option" goutieren beispielsweise der Sachverständigen- rat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen in seinem im Fe- bruar vorgelegten „S achstandsbe- richt" und der Vorsitzende des Ge- sundheitsausschusses im Deutschen Bundestag, Dr. rer. pol. Dieter Tho- mae, FDP-MdB aus Sinzig). Die Ortskrankenkassen sehen keinen akuten und aktuellen Anlaß, über ei- ne grundlegende Neubestimmung des Leistungskatalogs der GKV oder über eine Rationierung von Gesund- heitsgütern und -dienstleistungen zu diskutieren. Allerdings sollten solche Leistungen aus dem Katalog der GKV ausgegliedert werden, die kei- nen direkten Bezug zum Krankheits- risiko haben. Allgemeine Leistungen müßten über Steuermittel durch den Staat finanziert werden.

Der AOK-Bundesverband be- ruft sich auf die hohe Akzeptanz der Versicherten bei der Dimensionie- rung und Gewährleistung des Kran- kensicherungsschutzes. Die Bevölke- rung präferiere eine Absicherung des Risikos auf hohem Niveau und aus einer Hand („vollwertige Versor- eung"). Allerdings müßten bei ge-

wandelten Rahmenbedingungen neue Prioritäten im Leistungskatalog gesetzt werden. Die Krankenkassen und die gemeinsamen Selbstverwal- tungen von Kassen und Ärzten werden aufgerufen, nur medizinisch notwen- dige, wirtschaftlich erbrachte Leistun- gen zu erbringen und zu gewähren.

Recht der

Selbstverwaltung Die Betriebskrankenkassen plä- dieren dafür, die Leistungsgestaltung qua Gesetz der Selbstverwaltung der Krankenkassen zu überlassen. Der Betriebskrankenkassen-Bundesver- band wirbt darüber hinaus für eine verstärkte wettbewerbliche Gestal- tung der gesetzlichen Krankenversi- cherung und für gleichgewichtige Startpositionen aller Kassenarten.

Ziel ist es, eine qualitativ hochste- hende Versorgung zu „vernünftigen Preisen" und bei Beibehaltung lohn- bezogener Beiträge zu gewährleisten.

Eine grundsätzliche Beibehaltung des derzeitigen Sicherungsniveaus schließt nach Meinung des AOK- Bundesverbandes nicht aus, daß aus der Leistungspflicht ausgegrenzte Leistungen von der AOK selbst oder durch Kooperation mit Dritten ange- boten und zu einem Prämienzuschlag erbracht werden.

Wie gehabt plädieren nament- lich die Ortskranken- und die Ersatz- kassen für eine Flexibilisierung des

Krankenkassen im Pläne-Wettstreit

Für Flexibilisierung des Leistungs-

und Vertragsrechtes

Im „Superwahljahr 1994" und im Vorfeld der bereits avisierten dritten Stufe zur Strukturre- form im Gesundheitswesen wollen auch die Bundesverbände der gesetzlichen Krankenkas- sen (GKV) bei dem von Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer aufgerufenen Ideen- wettstreit um das „beste Reformprogramm" nicht zurückstehen. Fast zeitgleich meldeten sich der AOK-Bundesverband (Bonn), der Bundesverband der Betriebskrankenkassen (Es- sen) und die beiden Ersatzkassenverbände (Siegburg) zu Wort. Nicht Revolution, sondern behutsame evolutionäre Weiterentwicklung des Gesundheitswesens, lauten die Devisen.

Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 14, 8. April 1994 (21) A-949

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

■ g) Frau Fischer ist eine Kollegin von Carsten Tsara und Verena Müller.. B Was weiß Tsara über Frau Fischer? Was weiß

Zu beachten ist aber, dass die gestalterischen Orientie- rungshilfen nicht alle umgesetzt werden können und dass eine Auswahl für das jeweilige Ereignis getroffen werden sollte,

Rauchmelder werden zudem für Aufenthaltsräume wie Wohn- und Arbeitszimmer bundesweit empfoh- len, in Berlin und Brandenburg sind sie bereits verpflichtend.. Anzahl

Gestaltet bitte pro Kirchenkreis ein gemeinsames Feld auf einer Pinnwand der Arbeitsfelder AmK und Jugendarbeit?. - Größe maximal 2 X A3 = A2 - werdet

Clemens Bethge, Konsistorium, Referat 2.2 Kirchliches Leben im Anschluss Gespräch der Konferenz mit Herrn Bethge: Die Entwicklung und Weiterentwicklung im Arbeitsbereich Arbeit

Egal für welchen Gebäudetyp Sie eine Alternative zu fossilen Energieträgern suchen, Biogas und Biomethan stehen schon heute für eine erneuerbare Energieversorgung bereit?.

Er gehört zu den «Alten» im Gefängnis, ist einer von elf Insassen der 2011 gegründeten Altersabteilung 60plus.Ihm gefällt es dort: «Ich habe einen Fernseher, einen Wasserkocher,

Nachdem wir aufgrund der aktuellen Situation bisher keine Veranstaltung abhalten konnten, laden wir nun herzlich ein..