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F O R T B I L D U N G ● F O R M A T I O N C O N T I N U E
AR C H I V E S O F IN T E R N A L ME D I C I N E
Anhand der umfangreichen Medikamentenverschrei- bungsdaten der kanadischen Provinz Ontario liess sich ein weiteres Beispiel für eine ungünstige Verschreibungs- kaskade eruieren.
Die Pharmakotherapie bei älteren Men- schen bleibt eine konstante Herausforde- rung. Meist erhalten inadäquat verschrie- bene Medikamente oder Interaktionen die Aufmerksamkeit. Daneben gibt es auch subtilere Mechanismen unangemes- sener Medikamentenverschreibungen.
Dazu gehört die Verschreibungskaskade:
Zunächst wird ein Medikament indikati- onsgemäss verschrieben. In der Folge ent- wickelt sich eine Nebenwirkung. Nun wird diese mit einem weiteren Arzneimittel
«behandelt», anstatt dass die Indikation und Notwendigkeit für das erste Medika- ment sowie allfällige Alternativen (inklu-
sive nichtpharmakologischer) bedacht werden. Einige Beispiele, wie sie in der Praxis im englischsprachigen Raum be- schrieben wurden, zeigt die Tabelle.
Neuestes Beispiel ist die Cholinesterase- hemmer-Anticholinergikum-Kaskade.
Cholinesterasehemmer wie Donepezil, Galantamin oder Rivastigmin werden heute bei Demenzsymptomen weit herum verschrieben. Durch ihre Wirkung auf das autonome Nervensystem können sie eine Dranginkontinenz fördern. Gleichzeitig kann eine neu auftretende oder sich ver- schlechternde Inkontinenz aber auch Teil des natürlichen Verlaufs bei Demenz sein.
Da bleibt Platz für ein klinisch relevantes Missverständnis, wenn die Harnwegssym- ptomatik nicht als Arzneimittelnebenwir- kung erkannt wird: Die Inkontinenz wird mit einem Anticholinergikum behandelt, anstatt dass die Dosis des Cholinesterase- hemmers reduziert oder dieser ganz ab- gesetzt wird. Diese Kombinationsbehand- lung ist jedoch nicht nur hinsichtlich der Harndrangsymptome und wegen mög- licher zusätzlicher Nebenwirkungen frag- würdig, sie kann den günstigen Effekt des Cholinesterasehemmers auf die Kognition auch teilweise oder gänzlich zunichte machen.
Dass dergleichen in der Praxis durchaus vorkommt, haben kanadische Autoren anhand der Datenbank zu den Medika-
mentenverschreibungen in der kanadi- schen Provinz Ontario jetzt nachweisen können. Ältere Menschen mit Demenz, die Cholinesterasehemmer erhielten, hat- ten ein höheres Risiko, im Verlauf auch ein Anticholinergikum verschrieben zu be- kommen (4,5% vs. 3,1%, p < 0,001;
Hazard Ratio 1,55 [95%-KI 1,39–1,72]), als Menschen, die keinen Cholinesterase-
hemmer einnahmen. ●
Sudeep S. Gill (Institute for Clinical Evalua- tive Sciences, Toronto, Ontario/CAN) et al.:
A prescribing cascade involving cholin- esterase inhibitors and anticholinergic drugs. Arch. Intern. Med. 2005, 165:
808–813.
Halid Bas
Interessenkonflikte: Die Finanzierung erfolgte über verschiedene Forschungsunterstützungen.
Einer der Autoren deklariert Rednerhonorare von Pfizer.
Cholinesterasehemmer – Harninkontinenz –
Anticholinergika
M M M
M e e e e r r r r k k k k -- --
p u n k t p u n k t
●Demenzkranke können unter Cholinesterasehemmern eine Harninkontinenz entwickeln, die als Medikamentennebenwirkung und nicht als Zeichen einer De- menzprogression oder Störung anderer Ursachen missdeutet werden sollte. Entsprechend ist die Inkontinenz nicht reflexmäs- sig mit einem Anticholinergikum zu behandeln.
Ta b e l l e :
B e i s p i e l e f ü r Ve r s c h r e i b u n g s k a s k a d e n i n d e r P r a x i s
i n i t i a l e B e h a n d l u n g N e b e n w i r k u n g F o l g e t h e r a p i e nichtsteroidale Antirheumatika Blutdruckanstieg Antihypertensiva
Thiaziddiuretika Hyperurikämie Gichtbehandlung
Metoclopramid Parkinson-Symptome Levodopa-Therapie
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