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Archiv "Geistig behinderte Menschen im Krankenhaus: Alles andere als Wunschpatienten" (06.07.2007)

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A1970 Deutsches ÄrzteblattJg. 104Heft 276. Juli 2007

T H E M E N D E R Z E I T

D

ie Zahl der Menschen mit ze- rebralen Störungen und geis- tig-seelischen Behinderungen in Deutschland nimmt nach Angaben des Statistischen Bundesamtes zu.

Gleichzeitig entwickelt sich der Altersdurchschnitt dieser Menschen wie bei der Bevölkerung allgemein immer weiter nach oben. Von den rund 1,2 Millionen Menschen, die Ende 2005 mit einer solchen Behin- derung in Deutschland lebten, waren 16 817 (= 14,5 Prozent) im Alter zwischen 35 und 45 Jahren und 203 877 (= 17,6 Prozent) 75 Jahre oder älter, wobei die im Alter erwor- benen Behinderungen den größten Anteil bilden dürften (1).

Geistig behinderte Menschen stellen auch ein immer größeres Pa- tientenkollektiv in den Krankenhäu- sern dar. Umso erstaunlicher ist es jedoch, dass diese Einrichtungen und ihr Personal kaum auf diese Pa- tienten vorbereitet sind. Wie wenig diese Problematik bisher wissen- schaftlich bearbeitet wurde, zeigt die Tatsache, dass man bei einer Inter- netrecherche in der bekanntesten medizinischen Datenbank (Pubmed) zu der Verknüpfung Blinddarment- zündung und Autismus keinen ein- zigen Eintrag findet.

Sinnvolle Durchführung oft nur mit hohem Aufwand

Für die meisten geistig behinderten Menschen bedeutet ein Krankenhaus- aufenthalt ein dramatisches, mög- licherweise traumatisches Ereignis.

Schon aus Kostengründen sollte das Gesundheitssystem diese Patienten besonders berücksichtigen, denn die Verläufe sind häufig langwierig und dadurch kostenintensiv.

Aufgrund der hochgradigen Spe- zialisierung der Medizin sowie aus Zeit- und somit Kostengründen sind

Ärzte und Pfleger daran gewöhnt, nach bestimmten Schemata zu arbei- ten. Sogenannte StOPs (Standard Operating Procedures) sind Behand- lungspfade, denen ein Patient mit ei- ner gewissen Diagnose zugeteilt wird und die bereits vor der Aufnah- me festlegen, wann der Patient bei- spielsweise einer bestimmten Unter- suchung zugeführt oder wann er ent- lassen wird. Gleichzeitig stellen sie in vielen Krankenhäusern die Be- rechnungsgrundlage für den Perso- nal- und Materialaufwand einer Ab- teilung dar.

Viele geistig behinderte Patienten lassen sich nicht ohne Weiteres einem Behandlungspfad zuordnen oder nach einem Schema untersuchen. Die übliche Vorgehensweise scheitert be- reits bei der Anamnese, die häufig nicht möglich ist, sodass der Arzt auf eine Fremdanamnese angewiesen ist.

Auch die körperliche Untersuchung, bei der etwa mittels Schmerzreizen versucht wird, richtungsweisende Befunde zu erheben, ist häufig er- schwert, da der Patient völlig unge- wöhnlich oder gar nicht darauf rea- giert. Dies hatte zu der irrtümlichen Annahme geführt, dass geistig be- hinderte Patienten ein vermindertes beziehungsweise gar kein Schmerz- empfinden haben. Neuere Studien zeigen, dass beispielsweise bei autis- tischen Patienten die Schmerzinten- sität sogar stärker wahrgenommen wird als in einer Vergleichsgruppe (2). Jeder klinisch tätige Arzt weiß, wie sehr Schmerzen einen Krank- heitsverlauf negativ beeinflussen können – und dies häufig völlig unnötigerweise. Fehlende Krankheits- einsicht oder die Unfähigkeit, die Pa- tientenrolle zu übernehmen, tragen ebenfalls dazu bei, dass die Krank- heitsverläufe nicht immer kompli- kationsfrei sind.

Gleichzeitig sind bestimmte Unter- suchungen oder Therapieformen nur mit einem deutlich erhöhten Aufwand sinnvoll durchzuführen. Als Beispiel sei hier die Computertomografie ge- nannt, die nur verlässliche Resultate liefert, wenn sich der Patient mög- lichst wenig, am besten gar nicht be- wegt. Dies könnte bei einigen geistig behinderten Patienten eine Vollnarko- se mit all ihren Risiken bedeuten. Es liegt also beim Arzt beziehungsweise dem gesamten medizinischen Perso- nal, durch die Entwicklung unkon- ventioneller Methoden und Thera- pien, die auch eine Verhältnismäßig- keit im Auge behalten sollten, zum gewünschten Resultat zu gelangen.

Die Tonsillektomie ist eine der am häufigsten durchgeführten Ope- rationen überhaupt. Kein Wunder also, dass sich Hals-Nasen-Ohren- Ärzte aus San Diego, USA, Ge- danken machten, wie man die oft- mals schwierigen Untersuchungs- bedingungen und komplizierten Verläufe bei geistig behinderten Patienten verbessern könnte. Sie schlugen vor, die Eltern als Berater hinzuzuziehen, die Trennung von familiären Bezugspersonen, Objek-

GEISTIG BEHINDERTE MENSCHEN IM KRANKENHAUS

Alles andere als Wunschpatienten

Viele geistig behinderte Patienten lassen sich nicht ohne Weiteres nach einem bestimmten Schema untersuchen. Ihre Behandlung erfordert engagiertes Personal, Zeit und mehr finanzielle Mittel.

Foto:BilderBox

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Deutsches ÄrzteblattJg. 104Heft 276. Juli 2007 A1971

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ten oder Routinen möglichst kurz zu halten und durch prä- und post- operative Rollenspiele für Ablen- kung zu sorgen (3). Bei Patienten, die einer schwierigen und unange- nehmen Untersuchung oder Thera- pie zugeführt werden sollen, emp- fiehlt eine andere Arbeitsgruppe aus Philadelphia, dass eine besonders enge, interdisziplinäre Zusammen- arbeit zwischen Pflegepersonal, Psychologen und Schmerztherapeu- ten stattfinden sollte (4).

Klar ist, dass diese Zusammenar- beit und die unkonventionellen Me- thoden ein deutliches Mehr an zeit- lichem, finanziellem und mögli- cherweise emotionalem Aufwand für die behandelnden Personen be-

deuten. Die nur empirisch und nicht wissenschaftlich belegbare Tatsa- che, dass viele Angehörige der Heil- berufe bereit sind, dies bei solchen Patienten in Kauf zu nehmen, lässt sich als Beleg dafür deuten, dass nicht jeder mit den Veränderungen im modernen Krankenhauswesen einverstanden ist.

DRGs: Immer mehr, immer schneller mit immer weniger

Seit Einführung der DRGs (Diagno- sis Related Groups) wird jeder sta- tionäre Patient aufgrund seiner Auf- nahmediagnose einem Kollektiv zu- geteilt, für dessen Behandlung die Krankenhausverwaltungen mit den jeweiligen Kostenträgern in jährli- chen Abständen Fallpauschalen ver- einbaren. Das bedeutet, dass die Krankenhäuser, unabhängig, wie lange sich ein Patient tatsächlich in einer Abteilung befindet und welche Kosten dabei entstehen, immer nur die vereinbarte Pauschale vergütet bekommen. Man kann sich gut vor- stellen, dass bei einem verlängerten Intensivaufenthalt oder dem Einsatz bestimmter Medikamente häufig das Mehrfache der vereinbarten Pauschale als Kosten zu Buche schlagen.

Das Ziel wirtschaftlich arbeitender Verwaltungen wird sein, möglichst viele Patienten in möglichst kurzer Zeit mit möglichst geringem materi- ellen und personellen Aufwand zu behandeln. Oder anders ausgedrückt:

immer mehr, immer schneller mit im- mer weniger. Eine Rechnung, die nur aufgrund des großen Engagements und Einsatzes sowohl des pflegeri- schen als auch des ärztlichen Perso- nals bis dato aufging.

Eine Möglichkeit, entstandene Mehrleistungen dennoch zumindest teilweise vergütet zu bekommen, bieten die Nebendiagnosen bezie- hungsweise der sogenannte Case- Mix. Aufgrund der Annahme, dass multimorbide Patienten mit mehre-

ren Nebenerkrankungen auch mehr Kosten verursachen, wurde den Krankenhäusern, wenn diese Ne- bendiagnosen korrekt angegeben wurden, eine um einen ebenfalls jährlich festgelegten Faktor erhöhte Fallpauschale zugestanden. Bei ei- ner geistigen Behinderung als Ne- bendiagnose konnte beispielsweise die zugrunde gelegte Fallpauschale mit dem Faktor 1,3 multipliziert werden, was in etwa dem Vorliegen eines Diabetes mellitus entsprach.

Für das Jahr 2006 wurden jedoch für die Vergütung der stationären Leis- tungen die Nebendiagnosen und somit auch eine mögliche geistige Behinderung in vielen Fachabtei- lungen nicht berücksichtigt.

Es wird also auch vom Gesetzge- ber in Kauf genommen, dass geistig behinderte Patienten für die Kran- kenhäuser alles andere als Wunsch- patienten sind und ihre Behandlung eine zumindest finanzielle Belastung darstellt. Ein Zustand, der insbeson- dere vor dem Hintergrund der zuneh- menden Privatisierung von Klinika und der de facto bereits stattfinden- den Patientenselektion besorgniser- regend ist. Wenn man bedenkt, wie schnell und aus welchen Gründen im Gesundheitswesen von einer „Zwei-

klassenmedizin“ gesprochen wird, erscheint es verwunderlich, dass in diesem Zusammenhang bisher noch von niemandem dieses Schlagwort benutzt wurde.

Ohne politische Zielvorgaben wenig Raum für Veränderung

Um sicherzustellen, dass geistig be- hinderte Patienten adäquat und er- folgreich behandelt werden können, muss den Krankenhäusern eine Möglichkeit gegeben werden, den entstehenden Kosten- und Personal- aufwand in irgendeiner Form aus- gleichen zu können. Das Nicht- berücksichtigen der Nebendiagno- sen ist sicherlich das falsche Signal zum falschen Zeitpunkt.

Die Problematik des geistig be- hinderten Patienten in der heutigen Krankenhauswelt ist vielschichtig und komplex, und allgemeingültige Lösungen liegen nicht auf der Hand.

Um das Trauma für die Patienten zu minimieren und den Bezug zur ge- wohnten Umgebung zu erhalten, ist eine enge Kooperation der jeweili- gen Einrichtungen, in denen die Pa- tienten leben, und der Krankenhäu- ser notwendig, wie sie zum Teil be- reits praktiziert wird. Auf lange Sicht kann dies jedoch nur sicherge- stellt werden, wenn auch die finanzi- ellen Mittel hierfür zur Verfügung stehen. Allein aus Kostenersparnis- gründen müssten sowohl Kostenträ- ger als auch Krankenhausverwaltun- gen ein Interesse an einer patienten- gerechteren Behandlung haben. Oh- ne politische Zielvorgaben bleibt je- doch wenig Raum für Veränderun- gen. Doch die Dinge sollten sich bald ändern, denn die geistig behin- derten Patienten tun es nicht. n Dr. med. Kai Harenski

LITERATUR

1. Statistisches Bundesamt: www.destatis.de/

allg/d/veroe/behinderte.htm.

2. Nader R, Oberlander TF, Chambers CT, Craig KD: Expression of pain in children with autism. Clin J Pain. 2004; 20: 88–97.

3. Seid M, Sherman M, Seid AB: Perioperative psychological interventions for autistic children undergoing ENT surgery. Int J Pediatr Otorhinolaryngol. 1997; 40(2–3):

107–13.

4. Souders MC, Freeman KG, DePaul D, Levy SE: Caring for children and adolescents with autism who require challenging procedures.

Pediatr Nurs. 2002; 28(6): 555–62.

Es wird vom Gesetzgeber in Kauf genommen, dass

die Behandlung geistig behinderter Patienten für die

Krankenhäuser eine finanzielle Belastung darstellt.

Referenzen

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