MEDIZIN
Parallele Entwicklungen
Das Plädoyer des Autors zur Einbeziehung der Angehörigen in die Behandlung psychotischer Pati- enten ist sehr zu begrüßen. Der dar- in erwähnte „Expressed-Emotions- Index" war auf akademischer Ebe- ne eine wichtige Entwicklung. Er hat die stattfindende Angehörigen- arbeit sowie die Entstehung von Selbsthilfegruppen Angehöriger mit zusätzlichen fachlichen Inhalten bestärken können. Es ist jedoch ei- ne fachliche Fehlinterpretation, von der besagten „EE-Forschung" die jetzt selbstverständliche Familien-
arbeit bei psychotischen Patienten sowie die Selbstorganisation der Angehörigen ableiten zu wollen.
Seit den siebziger Jahren hat sozialpsychiatrisches Denken und Handeln immer stärker die psychia- trische Tätigkeit verändert und be- einflußt. Dazu gehörte es, die bela- stete Lebenssituation psychisch Kranker und ihrer Angehörigen kennenlernen, verändern und da- durch auf den gesamten Erkran- kungsprozeß positiv einzuwirken.
Diese Entwicklung wurde von der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie getragen und gefördert.
Der „Bundesverband der An- gehörigen psychisch Kranker" ent- stand 1984 in Berlin anläßlich der Jahresversammlung der DGSP. Mit dem „EE-Konzept" hatte all dies nichts zu tun. Anfang der achtziger Jahre wurden wichtige Bücher aus den Reihen der DGSP zur An- gehörigenarbeit veröffentlicht; 1984 von K. Dörner, A. Egetmeyer und K. Koenning: „Freispruch der Fa- milie"; 1986 von W. Bertram: „An- gehörigenarbeit". Später entwickel- te L. Ciompi sein sozialpsychiatri- sches und systemisches Behand- lungskonzept, in das die Angehöri- gen intensiv miteinbezogen sind.
Darin sind auch Elemente des „EE- Konzeptes" enthalten. Nur: Entste- hung und Substanz der Angehöri-
DISKUSSION
Zu dem Beitrag von Priv.-Doz. Dr. med.
Heinrich Schulze Mönking Heft 42/1993
genarbeit stammt von der Sozial- psychiatrie.
Dr. med. H.J. Groebner Bayerische Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Josephspitalstraße 7 80331 München
Schlußwort
In einem wissenschaftlich fun- dierten Beitrag können naturgemäß außerwissenschaftliche Aktivitäten, so begrüßenswert sie sein mögen, nicht in vollem Umfang erwähnt werden. Tatsächlich hat es diese Aktivitäten gegeben, und die Grün- dung von Angehörigengruppen ist nicht allein mit dem EE-Konzept in Zusammenhang zu bringen, son- dern auch von anderer Seite unter- stützt worden: in erster Linie von den Angehörigen selbst und von en- gagierten Psychiatern.
Angehörigen-Selbsthilfegrup- pen wurden vereinzelt in den sech- ziger und siebziger Jahren gegrün- det, meist von Angehörigen, später sind von der DGSP Aktivitäten zur Unterstützung der Angehörigenar- beit ausgegangen. Diese entwickel- te sich jedoch zögernder als im Aus- land, worauf Finzen 1981 in der
„Psychiatrischen Praxis" in dem Beitrag: „In der Bundesrepublik Deutschland fehlen Selbsthilfe- und Angehörigenverbände von Psycho- sekranken" hinwies.
Eine Gründungswelle von An- gehörigengruppen entstand in den achtziger Jahren. Vorausgegangen waren Veröffentlichungen, in denen die Wirksamkeit therapeutischer Arbeit mit Angehörigen belegt war.
Um nur einige Beiträge zu nennen,
sei auf Studien von Schindler (1966), Goldstein et al. (1978), Fal- loon et al. (1981) sowie Buchkre- mer & Fiedler (1982) verwiesen.
1983 wurde das EE-Konzept durch Olbrich im „Nervenarzt" (54, 113 bis 124) einer breiten psychiatri- schen Öffentlichkeit dargelegt. Die- se Studien haben wesentlich zur Verbreitung der Angehörigengrup- pen beigetragen.
Auch in der DGSP waren diese Ergebnisse bekannt In Büchern von Dörner et al. (1984) und Bertram (1986), auf die Herr Dr. Groebner hinwies, wurde das EE-Konzept ausführlich dargestellt. Die Feststel- lung, daß Angehörigenarbeit „mit dem EE-Konzept . . . nichts zu tun"
(hatte), erscheint somit selbst aus Schriften bekannter DGSP-Psych- iater nicht nachvollziehbar.
Die Schlußfolgerungen von Herrn Dr. Groebner, daß es sich um eine fachliche Fehlinterpretation handele, die Angehörigenarbeit von der EE-Forschung ableiten zu wollen (was der Autor in dieser Ausschließlichkeit nicht behauptet hat), und daß Entstehung und Sub- stanz der Angehörigenarbeit von der Sozialpsychiatrie stammen, sind nicht nachzuvollziehen.
Die empirische Erforschung und fachliche Begründung folgte unterschiedlichen Theorien, wobei das EE-Konzept einen wesentli- chen Anteil hatte. Es hat die An- gehörigenarbeit auf eine solidere wissenschaftliche Basis gestellt und damit sehr zu deren Akzeptanz bei- getragen. Auf dieser Basis wurde Angehörigenarbeit Teil des Curri- culums der neuen Weiterbildungs- ordnung für Psychiatrie/Psychothe- rapie. Die DGSP hat sicherlich in ihrem Engagement für die An- gehörigen Verdienste erworben, die weite Verbreitung der Angehöri- gengruppen wäre jedoch nicht denkbar gewesen, ohne die Erfor- schung ihrer wissenschaftlichen Grundlagen.
Literatur beim Verfasser
Priv.-Doz. Dr. med.
Heinrich Schulze Mönking Ärztlicher Direktor des St. Rochus-Hospitals Postfach 120 48283 Telgte
Der Schizophrene und seine Familie
A-2426 (0) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 37, 16. September 1994