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Archiv "Entwicklungen in der medizinischen Forschung und Wissenschaft" (10.06.1983)

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Heft 23 vom 10. Juni 1983

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Niemand wird bezweifeln, daß die kurative Medizin unendlich viel an Krankheit, Leiden und Todesdrohung beseitigt hat; am wenigsten wir noch lebenden Zeugen einer Zeit, in der es au- ßer Digitalis, Insulin und Laxan- tien kaum Medikamente mit ge- sicherter Wirkung gab und als die lobäre Pneumonie oft das Todesurteil und die Coxarthrose einen schmerzhaften Lebens- abend an Krücken bedeuteten.

Der als logische Entwicklung zum Besseren vorgestellte Fortschritt hat aber auch Kritik und schwer- wiegende Probleme mit sich gebracht, die Eingang in das öffentliche Bewußtsein fanden und für viele Vertreter der Heil- kundezur Gewissenslastwurden.

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Aufsätze ·Notizen

Entwicklungen in der medizinischen Forschung und Wissenschaft

Hanns Peter Wolff

Forschung und Wissenschaft lie- fern Konzepte und Methoden, auf die sich der Fortschritt und die Ausübung der Medizin in Klinik und Praxis gründen. Umgekehrt sind die Erfahrungen von Klinik und ärztlicher Praxis Schrittma- cher und Kontrollinstrumente der medizinischen Forschung. An die- sen vielfältigen und engen Wech- selbeziehungen wird sich meine

"Tour d'horizon" des medi'zini- schen Fortschrittes im laufenden Jahrzehnt orientieren; das heißt, sie wird sich nicht auf eine Aufzäh-

. lung konzeptioneller, methodi-

scher, apparativer und medika- mentöser Innovationen beschrän- ken, sondern auch mit deren Aus- wirkungen auf die Ausrichtung und Ausübung der Medizin be- fassen.

Denn die praktischen Konsequen- zen seiner Arbeit zu bedenken ge- hört auch zu den Aufgaben des Wissenschaftlers, die sich aus sei- ner besonderen Verantwortung gegenüber der Gesellschaft er- geben.

Ich möchte eine Auswahl aktueller Entwicklungen und Fragen in vier Themenkreisen beispielhaft zu- sammenfassen:

1) die Lehren der Demographie und Epidemiologie,

2) die Perfektionierung der kurati- ven Medizin,

3) die Entwicklung der psychoso- matischen und psychosozialen Medizin,

4) das Experiment der präventi- ven Medizin.

Demographie und Epidemiologie

Hinter dieser akademisch-trocke- nen Etikettierung verbergen sich brisante Kräfte, die fast zwangs- läufig -da zum Teil nicht, zum Teil nur langsam beeinflußbar - die Ausübung der Medizin und die Ko- sten der Gesundheitsfürsorge be- einflussen.

~ Die Demographen prophezeien uns den weiteren Rückgang der altersspezifischen Sterberaten, einschließlich- allerdings in varia- blem Ausmaße- der hohen Alters- gruppen. Die Lebenserwartung scheint sich nach ihrer Prognose dem Optimum zu nähern, die Spielräume zur Beeinflussung der Sterblichkeit werden immer klei- ner. - Was bedeuten diese nüch- ternen Voraussagen?

Der zunehmenden Alterung der Bevölkerung entspricht natürlich auch ein Wachsen der altersab- hängigen Krankheitslast Im sta- tionären Bereich ist eher mit einer Vermehrung der Zugänge und Lie- getage infolge Zunahme der Al- terskrankheiten und der verbes- serten Möglichkeiten ihrer Be- handlung zu rechnen. Ein gleich- gerichteter Trend ist im ambulan- ten Bereich zu erwarten.

~ Die Epidemio/ogen haben uns auf medizinisch und ökonomisch relevante Veränderungen im Krankheitsspektrum aufmerksam gemacht, die sich in die Zukunft fortsetzen dürften. So steigen die Sterberaten der chronischen Bronchitis, des Bronchialkarzi- noms und der Leberzirrhose an.

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Die der koronaren Herzkrankheit stagnieren erst seit kurzer Zeit nach jahrelangem dramatischen Anstieg. Hier fällt sogleich auf: Je- de dieser zunehmend häufigen Krankheiten wird überwiegend durch selbstschädigendes Verhal- ten - Rauchen, Alkoholismus - hervorgerufen oder mitverursacht Auf die Zukunftsaufgaben, die sich hieraus für die Präventivmedi- zin ergeben, wird später zurückzu- kommen sein.

Die Sterberaten anderer Krankhei- ten sinken; nicht weil sie seltener werden, sondern weil sich die Be- handlungserfolge und damit die Überlebenszeiten erheblich ver- besserten. Hierzu gehören beson- ders:

- Hypertonie,

Herzkrankheiten verschiedener Ursachen,

- verschiedene Organkrebse, - viele chronisch-rezidivierende

Infekte,

- Gefäßerkrankungen, - Diabetes,

- chronische Nierenkrankheiten, - Magen-Darm-Ulzera,

- kindliche Mißbildungen, Leuko- sen und Tumoren.

Das hat bereits jetzt und zukünftig erhebliche Konsequenzen. Denn die meisten chronischen Krank- heiten erfordern eine ständige - zum Teil lebenslange - Behand- lung mit kostspieligen Medika- menten oder mit aufwendigen Ge- räten wie Herzschrittmacher oder der künstlichen Niere.

Fazit: Die Erkenntnisse der Demo- graphie und Epidemiologie lassen erwarten, daß auch in Zukunft - dank verbesserter Lebensbedin- gungen, Frühdiagnostik und the- rapeutischer Fortschritte - die Überlebenszeit chronisch Kranker

und die altersabhängige Krank- heitslast zunehmen werden- und damit auch die Kosten. Die Finan- zierbarkeit der Krankenversiche- rung wird bis zur Jahrhundertwen- de, mehr als durch jede andere Ursache, durch die Folgen demo- graphischer und epidemiologi- scher Veränderungen gefährdet.

Dies wird den Zwang verstärken, Wege zur Kosteneinsparung zu suchen und zu erobern, zum Bei- spiel:

..".. Entlastung des stationären Be- reiches durch Förderung von Ta- gespflegezentren, durch vermehr- te Gewährung von Hauspflege und Hinausschieben der Pflegebedürf- tigkeit durch intensivierte ambu- lante ärztliche Versorgung.

Für den niedergelassenen Arzt wird dies eine Ausweitung des geriatrischen Aufgabenbereiches mit seinen spezifischen Proble- men der medizinischen und psy- chischen Betreuung alter Men- schen bedeuten.

Die PerfektionierunQ der kurativen Medizin

Das kurative Prinzip - diagnosti- sche Klärung der Krankheitsursa- che und deren Eliminierung durch gezielte Therapie- steht nach wie vor im Mittelpunkt ärztlichen Han- deins in Klinik und Praxis. Daran dürfte sich - trotz aller Kritik- in den nächsten Jahren nur wenig ändern. Der inhärenten Logik des Fortschrittes folgend, widmen sich daher medizinische For- schung und Technologie beson- ders der PerfektionierunQ der ku- rativen Medizin. Die Ergebnisse sind so vielfältig wie ihre Folgen nützlich oder problematisch. Mit dem stürmischen Eindringen des technischen Fortschrittes in die kurative Medizin haben sich auch ihre Möglichkeiten, Mittel und Me- thoden gewandelt, was wir ja alle miterlebt haben. Auch für den Rest der 80er Jahre läßt sich ein weiteres Vordringen der Technik und Therapie voraussagen.

Der Patient

wird geringer belastet

Auf diagnostischem Gebiet zielt die zu erwartende Vergrößerung.

und Verfeinerung des Methoden- arsenals besonders auf eine Er- weiterung des Spektrums bildlich erfaßbarer und analytisch meßba- rer Veränderungen sowie auf eine Erhöhung der diagnostischen Treffsicherheit (Spezifität), Emp- findlichkeit (Sensitivität) und Ge- nauigkeit bei gleichzeitiger Verrin- gerung der Risiken und Belastun- gen für den Patienten. Beispielhaft für die Verwirklichung dieser Ziel- vorstellungen ist die jüngste Ent- wicklung bildgebender Verfahren, die neuartige Einblicke in den Kör- per gestatten, ohne seine Integri- tät zu verletzen.

Die Sonographie als ein einfaches, von ionisierenden Strahlen unab- hängiges Diagnostikverfahren mit vielseitiger Aussagefähigkeit hat eine schnelle Verbreitung in Klinik und Praxis gefunden. Diese Ent- wicklung wird sicher anhalten.

Auch die RevolutionierunQ der bildgebenden Verfahren durch die Computertechnologie scheint erst

an ihrem Anfang zu stehen. An die

Röntge ncomputertomog raph ie (CT), mit ihren bestechend schar- fen Körperschnitten, haben wir uns schnell und gerne gewöhnt.

Man muß nicht hellsichtig sein, um der zur Zeit klinisch erprobten Kernspincomputertomographie (NMR) - die sich statt Strahlen elektromagnetischer Resonanzef- fekte zur Bildgebung bedient- ei- ne ähnlich schnelle Entwicklung vorauszusagen. Neben der bildli- ehen Darstellung der Morphologie ermöglicht sie auch Einblicke in Stoffwechselvorgänge in vivo; die Grenzen ihrer diagnostischen Ein- satzmöglichkeiten sind heute kaum abschätzbar.

Inzwischen planen die Physiker in den Entwicklungslabors neue An- wendungsformen der Computer- tomographie durch Einbeziehung neuer lnformationsträger. So wer- den schon jetzt - ob wir darüber 48 Heft 23 vom 10. Juni 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ARZTEBLATT Ausgabe A

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glücklich sind oder nicht - eine Ultraschall-, eine Protonen- und Mikrowellen-Computertomogra- phie in ihren theoretischen Ansät- zen diskutiert oder experimentell erprobt.

Daneben scheinen die Einführung der digitalen Subtraktions-Angio- graphie, die das Risiko für den Pa- tienten durch venöse Kontrastmit- telapplikation verringert, oder der Ersatz älterer, zum Teil obsoleter nuklearmedizinischer Untersu- chungsverfahren durch neue Me- thoden mit exklusiver Aussage- kraft - wie die Lymphknoten-, Myokard- oder Knochenmarks- szintigraphie sowie die nuklear- medizinische Analyse von Stoff- wechselabläufen - vergleichswei- se bescheiden.

ln der Laboratoriumsdiagnostik zeichnen sich entsprechende Ent- wicklungstendenzen ab: Einfüh- rung und zunehmende Anwen- dung neuer immunologischer, biochemischer und zytochemi- scher Nachweismethoden, unter ihnen besonders der Tumormar- ker, Einführung leistungsfähigerer Analyseautomaten, Ausbau der elektronischen Datenverarbeitung - diese Stichworte charakterisie- ren den Trend, der von den klini- schen Zentren breit zur Laborato- riumsmedizin in der Praxis durch- schlagen wird.

Ein neues Therapiekonzept Verlassen wir die Futurologie des diagnostischen Fortschrittes, ehe sie monoton zu werden droht.

Auch im therapeutischen Bereich wird der Vormarsch der Technik anhalten. Seine weitreichenden Folgen wurden bereits im vergan- genen Jahrzehnt durch die Fort- schritte in der Operations- und Kunststofftechnik, in der Biophy- sik und in der Assimilation körper- fremder Stoffe angekündigt. Sie stellten dem klassischen Therapie- konzept der Wiederherstellung ge- störter Funktionen durch Beseiti- gung von Krankheit ein neues Konzept zur Seite: den Ersatz irre-

parabler Organe und Funktionen durch Transplantate, Endo- oder Exoprothesen und andere artifi- zielle Therapiehilfen.

Damit wurde die kurative Medizin um eine neue Dimension, die pro- thetische, erweitert. Ihrem erfolg- reichen Einsatz, exemplifiziert durch die rekonstruktive Gelenk- und Gefäßchirurgie, die intermit- tierende Dauerdialyse, die Organ- transplantation oder die Schritt- machertherapie, verdanken viele Menschen eine dramatische Ver- besserung ihrer Lebensqualität, oft auch ihrer Lebenserwartung.

Hierzu ein Zahlenbeispiel: Seit Einführung der Dialysetherapie 1970 stiegen die Lebenserwartung terminal Nierenkranker von vier- einhalb Monaten auf 15 Jahre und die Zahl der Dialysepatienten von . 700 auf 14 000; die Gesamtkosten des Therapieprogramms aller- dings auch von 46 auf 954 Millio- nen DM im Jahr. Diese Entwick- lung wird sich -wenn auch ver- langsamt- fortsetzen, da die jähr- liche Zugangsrate neuer Dialyse- kandidaten vorerst noch die Ster- berate der Dialysepatienten über- trifft. Ähnliche Kalkulationen und Zukunftserwartungen gelten für die Herzschrittmachertherapie.

Als Prototypen der technischen Hochleistungsmedizin seien

schließlich noch zwei Neuentwick-

lungen vorgestellt, mit denen ich dieses Gebiet verlassen will: ..,.. Das Repertoire der Strahlenthe- rapie wird durch den schwer- punktmäßigen Einsatz von Linear- beschleunigern, Neutronenquel- len und das Zyklotron erweitert. Von den neuen Bestrahlungsma- schinen erhoffen sich die Radiolo- gen eine effektivere Behandlung bestimmter Tumoren, die auf Che- motherapie und konventionelle Bestrahlung ungenügend anspre- chen.

..,.. Auf dem Gebiete der Urologie wird die berührungsfreie Litho- trypsie mittels elektroyhdrauli- scher Stoßwellen die operative

Entfernung von Nierensteinen er- setzen.

Neue Wirkstoffe- oder neue Derivate?

Im Bereich der Pharmakatherapie lassen sich kaum so sichere Vor- aussagen machen; sie haben sich in der Vergangenheit zu oft als falsch erwiesen. Manche glauben, daß wir vor einer "zweiten phar- makologischen Revolution" ste- hen, die die neuen Erkenntnisse über Natur und Funktion körperei- gener Wirkstoffe wie der Prosta- glandine, der Endorphine, der "re- leasing"-Hormone, der Leukotrie- ne und die Fortschritte auf dem Gebiete der Immunologie und Gen-Technologie in neue Heilmit- tel umsetzen wird.

Andere erwarten wiederum, daß auch weiterhin, trotz steigender Investitionen, die Entwicklung neuer Wirkstoffe ab- und die Ein- führung von Derivaten bekannter Substanzen zunehmen wird- eine Tendenz, die uns bereits eine Flut von Thiazid-Diuretika, von Tran- quilizern, von Beta-Rezeptoren- Blockern und Antirheumatika be- schert hat.

Auf die komplexen wissenschaftli- chen, ökonomischen und gesund- heitspolitischen Ursachen dieses

"immer mehr für immer weniger"

kann hier nicht eingegangen wer-

den. Kein Zweifel besteht, daß sich

Pharmaforschung und -entwick-

lung, allein schon aus wirtschaftli-

chen Gründen, auf epidemiolo- gisch wichtige Krankheiten bezie- hungsweise breite Anwendungs- gebiete konzentrieren werden.

Dem Problem der Schaffung von wirksamen Medikamenten gegen seltene Krankheiten widmen we- der die Industrie noch der Staat die Aufmerksamkeit, die von sei- ten der Medizin gefordert wird. Fazit: Niemand wird bezweifeln, daß die kurative Medizin unend- lich viel an Krankheit, Leiden und Todesdrohung beseitigt hat; am wenigsten wir noch lebenden Zeu- Ausgabe A DEUTSCHES ARZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 23 vom 10. Juni 1983 53

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geneiner Zeit, in der es außer Digi- talis, Insulin und Laxantien kaum Medikamente mit gesicherter Wir- kung gab und als die lobäre Pneu- monie oft das Todesurteil und die Coxarthrose einen schmerzhaften Lebensabend an Krücken bedeu- teten.

Der als logische Entwicklung zum Besseren vorgestellte Fortschritt hat aber auch Kritik und schwer- wiegende Probleme mit sich ge- bracht, die Eingang in das öffentli- che Bewußtsein fanden und für viele Vertreter der Heilkunde zur Gewissenslast wurden:

~ Das erste Problem: Der medizi- nische Fortschritt hat einen stän- dig steigenden Preis. Der Gesund- heitsökonomie als Wissenschaft und Kontrollinstrument der Be- darfsentwicklung und -planung wird daher eine wachsende Be- deutung zukommen. Gesundheits- ökonomen und Ärzte diskutieren heute Modelle zur Rationalisie- rung ohne ärztlichen Leistungs- verlust, die beispielhaft für zukünf- tige Überlegungen sein können, darunter:

- eine nichtreglementierte, doch einvernehmliche und systemati- sche Bedarfsplanung für Großge- räte mit hohen Anschaffungs- und Betriebskosten, wie sie bereits das Krankenhausfinanzierungsgesetz und die RVO anstreben. Derart lie- ßen sich finanziell nicht verant- wortliche Überkapazitäten vermei- den, die durch Fehleinschätzun- gen, politische Einflüsse und Pre- stigedenken entstehen. Weiterhin - ein Abbau nicht ausgelasteter Anlagen, wie zum Beispiel der Herzkatheterdiagnostik, und ein E;rsatz teurer Verfahren durch preiswertere, wie zum Beispiel der Dauerdialysetherapie durch die Nierentransplantation, die pro Jahr und Patient weniger als die Hälfte kostet. Weiterhin

- die Entwicklung gestufter Dia- gnostik- und Therapieprogramme als Entscheidungshilfen für ein ra- tionelles Vorgehen, wie das in ex-

emplarischer Form bereits auf dem Hypertoniegebiet geschehen ist. Durch eine derartige Verfah- renslogik ließe sich schrittweise ein indikationsgemäßer- und da- mit kostensparender - Einsatz er- gänzender oder alternativer Me- thoden sichern und zugleich die ärztliche Leistung steigern, was wiederum dem Patienten zugute kommt. Ferner

-die Verbesserung der Patienten- compliance. Schon hat sich eine junge Complianceforschung eta- bliert. Sie untersucht die vielfälti- gen Einflüsse, von denen die Be- folgung ärztlicher Ratschläge - und damit deren praktischer Nut- zen - abhängt. Der Nebengewinn ist ein ökonomischer: denn infol- ge mangelhafter Compliance, de- ren Ursache beim Patienten wie beim Arzt liegen kann, landen jährlich Medikamente in Millio- nenwert auf dem Müll.

~ Ein zweites Problem: Die mit der explosiven Vermehrung des Wissens und technischen Kön- nens zunehmende Spezialisierung hat besonders zwei Gefahren mit sich gebracht. Eine ist die einer Zersplitterung der Medizin. Hier wird in Zukunft das gleiche gelten wie vor 50 Jahren: die notwendige Spezialisierung zu fördern und die Desintegration der Fächer zu ver- hüten. Die strukturelle und organi- satorische Bewältigung der Spe- zialisierung - mit dem Ziel einer zugleich effizienten und patien- tenorientierten interdisziplinären Zusammenarbeit- wird allerdings noch zukünftiger Anstrengungen bedürfen.

Die zweite Gefahr: die mit der Spe- zialisierung einhergehende Veren- gung des Gesichtsfeldes mit Ver- lust des medizinischen Gesamt- überblickes zum Schaden des Pa- tienten.

Hier könnte in Zukunft dem viel- seitig weitergebildeten Arzt für All- gemeinmedizin -als Hausarzt mo- derner Prägung- die Aufgabe des Vermittlers und Koordinators zu- fallen.

~ Ein drittes Problem: Der techni- schen Hochleistungsmedizin ist der Vorwurf der Inhumanität ge- macht worden, da sie die appara- tiv erfaßbaren organischen Befun- de in den Vordergrund stelle, die existentielle Situation des Men- schen und sein subjektives Erle- ben aber vernachlässige. Auf die sehr heterogenen Grundlagen die- ser Kritik, die oft das menschliche Engagement zahlreicher Ärzte übersieht, kann hier nicht einge- gangen werden. Sie weist uns je- doch unübersehbar auf die Ambi- valenz der modernen naturwissen- schaftlich-technischen Medizin und der Reaktionen hin, die sie bei Patienten hervorruft. Extrembei- spiel hierfür ist die lntensivmedi- zin, denn nirgends in der Medizin wird die Spannung zwischen tech- nischer Perfektion und Humanität so deutlich wie hier. Indem sie sich mit Einsatz aller Mittel be- müht, früher nicht beherrschbare Lebensgefahr zu beseitigen, ist ln- tensivmedizin per se human. Inhu- man wird sie erst dann, wenn sie in hoffnungslosen Endstadien des Lebens versucht, dieses durch un- reflektierte Bekämpfung des To- des sinnlos zu verlängern. Nir- gendwo wird auch die Ambivalenz im Erleben der Patienten so deut- lich: Der apparative Aufwand und die ritualisierte Perfektion der me- dizinischen Behandlung erwecken ebenso Hoffnung und Zuversicht wie Furcht und das Gefühl der menschlichen Isolation.

Im Grundsätzlichen ähnliche wiewohl im Szenario weniger dra- matische - Beispiele lassen sich auch in anderen Bereichen der All- tagsmedizin finden. Sie haben im- mer häufiger Ärzte und Wissen- schaftler veranlaßt, eine Medizin zu fordern, die den Menschen in allen seinen körperlichen, seeli- schen und gesellschaftlichen Be- zügen erfaßt und die in Lehre und Ausübung gleichrangig die Forde- rung nach Sachkompetenz und die Verpflichtung auf die humani- tären Aufgaben des Arztturns ver- tritt. Diese so selbstverständliche Forderung wäre banal, wenn sie nicht solche Aktualität besäße.

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~Ein viertes Problem: die Abwen- dung vieler Zeitgenossen von der

natu rwissenschaftl ich-tech n i- sehen Medizin. Die vielfältigen, in- dividuellen Beweggründe reichen von der enttäuschenden Eigener- fahrung bis zu unreflektierter Übernahme populistischer Medi- zinkritik. Hier will ich nur auf zwei Ursachen eingehen, die sich aus den Entwicklungen der medizini- schen Wissenschaft selbst- unse- rem Thema- herleiten.

- Die eine ist die zunehmende Kompliziertheit und damit Unver- ständlichkeit der modernen Medi- zin. Sie fördert die Zuwendung zu einfacheren Heilslehren, zum Bei- spiel dem Glauben an die Kräfte der Natur.

- Die andere ist der Rückzug der naturwissenschaftlichen Medizin aus der Grauzone zwischen Ge- sundheit und Krankheit, der Zone der funktionellen Störungen und Alltagsleiden. Diese Zone, thera- peutisches Reservat der kleinen Mittel und der suggestiven Arzt- persönlichkeit, wurde mehr und mehr alternativen Heilmethoden überlassen.

Diese Entwicklung verschärfte zwangsläufig die alten Kontrover- sen zwischen den Vertretern der naturwissenschaftlichen Medizin und den Anhängern homöopathi- scher, phytotherapeutischer oder anthroposophischer Therapierich- tungen. Heute nimmt die Einsicht zu, daß diese notwendige Ausein- andersetzung in Zukunft nicht po- lemisch, sondern in einem kri- tisch-konstruktiven Konsens ge- führt werden muß. Die Vorausset- zungen hierfür kann man folgen- dermaßen umreißen:

1) Die sogenannte Schulmedizin akzeptiert, daß die Untersuchung alternativer, besonders phytothe- rapeutischer Heilmittel auch für sie lohnend oder zumindest im In- teresse einer urteilsbildenden Er- fahrung sinnvoll sein kann.

2) Die Erfahrungsmedizin konze- diert, daß sie nicht a priori den

Bonus einer humaneren Behand- lung besitzt.

3) Die Strenge der Beweislast des therapeutischen Nutzens muß für beide Seiten gleich sein, das heißt:

Auf eine wissenschaftliche Forma- lisierung und Nachprüfbarkeit des Wirkungsnachweises kann nicht verzichtet werden.

Die Entwicklung der psychosomatischen und psychosozialen Medizin

Beide sind von den entlegenen Rängen der Medizin in deren Mitte gerückt. Unter dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit und dem kompakten Druck der "medizini- schen Majorität" hatten sich die Vertreter der Mutterdisziplin Psy- choanalyse in elitäre Zirkel zu- rückgezogen, in denen sie konkur- rierende Konzepte einer psycho- somatischen Medizin entwickelten und verfochten.

ln jüngster Zeit ist - gefördert durch die neue Approbationsord- nung, die Grundkenntnisse in Psy- chotherapie und psychosomati- scher Medizin verlangt, und durch die auf dem 81. Deutschen Ärzte- tag 1978 vorgenommene Neuord- nung der Weiterbildung in der Psychotherapie- ein Diskussions- und Rezeptionsprozeß in Gang ge- kommen, der Bildungsgänge und Aufgabenbereiche klarer definiert:

einerseits die Psychoanalyse als eine psychologisch-medizinische Spezialdisziplin mit einem beson- deren Ausbildungsgang und ei- nem in sich konsistenten Theo- riensystem, und andererseits eine integrativ-patientenzentrierte psy- chosomatische Medizin, die Or- gan-, Funktions- und Beziehungs- pathologie vereint und ihre Aufga- ben im Bereich der Alltagsmedizin sucht. Der komplementäre Aufga- benbereich der Psychotherapie wird durch die Zunahme von Ver- haltensstörungen, von Alkohol- und Suchtkrankheiten erweitert.

Was Klinik und Praxis in Zukunft benötigen, ist ein verstärktes An-

gebot einfacher Analyse- und The- rapieverfahren zur Behandlung leichter bis mittelschwerer psy- chosomatischer Störungen- etwa im Sinne eines abgestuften Sy- stems - aus dem der Allgemein- arzt oder Internist allgemeinver- wendbare Verfahren übernehmen kann, so wie er allgemeine diagno- stische und therapeutische Me- thoden aus anderen Spezialgebie- ten anwendet.

Die Diskussion psychosozialer Krankheitskonzepte und ihrer praktischen Konsequenzen wird uns auch in Zukunft intensiv be- schäftigen. Ihre Vertreter haben streBträchtige Umweltbedingun- gen und gesellschaftliche Repres- sionen in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zur Krankheitsent- stehung gestellt. Hartmann hat diesen Generalanspruch wie folgt charakterisiert: "Aus der Einsicht, daß es soziale Krankheit und so- ziale Gesundung gibt, wird verall- gemeinernd gefolgert, daß alles Krankwerden gesellschaftlicher Prozeß ist und alles Gesundwer- den ebenso." Anstelle des antiken Fatums tritt die Gesellschaft.

Niemand wird die Existenz sozia- ler Krankheitsursachen bezwei- feln; was zukünftiger Klärung be- darf, ist ihr Stellenwert. Denn die soziale Krankheitslehre tritt erst ein in das Stadium der Methoden- suche und Faktensammlung. Be- sondere Schwierigkeiten liegen hierbei in der Definition epidemio- logisch erfaßbarer Einzelkompo- nenten dessen, was man summa- risch als psychosozialen StreB be- zeichnet, sowie in der vielfachen Konditionierung der individuellen Reaktionen auf Umwelteinflüsse.

Das Experiment

der medizinischen Prävention Ihr Ausgangspunkt ist die Kritik am angeblichen Versagen der ku- rativen Medizin gegenüberden so- genannten Zivilisationskrankhei- ten. Ihr Ziel: deren wirksamere Be- kämpfung durch Prävention. Ihr Kredo: daß Krankheitsverhütung Ausgabe A DEUTSCHES ARZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 23 vom 10. Juni 1983 57

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medizinisch machbar und ökono- misch günstiger sei als die Be- handlung einmal eingetretener chronischer Leiden. Ihr zweifa- cher methodischer Ansatz:

1) Die Primärprävention: Ihr Ziel ist die Verhütung von Krankheit selbst, ihre Methode die Erken- nung und Eliminierung von Risi- kofaktoren, die Krankheit verursa- chen oder ihre Entstehung för- dern.

2) Die Sekundärprävention: Ihr Ziel ist die Verhütung bedrohli- cher Krankheitsfolgen, ihre Me- thode die Früherkennung mit an- schließender Frühtherapie.

Die meisten Ansätze der Präventiv- medizin befinden sich heute noch im Experimentierstadium. In der Primärprävention haben sich bis- her nur Maßnahmen vor und wäh- rend der Schwangerschaft, unter und nach der Geburt, sowie der Impfschutz als wirkungsvoll er- wiesen.

Die genetische Beratung und prä- natale Diagnostik dürfte mit dem steigenden Durchschnittsalter der Erstgebärenden, der relativen Zu- nahme genetisch bedingter Krank- heiten und der fortschreitenden Aufklärung der Bevölkerung an Bedeutung und Häufigkeit zuneh- men. Die Schwangerschaftsunter- brechung aus genetischer Indika- tion ist durch das Gesetz auf Um- stände beschränkt, die eine schwerwiegende Läsion des Kin- des erwarten lassen. Die zukünfti- gen Fortschritte der pränatalen Diagnostik werden allerdings auch die Früherkennung weniger schwerer Störungen möglich ma- chen und mit dem Problem der Grenzziehung auch juristische und ethische Fragen aufwerfen.

Eine wirksame Primärprävention der Krebs- und Kreislaufleiden ge- hört vorerst in den Bereich des Wunschdenkens. Bis heute exi- stieren keine wissenschaftlich ausgereiften und ökonomisch ver- tretbaren Initiativen — wenn man von den bisher wenig erfolgrei-

chen Kampagnen gegen Rauchen und Übergewicht absieht.

Mit Erfolgen dürfen am ehesten einige Maßnahmen der Sekundär- prävention rechnen. Der Nutzen der Früherkennung und Behand- lung des Diabetes und des Hoch- drucks ist hinlänglich gesichert, ein beträchtlicher Prozentsatz der Hypertoniker allerdings noch un- entdeckt. In der zukünftigen Aus- weitung des „incidental scree- ning", der Hochdruckfahndung durch Gelegenheitsmessung in der Sprechstunde, stellt sich be- sonders den niedergelassenen Ärzten eine wichtige Aufgabe.

Die Früherkennung des Krebses wird bei uns teils überschätzt, teils übertrieben kritisiert. Sie ist bei den gut erkennbaren und opera- blen Frühveränderungen an Zer- vix, Dickdarm, Mamma und Haut sicher erfolgreich. Durch Verrin- gerung der diagnostischen Fehler- raten und Motivierung der Patien- ten zur regelmäßigen Teilnahme ließe sich ärztlicherseits der ge- sundheitliche Nutzen in Zukunft steigern.

Fazit: Der häufig erhobene Vor- wurf einer ungenügenden präven- tiven Ausrichtung der Medizin ist nicht berechtigt. Jedoch wurden die gegenwärtigen und zukünfti- gen Möglichkeiten der Prävention häufig überschätzt. Denn man darf nicht übersehen,

1) daß das individuelle Krankheits- risiko nicht nur von eliminierbaren Risikofaktoren, sondern oft ebenso von genetischen Einflüs- sen abhängt, die wir vorerst als schicksalsmäßig ansehen müs- sen;

2) daß es schwierig ist, gesund- heitsschädigende Lebens- und Genußgewohnheiten anhaltend zu ändern. Ein limitierender Faktor hierbei ist — wie uns ja Erfahrun- gen mit Rauchern und Adipösen lehren — die kognitive Dissonanz:

Man weiß schon, was man für sei- ne Gesundheit tun sollte, aber man verdrängt es;

3) daß Kostenersparnis durch Prävention eine Illusion ist — je- denfalls in diesem Jahrhundert, denn Lebensveränderung durch Gesundheitserziehung und Krank- heitsfrüherkennung verlangen ih- ren ökonomischen Preis, oft durch medikamentöse Langzeitbehand- lung frühzeitig diagnostizierter Leiden, stets durch Vermehrung der altersabhängigen Krankheits- last;

4) daß Prävention als Forschungs- objekt und Wissenschaft neu ist und Präventionsforschung auf- wendig, langwierig und metho- disch anspruchsvoll.

Des ungeachtet bleibt die schritt- weise anzugehende Entwicklung und Erprobung präventivmedizini- scher Programme eine wichtige ärztliche Zukunftsaufgabe, nicht zuletzt aus humanitären Gründen.

Was hierbei not tut: eine realisti- sche Reduktion der Erwartungen und eine breite, langfristig ange- legte Forschungsarbeit.

Was darüber nicht vergessen wer- den sollte: das therapeutische Kredo des Arztes, wie es ein fran- zösischer Kliniker knapp formu- lierte: „Guörir quelquefois, soula- ger souvent, consoler toujours".

Frei übersetzt: „Heilen, wenn möglich, häufig lindern, immer den Kranken dienen."

(Referat beim 86. Deutschen Ärz- tetag in Kassel, 11. Mai 1983, zum Themenkreis „Der Arztberuf im gesellschaftlichen Wandel — Per- spektiven für die 80er Jahre".)

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med.

Hanns Peter Wolff Vorsitzender des

Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer Fürstenstraße 11

8000 München 2 58 Heft 23 vom 10. Juni 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A

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