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Geographie als moderne theorieorientierte Sozialwissenschaft? — erdkunde

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Band 38, Heft 2 FERD. DUMMLERS VERLAG/BONN Juni 1984

Die Aufsatze dieses Heftes sind Peter Scholler, dem langjahrigen Mitglied des Beirats der Erdkunde,

von den Autoren zum 60. Geburtstag gewidmet

GEOGRAPHIE ALS MODERNE THEORIEORIENTIERTE SOZIALWISSENSCHAFT?*>

EUGEN WlRTH

Summary: Geography - a modern social science?

Led by Dietrich Bartels a dynamic group, made up largely of younger German geographers, has since 1968 demanded that Human Geography should be conducted in line with a methodologi

cally modern, theory-orientated social science. On the model of spatial analysis and the regional science of English-language geogra phy all geographical research ought to aim itself at universally valid

laws and comprehensive theories of social science. Where German geography has followed this summons it has for some years already been drawn into the serious crisis of modern social sciences. As a consequence, most recent epistemological developments of Human Geography in Germany can be summarized under three headings:

1. Thirty years of every-day research routine in the empirical social sciences have shown that a strict orientation towards the general, towards laws and comprehensive theories lead into a cul-de sac. It is often the case that not only the interesting nuances, but rather the "essential" and the "decisive" are submerged in the

"noise" of the applied procedures. For that reason not only do many prominent social scientists turn to other concepts, but many geographers increasingly direct themselves towards the unique and the special.

2. The attempt by Hans Albert and Ernst Topitsch - two German social scientists - to transfer the principles of positivism in

the theory of science from the natural sciences to the social sciences, must now be regarded as having failed. According to this concept, explanation in all sciences means a deviation from theories or theory like general statements. However, human activities can only be defined very imperfectly with the help of general theories; as a consequence, the search for suitable theoretical concepts has so far been in vain.

3. Equally unsuccessful was the theory of science's fundamental positivist conception that, in the social sciences, a fact is considered as explained when, and only when, its causes have been demon strated. An explanation of human activity does not ask "why", but

"what for". Thus it is not a matter of causes, but of intentions, motives, purposes, meaningful connections, orientations. Motivations,

understanding, interpretation and creative explanation must take the place of causal explanation.

In a research concept that promises to be highly successful in geography, human activity can be accounted for by rational recon struction of the respective particular action situation and of action strategies in retrospective analysis. In conclusion, by using examples it is shown how such a rational reconstruction of human activities can be carried out in geography.

Nicht zu Unrecht wird die geographische Wissenschaft gelegentlich als diejenige Disziplin charakterisiert, die sich

mit Distanzen undDistanzenrelationen befafit. Selbst lacher

lich geringe Entfernungen konnen ja von entscheidender Bedeutung fiir Standorte im Raum sein: Funf Meter naher

oder ferner von der Kundenschlange, die sich an der Kasse eines Supermarktes bildet, wirken sich spiirbar auf den

Absatz eines ausgestellten Artikels aus. Das vorgegebene

Wegenetz eines Parks wird schon dann durch diagonal ver

laufende Trampelpfade querbeet erganzt, wenn man dadurch

allenfalls 20 oder 30 m Fuflweg einsparen kann. In unseren Innenstadten verdoppeln sich gelegentlich die Grundstiicks

preise und Ladenmieten iiber eine Entfernung von nur 100

oder 200 m hinweg, und ein Pendler mufi 10 oder 15 km Ent fernung zwischen Wohnung und Arbeitsplatz nicht selten

mit einem zusatzlichen Zeitaufwand von bis zu 2 Stunden

pro Tag bezahlen.

Und doch, wie wenig zahlen selbst grofie Entfernungen in vielen anderen Bereichen unseres gewohnten Alltags! Die Distanz zwischen dem Wohnort Minister und dem Arbeits platz Bochum kann selbst fiir einen vielbeschaftigten Hoch

schullehrer zur quantite negligeable werden. Gemiise aus

der Bretagne und Obst aus Sudfrankreich oder aus Italien

konkurrieren auf dem Hamburger Grofimarkt ohne weite

res mit den Produkten der direkt benachbarten Anbau gebiete Altes Land und Vierlande. Und wenn ich am friihen

Morgen meine Wohnung in Erlangen verlasse, dann kann

ich am Nachmittag desselben Tages schon in der Altstadt

von Damaskus kartieren und befragen. So haben zuneh

mende weltwirtschaftliche Verflechtung und moderne Ver kehrstechnik dazu gefiihrt, dafi ,the frictions of distance4, die

*> Am 5. Dezember 1983 wurde in Bochum anlafilich des 60. Ge burtstages von Peter Scholler ein Colloquium abgehalten, auf dem E. WiRTH zu dem Thema sprach ?... for time is the longest distance between two places". Der nachstehende Auszug beschrankt sich auf die sachlich-allgemeinen Abschnitte dieses Vortrags; die in den Vortrag einbezogene personliche Wiirdigung von Leben und Werk Peter Schollers war nicht fiir eine Veroffentlichung bestimmt.

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74 Erdkunde Band 38/1984

Reibungsverluste beim Uberwinden von Entfernungen, immer kleiner werden. Informationen gehen in wenigen

Sekunden rund um die ganze Welt, und auch der Aufwand

beim Transport von Personen und von Gtitern wird immer geringer.

Vollig ohnmachtig steht demgegenuber aber der Mensch vor dem Sichentfernen in der Zeit. Es gibt keine Verkehrsmit

tel, um zeitliche Distanzen zu uberwinden. Das Gestern und Vorgestern ist vom Heute fur uns noch genauso weit ent

fernt wie fur die Menschen im Palaolithikum. Eine zeitliche Entfernung von mehreren Jahrzehnten kann selbst fur das

menschliche Erinnerungsvermogen fast unuberbriickbar

werden. Angesichts dieses Ausgeliefertseins an die Zeit wird

man an die letzten Worte des Tom in der ?Glasmenagerie"

von Tennessee Williams erinnert: ?I didn't go to the moon, I

went much further - for time is the longest distance between

two places".

Vor mehr als 31 Jahren, im April 1952, bin ich zum ersten

Mai mit Peter Scholler zusammengetroffen ...

Was aber geschah in jenen langen drei Jahrzehnten mit der Geographie, d. h. im Kontext meines Vortrags mit der Geographie des Menschen, Kulturgeographie, Sozial- und Wirtschaftsgeographie? Ist diese Wissenschaft nicht in stiir

mischer Entwicklung uber uns hinweg oder an uns vorbei gezogen? Gilt heute uberhaupt noch etwas von dem, was wir

vor 30 Jahren lernten und lehrten? Die ersten fiinfzehn Jahre erscheinen ruckblickend noch verhaltnismafiig normal und

undramatisch; sie waren uberwiegend durch den Wieder

beginn nach Kriegsende, durch Ausbau und Konsolidierung gepragt. Dann aber erschien 1968 die Habilitationsschrift von Dietrich Battels, und sie leitet jetzt eine bis in das Funda

ment unserer Wissenschaft reichende Kontroverse ein: Auf

der Grundlage des Kritischen Rationalismus sollte auch die

Geographie zu einer ?methodisch modernen Erfahrungs wissenschaft" werden. Erklarung von Sachverhalten er

schien nur noch mit Hilfe allgemein giiltiger Gesetze oder Gesetzmafiigkeiten moglich. Demzufolge sah D. Bartels

die Zukunft unseres Faches als Wissenschaft allein auf der

?nomologischen Seite", d. h. bei sozialwissenschaftlichen Theorien.

Auf dem Kieler Geographentag 1969 haben einige coura

gierte Vertreter der damals jungen und jiingsten Geogra phengeneration die Gedanken von Dietrich Bartels akzen

tuiert und publikumswirksam verkiirzt vorgetragen. Ob

wohl sie dabei ungeachtet alien personlichen Engagements in bewunderungswiirdiger Weise die aufieren Formen und Spielregeln wissenschaftlicher Kongresse eingehalten haben, wurden ihre Thesen von vielen Geographen der alteren Generation als Provokation empfunden. Dafi es Peter Scholler in unermudlichem, auch die Gesundheit nicht schonendem Einsatz gelang, die Flammen der auf

lodernden Konfrontation zu loschen, habe ich bereits er wahnt. Gerade deshalb aber, weil - von ganz wenigen Aus

nahmen abgesehen - keine unversohnlichen Feindschaften

aufbrachen, sind viele der jungeren Geographen in ihrer wissenschaftlichen Grundeinstellung dem Rufe gefolgt,

Geographie als eine methodisch moderne, theorieorientierte

Sozialwissenschaft zu betreiben. Auch die Alteren wurden gezwungen, Farbe zu bekennen. Einige gerade der besten unter ihnen lieften sich durch die neue Bewegung derart ver

unsichern, daft sie schon weit forgeschrittene Arbeiten jah

abbrachen.

Das wissenschaftliche Werk Peter Schollers ist von die

ser jungen Entwicklung allenfalls randlich beriihrt worden.

Seine Fragestellungen und Forschungskonzeptionen lagen jenseits des Gegensatzes zwischen ,traditioneller' und

,moderner' Geographic Damit betrifft es ihn jetzt in keiner

Weise, daft sich der nachste Sturm am Horizont zusammen braut: Soweit die Geographie zu einer positivistisch-theorie orientierten Sozialwissenschaft geworden ist, wird sie nun mehr auch in die tiefe, fast ausweglose aktuelle Krise moder

ner Sozialwissenschaft mit hineingezogen.

Obgleich viele Geographen diese Krise uberhaupt noch nicht sehen oder bewuftt die Augen vor ihr verschlieften, werden seit etwa einem Jahrzehnt die kritischen Stimmen in

den Nachbardisziplinen Soziologie, empirische Sozialfor

schung, Anthropologic, Sozialpsychologie, Wirtschafts

theorie immer lauter vernehmlich: Je feiner die Methoden und Techniken empirischer Erhebungen ausgefeilt werden,

um so uninteressanter und nichtssagender wurden die zu grundeliegenden Theorien. Kein Geringerer als Erving Goffman, ein bahnbrechender, souveraner Wissenschaftler

und President der ,American Sociological Association*,

spricht von zunehmender Blindheit fiir die wirklich rele

vanten Faktoren, vom Scheitern instrumenteller Prognosen und von einem hohen Niveau trainierter Inkompetenz

(1983, S. 2). ?Die Wissenschaftlichkeit des Ganzen ist dabei

durch die Verwendung von Laborkitteln und Regierungs geldern sichergestellt. ... Es scheint sich hier um eine Art

kongeniale Magie zu handeln, der die Uberzeugung zugrun deliegt, daft, wenn man die Handlungen vollzieht, die der

Wissenschaft zugeordnet werden, das Resultat Wissenschaft sein miisse" (E. Goffman 1974, S. 18).

Ganz analog sprach der Vorsitzende der Deutschen Ge

sellschaft fiir Soziologie, Joachim Matthes, in seinen

Grundsatzreferaten auf dem Bremer und Bamberger Sozio

logentag 1980 und 1982 von einer zunehmenden Neigung

zur Sektenbildung in den Sozialwissenschaften. Diese sei unter anderem dadurch gekennzeichnet, daft sich zahllose hochspezialisierte Methoden und Verfahren entwickelt hatten und sekteninterne Debatten gefiihrt wurden, deren Dokumentation in Literatur und Fachpresse eher der Forde

rung des jeweiligen internen Konsens denn der Forderung des Fortschritts in der Gesamtdisziplin dienen. Es tut sich eine Mauer der Fremdheit zwischen Forschung und Bezugs welt auf, und man befafit sich nicht mehr mit Beziehungen

zwischen Handelnden, sondern nur noch mit Merkmalen und Merkmalstragern.

Nachdem schon die ,New Geography* qua moderne

Sozialwissenschaft aus dem angelsachsischen Sprachbereich nach Deutschland gekommen ist, erwarten manche Geogra

phen den Ausweg aus dem Debakel nun wieder von Uber

see. Man versucht es mit Behavioural Geography, Percep tion Studies, Humanistic Geography, Phenomenology,

Radical Geography. In einer vielfach vollig unkritischen

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Ubernahme und Nachahmung werden diese Konzeptionen und wissenschaftlichen Modestromungen importiert. Oft

gilt schon nicht mehr der eigenstandige, originelle Denker

am meisten, sondern derjenige, der die angelsachsischen Fragestellungen und Verfahren am gekonntesten uber nimmt und sie am iiberzeugendsten vortragt.

Daft sich daraus keine fruchtbaren und tragfahigen Zu kunftsperspektiven fiir die Geographie ableiten lassen, habe

ich bei meinem letzten Colloquiumsvortrag hier in Bochum gezeigt (vgl. E. Wirth 1981). Heute will ich anzudeuten ver suchen, in welche Richtung unsere Wissenschaft kiinftig fortschreiten konnte. Dabei wird sich herausstellen, daft wir in mehrfacher Hinsicht nur dort wieder anzukniipfen

brauchen, wo uns das wissenschaftliche Werk von Peter

Scholler hingefiihrt hat. Man kann die jiingste Entwick

lung vielleicht in drei Punkten zusammenfassen:

1. Dreifiig Jahre Forschungsroutine und Forschungs alltag in den Sozialwissenschaften haben zu dem empirischen Ergebnis gefiihrt, dafi eine streng nomologische Ausrichtung auf das Allgemeine, auf Gesetzmafiigkeiten und umfassende Theorien offensichtlich doch nicht den Konigsweg darstellt.

Denn vielf ach gehen dabei nicht nur irgendwelche uninteres

santen Nuancen, sondern gerade das ?Wesentliche", ?Wich tige", ?Entscheidende" im Storgerausch unter. Auch sind

die Begriffe, mit denen wir menschliches Handeln und Ver

halten beschreiben, so geartet, dafi sie nicht fiir die Formu lierung von Gesetzesaussagen taugen (O. Schwemmer 1983,

S. 3). So verwundert es nicht, daft sich viele prominente

Sozialwissenschaftler wieder starker dem Einmaligen und Besonderen zuwenden.

Fiir die Wissenschaften unserer klassischen Philosophi schen Fakultaten -

Geschichtswissenschaft, Sprach- und Literaturwissenschaften, Kunstgeschichte, Altertumswissen

schaften - ist die Beschaftigung mit einzigartigen, einmali gen Phanomenen ohnehin selbstverstandlich. Perikles und

Lenin, Erasmus von Rotterdam und Nietzsche, Shakespeare und Hebbel, Diirer und Picasso, Balthasar Neumann und

W. Gropius, Mozart und Hindemith sind als Personlich

keiten und in ihren Werken von unverwechselbarer Indivi dualist. Dam it erwecken sie unser Interesse, nicht als fast

beliebige Beispiele und Exemplare eines Allgemeineren.

Ahnliches gilt auch fiir die Geographie: Man kann zwar,

um nur ein Beispiel zu nennen, eine ganze Reihe von nicht uninteressanten allgemeinen Aussagen machen iiber Haupt

stadte ganz allgemein, oder iiber friihere Hauptstadte, oder iiber geteilte Hauptstadte. Wichtiger und interessanter er scheint es dann aber doch, unsere geteilte ehemalige Haupt stadt Berlin als einmaligen Sonderf all zu analysieren, wie das

Peter Scholler und seine Schiiler getan haben. Geographie

des Menschen wird hier als Kulturwissenschaft verstanden,

und beziiglich der Kulturwissenschaften sagte schon Nico

lai Hartmann: ?Der iiberragende Reichtum des Beson

deren und immer wieder Anderen ist hier das eigentlich

Wesentliche".

Diese Neuorientierung vom Allgemeinen hin zum Ein maligen hat allerdings noch kein verlaflliches Fundament.

Zwar ist das, was ich eben iiber die herausgehobene Bedeu

tung des Individuellen gegenuber dem Allgemeinen in den

Kultur- und Sozialwissenschaften gesagt habe, durchaus einleuchtend, und Sie werden mir vermutlich iiberwiegend zustimmen. Wissenschaftstheoretisch begriinden lafit sich

eine solche Aussage bis heute aber noch nicht in befriedigen

der Weise.

Unser europaisches Abendland ist eben immer noch von

einer nunmehr fast schon zweitausendfunfhundertjahrigen

Tradition gepragt, das Allgemeine hoher zu achten als das Spezielle. Sie beginnt mit der Ideenlehre Platons, in dessen Hohlengleichnis die allgemeine Welt der Ideen mit der strahlenden Sonne und die empirische Wirklichkeit mit

schemenhaften Schatten gleichgesetzt werden. Uber den

Apostel Paulus ging die neuplatonische Vorrangstellung des Allgemeinen auch in die Lehren des Christentums ein.

Erst im spateren Mittelalter kam mit Franziskus von Assisi

eine Gegenbewegung auf; ihr Leitmotiv war Liebe zum

Individuum, zur einzelnen Kreatur Gottes (Abalard, Duns Scotus). Solche Stromungen wurden aber bald schon wieder von den Scholastikern unterdriickt und zuriickgewiesen.

In den Jahrhunderten seit der Renaissance wird dann der Vorrang des Allgemeinen gegenuber dem Besonderen durch

den Aufschwung der modernen Naturwissenschaften neu begriindet. Die Naturgesetze erhalten einen herausgeho

benen Stellenwert; die Erfolge von Medizin und Technik

schienen diesen Stellenwert zu rechtfertigen. Aber auch viele prominente Philosophen und Geisteswissenschaftler - z.B. Kant und Hegel, Karl Marx und Oswald Spengler -

gaben dem Allgemeinen absolute Prioritat.

Erst seit etwa 1890 bemuhen sich Manner wie W. Dilthey, W. Windelband und H. Rickert um eine Rechtfertigung der

wissenschaftlichen Beschaftigung mit dem Individuellen,

Einmaligen, Besonderen. Ihre Begriindung war allerdings mehr philosophisch als modern-wissenschaftstheoretisch,

und sie hat nur zogernd Nachfolge gefunden. Der vor gut 50 Jahren gegriindete ?Wiener Kreis" setzte sich im angel

sachsischen Sprachbereich durch, und mit E. Nagel, C. G.

Hempel, P. Oppenheim und Karl Popper begann um 1950 der wissenschaftstheoretische Siegeszug allgemeiner und umfassender Theorien. Erst seit einem Jahrzehnt etwa be

miiht sich die Wissenschaftstheorie wieder darum, auch die

Beschaftigung mit unverwechselbar-individuellen Sachver halten zu rechtfertigen.

Insgesamt gesehen ist aber die Problematik im ganzen noch vollig unbewaltigt. Es erscheint sehr einleuchtend und

personlich gut begriindet, wenn nach vielen Enttauschun

gen mit Theorien, Gesetzmafiigkeiten und Regelhaftig keiten die Sozialwissenschaft neuerdings damit beginnt,

dem Speziellen, Einmalig-Besonderen kultureller Sachver halte wieder einen hohen Stellenwert einzuraumen. Wissen

schaftstheoretisch besteht dariiber aber noch keine Klarheit.

2. Alles in allem genommen miissen wir heute den

Versuch des Kreises um Hans Albert und Ernst Topitsch wohl als gescheitert ansehen, die wissenschaftstheoretischen

Grundsatze des Kritischen Rationalismus und Logischen

Empirismus, die zunachst einmal auf die exakten Naturwis

senschaften zugeschnitten waren, auf die Sozialwissenschaften

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76 Erdkunde Band 38/1984

zu iibertragen. Nach dieser neopositivistischen Konzeption

gilt ein Sachverhalt dann und nur dann als erklart, wenn man ihn unter Beachtung der spezifischen Randbedingun gen auf allgemeine Gesetzmafiigkeiten zuriickfuhren kann.

Erkldrung bedeutet demzufolge also Ableitungaus Theorien

oder theorieahnlichen allgemeinen Satzen.

Seit mehr als 30 Jahren sind die Sozialwissenschaften nun schon eifrig auf der Suche nach solchen Theorien, und auch die Geographen wurden durch die opinion leaders moder

ner sozialwissenschaftlicher Geographie immer wieder zu

solchem Tun angespornt. Bei iiberwiegend wirtschaftlich

bedingten Sachverhalten, hinter denen das menschliche Be

miihen um Minimierung des Aufwandes oder Optimieren

des Ertrags steht, konnen theoretische Konzepte auch durchaus zur Erklarung z. B. von raumlicher Differenzie rung beitragen - denken Sie nur an die Raummodelle von Johann Heinrich von ThOnen oder von Walter Christal

ler. Fiir Spatial Analysis, Regional Science und Raumpla nung werden Theorien deshalb auch kiinftig unentbehrlich bleiben.

Menschliches Handeln wird aber nicht nur okonomisch

bestimmt. Seine anthropologischen, soziologischen, psycho

logischen Aspekte lassen sich ungeachtet alien Bemuhens bis heute nur sehr unvollkommen oder gar nicht mit Hilfe von

Theorien erfassen. Entsprechend vergeblich war bisher das Suchen nach brauchbaren theoretischen Konzepten. Die Theorien, die aushilfsweise zur Erklarung herangezogen wurden, sind meist in eigenartiger Weise nichtssagend, be

deutungsentleert, und sie gehen am wesentlichen Kern vor bei. ?Von einem Anwachsen des Verstehens alltaglichen Ver haltens kann keine Rede sein - zugenommen hat hochstens

die Distanz davon" (E. Goffman 1974, S. 19). Die ungeheuer komplexe Welt menschlicher Handlungssituationen, All

tagserfahrungen, Beobachtungen und Erlebnisse verarmt

zur Datenbasis von mit Mafi und Zahl eindeutig festleg

baren Sachverhalten. Moderne hypothesentestende Sozial

forschung abstrahiert von der Wirklichkeit des spontanen,

unreflektierten Alltagshandelns und von dessen lebenswelt lichem Kontext. Um Theorien iiberprufen zu konnen, wird der handelnde Mensch zum Merkmalstrager oder vorpro grammierten Antwortautomaten denaturiert.

Im speziellen Bezug auf die Geographie darf ich das wieder anhand eines Beispiels erlautern: Die landliche und kleinstadtische Bevolkerung des siidlichen Miinsterlandes

geht zum Einkaufen nach Dortmund oder nach Miinster.

Die dabei entstehenden Menschen- und Verkehrsstrome kann man mit Hilfe des Gravitationsgesetzes zu erfassen versuchen: Die Einwohnerzahl von Dortmund und von Miinster wird als mj und m2 miteinander multipliziert und durch das Quadrat der Entfernung dividiert. Vergleichend kann man dann in ahnlicher Weise andere Stadte in die For mel einsetzen, zu erwartende Sachverhalte 10 oder 20 Jahre

spater simulieren usw., usw.

Zur Erklarung wiirde ein solches Verfahren allerdings nur wenig beitragen. Erst die Analyse des Einzelfalls ohne Riickfiihrung auf allgemeine Gesetzmafiigkeiten, wie sie

Peter Scholler vorgenommen hat, vermag es zu erklaren,

warum bei etwa gleicher Entfernung zu den beiden Zentren

die einen nach Munster, die anderen nach Dortmund fahren, welche Faktoren zu teilweise ganz ausgepragten Praferen

zen fiihren und welches Netz kultureller, sozialer, psycho

logischer und emotionaler Beziehungen daraus resultiert.

Hier wie in vielen anderen Fallen erfolgt eine befriedigende

Erklarung menschlichen Handelns und Verhaltens also gerade nicht aus allgemeinen Gesetzmafligkeiten, sondern aus ganz einmaligen historischen, sozialen, kulturellen Sach verhalten und Zusammenhangen heraus.

Diese Sachverhalte aber sind ein Kontext, der durch die

gangigen Methoden theorieorientierter empirischer Sozial forschung, durch Befragung und Interviews z.B., uberhaupt nicht erschlossen werden kann. Wenn zwei Menschen mit

einander sprechen, so ist das ja oft verbale Interaktion im

face-to-face-Kontakt, bei der es auf den logischen Sinn des gesprochenen Wortes uberhaupt nicht ankommt. Wie oft

stehen auch Gesprache vor dem Problem ?of saying what

you mean without meaning what you say"!

3. Und damit waren wir nun schon beim letzten und ent

scheidenden Punkt angelangt, iiber den ich allerdings nur

noch thesenhaft vortragen kann: Wir miissen uns endlich

von der (bisher noch als herrschende Meinung geltenden)

wissenschaftstheoretischen Grundkonzeption losen, dafi genau wie in den Naturwissenschaften so auch in den Sozial wissenschaften ein Sachverhalt dann und nur dann als er

klart gilt, wenn ich seine Ursachen aufgezeigt habe. Ob die kausale Ableitung dabei auf ein Gesetz (nomologische Erklarung) oder auf Konstellationen und Ketten spezifischer Randbedingungen (Kausalerklarung) zuriickgreift, spielt in

unserem Zusammenhang keine Rolle.

Seit Max Weber besteht in den Sozialwissenschaften ein weitgehender Konsens darin, dafi menschliches Handeln

und menschliches Verhalten Ausgangspunkt und Zentrum

alien wissenschaftlichen Bemiihens sei. Auch die Kulturwis senschaften gehen von den Handlungen der Menschen und von deren Objektivationen aus: Heilige Schriften, Kunst,

Gesetze, Bauwerke, materielle Kultur, Werkzeuge. Wenn ich nun aber mit der Frage y)warumKnach einer Erklarung menschlichen Handelns suche, so meine ich damit weniger

eine Ursache oder ein Ursachenbiindel, sondern es geht mir

um das?wozuaeiner Handlung - um deren Sinn und Bedeu tung, um Zweck, Absicht, Orientierung, Leitvorstellung und Motiv.

Bei der Erklarung eines Gletschervorstofies ware es absurd

zu fragen, welche Absicht oder welchen Zweck der Glet scher damit verbindet; hier kann ich nur kausal ableiten.

Ganz anders bei menschlichem Handeln: ?Warum maht

mein Nachbar den Rasen" -

?warum opfert er alle Freizeit, um ein Buch zu schreiben" - ?warum lasse ich mich kirch lich trauen" meint nicht Ursachen, sondern Absichten, Zwecke, Sinnzusammenhange. An die Stelle einer kausalen Erklarung tritt demzufolge Begriinden, Verstehen, Inter pretation, Deutung.

Hier beginnen aber schon die Schwierigkeiten: Gibt es

uberhaupt eine verlafiliche Basis fiir Verstehen und Interpre

tation? Die Menschen handeln anders als sie denken, und

was sie denken, sagen sie nicht. Auch andern sie ihre Mei

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nung bezuglich des eigenen Handelns, sobald sie erfahren, was andere dariiber denken und was andere tun. ?Uber manche Seiten der ganzen Verhaltnisse, unter denen wir leben, kommen wir personlich nur mit gewisser Miihe zu

einem Schlufi; aber wenn das einmal geschehen ist, machen wir oft ganz mechanisch weiter, als ob die Dinge von jeher

klar gelegen hatten. Und es gibt auch Falle, in denen man fast

bis zum Ende warten mufi, ehe man merkt, was eigentlich

los war. Und es gibt eigene Tatigkeit, bei der man sich erst ziemlich spat festzulegen braucht, was man eigentlich getan haben will" (E. Goffman 1980, S. 9f.).

Wenn schon der handelnde Mensch bezuglich seines eige nen Tuns so unsicher ist, wie soil da der betrachtende Wis

senschaftler Gewifiheit erlangen? Im Gegensatz zum Erkla ren der exakten Naturwissenschaften ist somit Verstehen,

Begriinden, Nachvollziehen menschlicher Handhmgen nur in Ausnahmefallen klar und eindeutig als ?zutreffend"

nachzuweisen. Die Phanomenologie bemiiht sich darum, menschliches Handeln durch Beschreibung und Interpreta

tion des Einzelfalls aus der alltaglichen lebensweltlichen

Erfahrung heraus einsichtig zu machen. Die Evidenz ?Ja, so ist es" eines solchen Verstehens ist aber alles andere als zwin gend; in einer gegebenen Situation kann sehr unterschied

liches, ja gegensatzliches Handeln gleich einleuchtend und

situationsgerecht erscheinen.

Damit tut sich die grofie Gefahr auf, in der Beliebigkeit

hermeneutischen Verstehens immer weiter von dem Ziel jeder Wissenschaft abzukommen: Ergebnisse vorzulegen,

die iiberpriift werden konnen, und die einen gewissen An

spruch auf allgemeine Anerkenntnis haben. Demzufolge

wird es zu einer ganz grundlegenden Aufgabe kunftiger

Sozialwissenschaft, Verfahren des Begriindens und Interpre tierens menschlicher Handlungen zu entwickeln, die der

Forderung nach Nachpriifbarkeit und intersubjektiver Gul tigkeit geniigen.

Eine fiir die Geographie sehr erfolgversprechende For

schungskonzeption besteht darin, menschliche Handlun

gen damit zu begriinden und zu erklaren, daft man in riick blickender Analyse die jeweilige Handlungssituation rational

rekonstruiert. Anders als der Handelnde selbst steht der um Interpretation bemiihte Wissenschaftler ja nicht unter dem

Druck einer sofortigen Erfassung von handlungsleitenden

Sinnzusammenhangen alltaglicher Interaktion. Oswald

Schwemmer (1976) hat fiir die Kulturwissenschaften ein

Konzept entwickelt, das sich fast ohne Anderung auch auf unsere geographischen Fragestellungen iibertragen laftt:

Handeln kann durch objektive Ziele und Zwecke, durch

Intentionen, Maximen und Normen gedeutet und erklart werden. Dabei kann man von der Voraussetzung ausgehen,

dafi menschliches Handeln rational und verniinftig ist.

Handlungsstrategien und Verhaltensregeln sind dieser Art

sowohl Handlungsanleitungen als auch Interpretationssche

mata. So lassen sich aus der Handlungssituation und der Personlichkeitsstruktur des Handelnden die Griinde des

Handelns sinnrational rekonstruieren.

?Unsere Handlungen haben wie unsere sprachlichen Aufterungen eine Bedeutung. Sie ... verweisen auf einen

Zusammenhang, von dem sie selbst ein Teil sind. In diesem

ihrem Verweis auf einen Kontext ... liegt ihre Bedeu tung. ... Eine Handlungsbeschreibung, die die Bedeutung

des Handelns nicht iibergehen will, ist eine Beschreibung niemals lediglich einer isolierten Tatigkeit, sondern immer eine Gesamtbeschreibung der Handlung und ihres Kon

textes" (O. Schwemmer 1983, S. 4). Wenn man nach den

Rahmenbedingungen, nach den Moglichkeiten und den Zwangen zur Zeit der Handlung fragt, nach den Handlungs

strategien, nach den handlungsleitenden Wertsystemen und

dem kulturellen Kontext, in dem die Handlung stand, sowie nach der sozio-kulturell spezifischen Einubung von Hand

lungsablaufen, dann kommt man damit auch von der sub

jektiven Beliebigkeit und individuellen Zufalligkeit mensch lichen Handelns weg:

?Man kann so feststellen, dafi wir mit unserem Handeln

allgemeine Zusammenhange ... erfiillen, die diesem unse rem Handeln erst seine Identitat sichern. In diesem Sinne handelt es sich auch bei solchen allgemeinen Zusammenhan gen - bei der Bedeutungsstruktur - unseres Handelns nicht um empirisch ... herauszufindende Gesetz- oder Regel maftigkeiten im Sinne der empirischen ... Naturwissen

schaften oder auch der empirischen Sozialforschung, son dern um Verhaltnisse von der Bedeutung unseres Handelns,

die wir zwar auch erst an der jeweiligen ,Handlungskultur*

einer Gruppe oder Gesellschaft ablesen mussen, die wir aber

gleichwohl - wenn wir diese ,Handlungskultur* erst einmal

zur Kenntnis genommen haben - alleine aus dieser unserer Kenntnis erklaren konnen" (O. Schwemmer 1983, S. 11).

Durch Einordnung in kulturelle, historische, soziale, wirt

schaftliche Sinnzusammenhdnge riicken wir also von dem -

als Alltagshandeln oft uninteressanten - Einzelfall wieder ab

in Richtung auf Allgemeineres. Jedes soziale Handeln mufi,

will es vom Interaktionspartner verstanden werden, auf gemeinsame Muster der Handlungsinterpretation zuriick greifen: ?Ground rules inform the interaction order and allow for a traffic of use_as an order of activity, the inter action one, more than any other perhaps, is in fact orderly, and... this orderliness is predicated on a large base of shared cognitive presuppositions, if not normative ones, and self sustained restraints. ... The working of the interaction order can easily be viewed as the consequences of systems of

enabling conventions, in the sense of the ground rules for a

game" (E. Goffman 1983, S. 6,5).

Dieses Allgemeinere, Ubergeordnete, ist jedoch kein Ge setz und keine Theorie mit universeller Giiltigkeit, sondern

es ist etwas historisch-kulturell Einmaliges. Als solches

wirkt es auch ohne direkten personlichen Kontakt von

Interaktionspartnern handlungsleitend: Das Phanomen der Sozialbrache z. B. lafit sich nur erklaren und verstehen,

wenn wir uns die soziale und wirtschaftliche Situation der deutschen Nebenerwerbslandwirte in den Jahren des Wirt

schaftsaufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg vergegen

wartigen. Diese Situation war als leitender Handlungsrah

men damals fur den Nebenerwerbslandwirt im Frankfurter Raum ebenso gegeben wie fiir den im Saarland oder in

Baden-Wiirttemberg. Daraus resultierte dann ein gleich

gerichtetes Handeln in weiten Teilen der Bundesrepublik

mit dem Ergebnis der Sozialbrache.

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78_Erdkunde_Band 38/1984

Am Beispiel Japans vor dessen Industrialisierung hat

Peter Scholler in genau derselben Art und Weise begriin det und argumentiert. Seine Frage lautete: Wie kommt es,

dafi sich industrielle Wirtschafts- und Lebensformen in Japan fast noch schneller durchgesetzt haben als im abend

landisch-christlichen Kulturraum Europas und Nordameri

kas? Als Antwort auf diese Frage zeichnete er ein klares, sehr eindrucksvolles Bild der kulturellen, sozialen und wirt schaftlichen Situation Japans in der zweiten Halfte des ver gangenen Jahrhunderts, die als Rahmenbedingung fur das Handeln der Japaner gegeben war und aus der dann entspre

chende Handlungsstrategien erwachsen sind.

Ein solches rationales Rekonstruieren menschlichen Han

delns aus der jeweiligen Handlungssituation heraus hat ubrigens auch eine wichtige orientierungs- und bildungs

bezogene Funktion: Oft geht es ja nicht nur darum, mensch liches Handeln zu erklaren oder zu verstehen, sondern darum, es zu bewerten, zu beurteilen, vielleicht auch zu ver urteilen. Wir werden z. B. den Entscheidungen deutscher

Politiker oder Wissenschaftler 1914 oder 1933 oder 1938

oder 1945 nur dann gerecht, wenn wir uns vergegenwarti

gen, was sie damals gewufit haben und was sie noch nicht

wissen konnten, unter welchen Handlungszwangen sie stan den und was sie als das geringste Ubel ansahen.

Vieles, was uns in den Landern der Dritten Welt beim

fliichtigen Hinblicken unverstandlich, unverniinftig, sinn

los erscheint, wird beim Eindordnen in den zeit- und raum

gebundenen Rahmen der jeweiligen Handlungssituation,

beim Abschatzen der tatsachlich vorhandenen Handlungs spielraume und unter Beriicksichtigung der Handlungs zwange uberaus rational und vernunftig. Am Beispiel der marokkanischen Bewasserungslandwirtschaft konnte das Herbert Popp in seiner soeben erschienenen Habilitations

schrift (1983) uberzeugend darlegen. Ganz in diesem Sinne

hat auch Peter Scholler pladiert: Wir miissen ?V6lker, Kulturen und Gesellschaften in ihrer spezifischen Lebens

wirklichkeit begreifen und sie aus den Bedingungen ihrer

eigenen raumbezogenen Entwicklung verstehen und achten lernen_Dabei ist von den Einstellungen, den Bedurfnis

sen und Interessen der jeweiligen Bevolkerung und ihrer

Entscheidungstrager auszugehen. Denn entscheidend fiir das, was geschieht, ist nicht unsere Beurteilung der Situa

tion, sondern die Wert- und Prioritatsskala, die eine Gesell schaft selbst fiir die eigenen Lebensverhaltnisse anerkennt"

(1978, S. 296).

Wenn man solcherart zur Erklarung geographischer

Sachverhalte menschliches Handeln rational rekonstruiert,

dann wird man meist auf Handlungssituationen und Hand

lungsstrategien stofien, die in mittleren raumlichen Dimen

sionen - etwa im Bereich zwischen Kulturerdteil und Grofi stadt - ungefahr gleich strukturiert und gleich gerichtet sind.

Dies scheint der Geographie (ebenso wie der Soziologie)

eine gewisse Zwischenposition zwischen den exakten Natur wissenschaften einerseits und den Geschichts- und Lite

raturwissenschaften andererseits zuzuweisen. Erstere arbei

ten mit Gesetzen und Theorien, die nicht nur fiir unsere Erde, sondern fiir die ganze Welt Giiltigkeit beanspruchen.

Letztere befassen sich - z. B. bei der historischen Analyse

Casars oder der russischen Oktoberrevolution, bei der Interpretation eines Gedichts von Holderlin oder eines Bil des von Paul Klee - mit aus irgendwelchen Griinden heraus

gehobenen absoluten Einmaligkeiten. Dazwischen steht die regionale Giiltigkeit geographischer Erklarung und Begriin dung mit Hilfe von Handlungssituationen und Handlungs

strategien. Peter Scholler hat sie uns in der eben genannten Spannweite raumlicher Dimension - von der geteilten Stadt

Berlin iiber den Raum Westfalen bis zur industriellen Welt macht Japan - in mustergiiltiger Weise vorgefiihrt. Damit ist

sein wissenschaftliches Werk heute noch genauso aktuell, wie es vor 10 oder 20 Jahren und in seinen Anfangen vor

30 Jahren war.

Konnen wir also Geographie weiterhin so betreiben wie

vor 20 oder 30 Jahren? Nein, naturlich nicht; es ware ein

schlimmes Mifiverstandnis, wiirde man meine Ausfiihrun

gen als konservatives Pladoyer fiir das Gestrige und Vor

gestrige interpretieren. Wenn der vomKritischenRationalis

mus vorgezeichnete Weg fiir die Geographie nur bei einigen Fragestellungen (z.B. Spatial Analysis, Raumplanung) gang

bar erscheint, dann miissen eben andere Wege erkundet

werden. Die grofie Revolution, aus der die moderne Sozial

wissenschaft erwachsen ist, wurde ja nicht durch C. G. Hem pel, P. Oppenheim oder K. Popper ausgelost, sondern durch Max Weber. Vor Max Weber bezog sich wissenschaftliches Verstehen, Interpretieren, Einordnen in Sinnzusammen

hange iiberwiegend auf Texte (Theologie, Philologie, Litera

turwissenschaft, historische Quellen). Max Weber begriin dete demgegenuber das Handlungsverstehen; dieses erfordert ganz andere Vorgehensweisen und es folgt anderen Regeln.

Sie klar zu formulieren und fiir die Wissenschaft fruchtbar

zu machen, wird noch manche Miihe kosten.

Literatur

Goffman, E.: Das Individuum im offentlichen Austausch. Mikro studien zur offentlichen Ordnung. Frankfurt 1974. (Suhrkamp Theorie).

- : Rahmen-Analyse. Ein Versuch iiber die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt 1980. (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 329).

- : The interaction order (American Sociological Association, 1982 Presidential Address). American Sociological Review 48, 1983,

S. 1-17.

Matthes, J.: Soziologie: Schlusselwissenschaft des 20. Jahrhun derts? In: Lebenswelt und soziale Probleme. Verhandlungen des 20. Deutschen Soziologentages. Frankfurt 1981, S. 15-27.

- : Die Soziologen und ihre Zukunft. In: Krise der Arbeitsgesell schaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages.

Frankfurt 1983, S. 19-24.

Popp, H.: Moderne Bewasserungslandwirtschaft in Marokko. Staat liche und individuelle Entscheidungen in sozialgeographischer Sicht. Erlangen 1983. (Erlanger Geographische Arbeiten Sonder band 15).

(7)

Scholler, P.: Erderschlieflung und Weltverstandnis. Ein Jahr hundert geographischer Forschung. In: Jahrbuch der Geogra phischen Gesellschafc von Bern, Bd. 51, 1973/74, S. 11-22.

- : Aufgaben heutiger Landerkunde. Geographische Rundschau 30, 1978, S. 296-297.

Schwemmer, O.: Theorie der rationalen Erklarung. Zu den metho dischen Grundlagen der Kulturwissenschaften. Miinchen 1976.

- : Verstehen als Methode. Voriiberlegungen zu einer Theorie der Handlungsdeutung. In: Steinmann, H. (Hrsg.): Betriebswirt

schaftslehre als normative Handlungswissenschaft. Wiesbaden

1978, S. 33-56. (Schriftenreihe der Zschr. fiir Betriebswirtschaft Band 9).

- : Das Allgemeine der Kultur. Uberlegungen zum Sinn der Rede von Gesetzen und Regeln in den Kulturwissenschaften. Vor tragsmanuskript September 1983.

Wirth, E.: Kritische Anmerkungen zu den wahrnehmungszentrier ten Forschungsansatzen in der Geographie. Umweltpsycholo gisch fundierter 'Behavioural Approach' oder Sozialgeographie auf der Basis moderner Handlungstheorien? G. Z. 69, 1981, S. 161-198.

ZEITUNGSREGIONEN IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND

Zur raumlichen Organisation der Tagespresse und ihren Zusammenhangen mit dem Siedlungssystem

Mit 8 Abbildungen (z. T. als Beilagen IH-IV) und 1 Tabelle Hans Heinrich Blotevogel

Summary: Newspaper regions in the Federal Republic of Ger many. The spatial organization of the daily press and its inter

dependence with the settlement system

Although recent human and regional geographical research has hardly dealt with the spatial organization of daily newspapers, this topic seems to be of growing interest to geographers. Because functional regions of central places are as well communication regions as regional advertisement markets, they determine the system of publication places and circulation areas of daily news papers. On the other hand the mass medium newspaper stabilizes

the existing central place orientations and ties in with living spaces through spatially selective information flows. The existence of regional newspaper markets and their dependence on the settlement system is empirically examined according to the three most impor tant types of newspapers: (i) Mass newspapers ("penny press",

"boulevardnewspapers"), (ii) subscription newspapers with national circulation, (iii) subscription newspapers with regional or local circulation.

The spatial organization of the sub-market of mass newspapers is characterized by a close dependence upon the system of the highest ranking places. Even the "Bild-Zeitung", the sole German boule vard newspaper (roughly "tabloid") with national circulation and by far the largest German newspaper (circulation 6.4 mill.), was adjusted to the spatial market segmentation through a complex system of regional and local editions.

Also the few subscription newspapers with national circulation are exclusively published in the highest ranking centres. Never theless they distribute large parts of their circulation in the respec tive regions. As the result of the lack of a national metropolis the places of publication are distributed among the regional metro politan cities of Frankfurt, Hamburg, and Munich. On the other hand, the preconditions for a newspaper with a national circulation are lacking in the large industrial agglomeration of Northrhine Westphalia due to its polycentric structure.

The locations and circulation areas of regional subscription news papers show particularly close connections with the system of

central places and their market areas. The most newspapers are published in higher ranking central places, their political covers are produced by complete editorial boards and they are distributed over

the entire hinterland of the place of publication. Local editions of these newspapers are published in several lower ranking centres of the respective hinterlands. Such a hierarchical organization yields an optimal adaption to the spatial market conditions.

In reality interfering influences nevertheless cause manifold departures from this model, as the empirical results for the whole Federal Republic and for the regional example of eastern Westphalia

show. In this region, for example, both the leading subscription newspapers are published in the sole higher ranking regional centre

(Bielefeld) and are circulated through several local editions over the whole region, so that a general verification of the model can be remarked, but there are moreover two independent local news papers with their own editorial boards in smaller towns (Minden and Oelde).

Finally, some further open questions are pointed out and a plea is made for an intensified examination of the daily press from a human

and regional geographical point of view.

1. Die Zeitung als Gegenstand sozialgeographisch landeskundlicher Forschung

Die raumliche Organisation der Tagespresse, d. h. ins

besondere die raumliche Gliederung ihrer Verbreitungs gebiete, ist bisher erst relativ selten ein Gegenstand sozial

geographisch-landeskundlicher Forschung gewesen. Vor

allem Wolfgang Hartke und Peter Scholler haben die

Zeitung als einen Indikator fiir sozialraumliche Bindungen

und Verflechtungen interpret iert. Im Rahmen eines solchen

sozialgeographischen Indikatoren-Ansatzes gilt weniger die

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