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Archiv "Medizinische Informatik: Wissenschaft oder das große Unbehagen?" (22.11.1979)

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Datenverarbeitung ist moderne Technologie. Bringt nun das Eindringen einer zusätzlichen Technologie in die Medizin eine zusätzliche Technisierung, eine Anonymisierung des Patienten und eine Störung des mensch- lichen Verträuensverhältnisses zwischen Patient und Arzt? Ganz fraglos läßt sich eine solche Ge- fahr nicht leugnen. Wie bei allen modernen Technologien gilt es, mögliche Gefahren zu erkennen, ihnen zu begegnen und die Anwendung einer Technologie abzuwägen hinsichtlich ihrer Nachteile gegenüber ihren Vor- teilen für den Fortschritt und, in diesem Fall, für die Gesundheit des einzelnen.

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Professor Dr. med. Peter Reichertz, Hannover, zur „Medical Informatics Berlin '79"

Fernschreiber: 8 89 168 daev d Herausgeber: Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung

Medizinische Informatik:

Wissenschaft oder

das große Unbehagen?

Ein Beispiel, willkürlich herausgegriffen aus den mehr als einhun- dert Vorträgen und Referaten beim viertägigen Internationalen Kon- greß für Datenverarbeitung in der Medizin — „Medical Informatics Berlin '79" —, zu dem sich fast tausend Teilnehmer aus 28 Ländern im neuen Internationalen Congress Centrum neben dem Funkturm versammelt hatten: ein junger Engländer trug vor, wie man mit Hilfe des Computers den Einsatz von Krankenwagen in der Grafschaft Essex rationalisieren und dabei Kosten sparen kann.

Zunächst das Problem: in Essex müssen täglich zwischen eintau- send und zweitausend Patienten mit Krankenwagen transportiert werden. Bei jedem einzelnen Patienten stehen fest: Name, Anschrift, Krankenblatt-Nummer; Zusteigeort; Bestimmungsort; geplante Ankunft am Bestimmungsort; geplante Abfahrt vom Bestimmungs- ort; Notwendigkeit von Rollstuhl oder Tragbahre; Notwendigkeit einer Begleitung; Notwendigkeit einer medizinischen Betreuung während der Fahrt.

Es wäre zweifellos unwirtschaftlich, die 144 zur Verfügung stehen- den Krankenwagen feststehende Routen fahren zu lassen wie im Omnibusbetrieb oder bei der Runde des Milchmanns. Sondern idea- lerweise muß für jeden Krankenwagen für jeden Einsatztag ein Fahrplan erstellt werden, der möglichst optimal die folgenden Bedingungen erfüllt: jeder Patient sollte in einem für ihn geeigneten Wagen gefahren werden; jeder Patient sollte möglichst pünktlich an seinem jeweiligen Bestimmungsort eintreffen; es sollten möglichst wenige Wagen benutzt werden; die Wagen sollten eine möglichst kurze Strecke fahren; in Einzelfällen müssen besondere Anforderun- gen (Tragbahre, Begleitung) berücksichtigt werden; die Rückfahrt des Patienten sollte möglichst mit der gleichen Krankenwagenbesat- zung erfolgen; die Besatzungen müssen ihre vorgeschriebenen Arbeitspausen einhalten; die zeitliche Belastung muß möglichst auf alle Besatzungen gleichmäßig verteilt werden.

Viele, sich ständig ändernde Faktoren also, und eine Fülle von Informationen, die kurzfristig bekannt werden (der „Fahrplan" für

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Computer in der Medizin

die Krankenwagen in Essex kann nur von Tag zu Tag geplant wer- den). Zur Zeit sind neun Arbeits- kräfte notwendig, die Informatio- nen zu sammeln, zu ordnen und weiterzuleiten; zwei weitere Ar- beitskräfte beschäftigen sich aus- schließlich damit, den Tagesplan aufzustellen. Es liegt auf der Hand, daß der Einsatz eines Computers wesentliche Erleichterungen brin- gen könnte.

Eine Studie ergab als idealen Weg, einen Computer nicht als alleini- ges Planungswerkzeug, sondern nur als Hilfsmittel einzusetzen. Da- mit wären in der Grafschaft Essex Kosteneinsparungen von jährlich zwischen 175 000 und 380 000 Pfund (etwa 600 000 bis 1,5 Millio- nen DM) möglich. Die theoretische Studie (die noch durch einen vier- wöchigen praktischen Versuch verifiziert werden soll) wurde durchgeführt, und der Urheber er- schien mit den Ergebnissen in Berlin und hielt sein Referat.

... und der aufmerksame Beob- achter konnte schon in den vier oder fünf Minuten, die, wie auf sol- chen Kongressen üblich, für eine

„Diskussion" zur Verfügung ste- hen, feststellen, daß manchen Zu- hörern vieles unverständlich ge- blieben war. Zunächst: es handelt sich nicht um den Unfall-, Notfall- oder Rettungseinsatz von Kran- kenwagen, der völlig außerhalb dieser Studie blieb. Sondern es handelt sich lediglich um den in England üblichen Transport von nicht gehfähigen Patienten zur normalen Untersuchung oder zur regelmäßigen Behandlung im Am- bulatorium der Krankenhäuser.

Zum zweiten: dieses Referat ge- hörte zu den zwei Dritteln der Fachvorträge des Kongresses, die in englischer Sprache gehalten wurden. Die Veranstalter (die Europäische Föderation für medi- zinische Informatik und die Deut- sche Gesellschaft für Medizini- sche Dokumentation, Informatik und Statistik) hatten zwar für Si- multandolmetscher gesorgt, und außerdem erhielt jeder Teilnehmer

in Form eines gedruckten Buches von 970 Seiten die „Proceedings".

Aber das viele Englisch und der anglisierte Fachjargon der EDV- Experten und Informatiker wird die meisten teilnehmenden Ärzte ganz einfach überfordert haben.

Beispiele allein aus diesem Refe- rat: „Das ILP wurde mit Hilfe von Gomeys Verfahren gelöst"; „die Genauigkeit der Zeit/Entfernungs- daten, die das Modell verwendet, ist nicht groß genug, um den für ein wirkliches Optimum notwendi- gen zusätzlichen Zeitaufwand zu rechtfertigen"; „121 nicht-negati- ve integrierte Variable".

Und zum dritten: viele Zuhörer be- merkten offenbar überhaupt nicht, daß in der ganzen Grafschaft Es- sex noch nicht ein einziger Kran- kenwagen nach einem vom Com- puter erstellten Fahrplan gefahren ist — es handelt sich lediglich um Versuche, Überlegungen, Pla- nungsstudien, theoretische Mo- delle.

Die drei an diesem Beispiel ge- machten Beobachtungen — viel Theorie, viel Fachchinesisch, viele fehlende Voraussetzungen — sind wahrscheinlich ein ziemlich ge- naues Zustandsbild des heutigen Entwicklungsstandes beim Com- putereinsatz in der Medizin.

Fortschrittsglaube bei den einen, Skepsis bei anderen

Wenn schon vor zwei Jahren ein Bericht über den Vorläufer des jet- zigen Kongresses mit den Schlag- worten „Ernüchterung und Kritik- losigkeit" überschrieben wurde (DEUTSCHES ÄRZTEBLATT, Heft 10/1977, Seite 671), so hat sich dieser Eindruck der Zwiespältig- keit inzwischen höchstens noch verschärft.

Es gibt auf der einen Seite eine anscheinend beinahe hemmungs- lose, fast beängstigende Fort- schrittsgläubigkeit an das, was mit dem Computer alles machbar zu sein scheint. Als Außenstehender

kann man das Gefühl haben, daß wir bereits kurz vor dem Gefahren- punkt stehen, an dem der Compu- ter und die „Daten" ein Eigenle- ben annehmen, vorwärtsgetrieben von der Industrie, die ihre Geräte und Programme verkaufen will, und gelenkt von den Experten, die den Computer zu bedienen verste- hen und denen der Arzt mangels eigenen Fachwissens einen Teil des Feldes überlassen muß.

Auf der anderen Seite war eine ge- wisse Skepsis, ein beträchtliches Unbehagen bei dem Kongreß in Berlin nicht zu überhören: man- che Entwicklungen sind nicht so schnell vorangegangen, wie man sich das einmal vorgestellt hatte;

dies betrifft zum Beispiel den Ein- satz des Computers in der Praxis des niedergelassenen Arztes, wie später noch ausgeführt werden wird. Es betrifft auch die Frage, der in Berlin ein ganzer Vortrag gewidmet war, ob nämlich die me- dizinische Informatik bereits ein eigenes Wissenschaftsgebiet ge- worden oder aber eine Fiktion ge- blieben sei.

Ein Spiegelbild dieses Zwiespalts bot der Paul-Martini-Festvortrag des bisherigen Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Medi- zinische Dokumentation, Informa- tik und Statistik, Professor Dr.

med. Karl Überla, München, über die methodischen Grenzen der Analyse ärztlichen Handelns.

Überla schien sich eingangs völlig von dem altmodischen Bild des persönlichen Verhältnisses zwi- schen Arzt und Patient zu entfer- nen, als er sagte, die Medizin be- finde sich in einem Entwicklungs- prozeß, der „zur standardisierten Massenproduktion ärztlicher Lei- stungen bestimmter Qualität" hin- führe. Die Medizin habe sich bis- her entwickelt, indem man den Pa- tienten untersuchte und nicht den Arzt. Der dazugehörige Entwick- lungszustand, in dem die Regeln für ärztliches Handeln fest be- stimmt sind und die Variabilität beim Patienten liegt, sei aber längst überschritten. Daher wollte

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MPUTER

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Aus: Medikament und Meinung

Überla das ärztliche Handeln als ein „System begreifen, das nicht statisch ist, sondern Prozeßcha- rakter hat und das sich in einzelne Elemente zergliedern läßt". Damit werde es empirisch analysierbar, und mit Hilfe der Statistik und In- formatik könne man Modellvor- stellungen zum ärztlichen Handeln überprüfen, zum Beispiel, indem man Standards einführt, nämlich Standardkrankheiten und standar- disierte Leistungsmuster, die es möglich machen, bestimmte Er- gebnismuster vorherzusagen.

Ein deutliches Beispiel dafür also, schloß der Beobachter zunächst, wie jemand die Medizin und das ärztliche Handeln so zurechtbie- gen möchte, daß man „sinnvoll"

und wirtschaftlich die modernen Methoden der Statistik und Infor- matik, also den Computer, einset- zen kann. Genau diesen Anspruch hatte Überla auch formuliert mit dem Satz: „Wenn wir mit den Hilfsmitteln der Informatik und Statistik die Medizin mitgestalten wollen, haben wir die Grenzen der Erkennbarkeit ärztlichen Handelns zu untersuchen und zu formulie- ren, und sei es in der Absicht, sie handelnd zu überschreiten".

Grenzen der

methodischen Untersuchung des ärztlichen Handelns

Bei diesem Ausgangspunkt war es fast überraschend, daß Überla im weiteren Verlauf seines Vortrages nicht weniger als neun Grenzen aufführte, an die der Versuch der empirischen Untersuchung ärztli- chen Handelns stoße (er fügte aus- drücklich hinzu: er habe sich auf neun Beispiele beschränkt, um zu vereinfachen und seine Redezeit einzuhalten):

I> Die Schwierigkeit, ärztliche Aufgaben zu formulieren;

1> die Komplexität des ärztlichen Handelns, seiner Elemente und der zeitlichen Abfolgen;

> die Wandelbarkeit und Variabi- lität zwischen Patienten, Krankhei-

ten, Ärzten (bei den Ärzten allein die Variabilität zwischen Facharzt- gruppen, Schulen, Ländern und Jahrzehnten);

> die Seltenheit vieler Ereignisse in der ärztlichen Tätigkeit;

> die prinzipielle Unbeobacht- barkeit mancher Vorgänge beim ärztlichen Handeln (das „individu- elle Sterben" kann gar nicht statt- finden, wenn es genau analysiert wird; das intime ärztliche Ge- spräch des Frauenarztes mit einer Patientin wird durch Beobachtung geradezu zerstört);

> aus ethischen Gründen läßt sich ärztliches Handeln nur schwer in ein Schema kausaler Zusammenhänge pressen;

> die theoretischen Modelle sind unzureichend;

> die Erhebungsinstrumente zur Analyse ärztlichen Handels sind nicht entwickelt;

> manche Betroffene verwei- gern, aus was für Gründen auch immer, die Mitwirkung an Untersu- chungen; dies können Ärzte, Pa- tienten, Kassen, Krankenhausträ- ger und andere sein.

Eine Fülle von Hemmnissen also — trotzdem aber verlangte Professor Überla zum Schluß die Entwick- lung einer neuen „Wissenschaft vom ärztlichen Handeln" und als

Voraussetzung dafür eine „kon- struktive und aggressive klinische Methodologie", für die wesentli- che Bausteine aus der Statistik, der Informatik, der Sozialwissen- schaft und der Epidemiologie vor- handen seien.

Es lohnt, an dieser Stelle einiges aus dem Vorwort zum Referate- band zu zitieren, weil auch hier dieser zwiespältige Eindruck ent- steht. Man fragt sich nämlich, ob die hier so kategorisch festgestell- te „Krise" in der Medizin nicht et- wa nur einen Zweckpessimismus darstellt, um der noch nicht recht etablierten Informationswissen- schaft eine Daseinsberechtigung zu verschaffen:

„Die Medizin steckt in einer Krise.

Ihre Symptome sind der Trend zur Spezialisierung, das allgemeine Versagen der ärztlichen Ausbil- dung, die explodierenden Kosten der Gesundheitsversorgung, de- nen kein entsprechender Fort- schritt beim Gesundheitszustand der jeweiligen Bevölkerung ge- genübersteht. An der Wurzel die- ser Krise finden wir die Inflation der Information, die Lawine von Wissen und Daten. Eines der Hauptprobleme der modernen Me- dizin ist, wie sie mit dieser Fülle von Informationen fertig werden soll ... • Die Lücke zwischen der wachsenden Anzahl von Fakten ei- nerseits und dem Wissen, wie man diese Fakten nutzt andererseits, wird immer breiter. Die Informa-

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Computer in der Medizin

tionswissenschaft kann und wird helfen, diese Lücke zu überbrük- ken, indem sie der Medizin Mittel an die Hand gibt, die Information zu beherrschen. Wegen ihrer An- forderungen an den Intellekt, und weil sie sich auf die Logik stützt, wird die Informationswissenschaft

-dazu beitragen, eine neue und notwendige medizinische Disziplin zu schaffen, eine „Methodologie medizinischen Handelns", und sie wird auf diese Weise wesentlich dazu beitragen, die Krise der mo- dernen Medizin zu überwinden.

Dies kann zu einer deutlichen Än- derung der intellektuellen Haltung der Ärzteschaft führen, und dies könnte ein wichtiger Aspekt der Kulturrevolution sein, welche die Medizin braucht."

Solchen starken Worten stand al- lerdings auch Skepsis gegenüber.

So sagte der Franzose Professor Andrä Danzin, das Wichtigste sei heute nicht mehr die Fähigkeit, Datenverarbeitungssysteme zu be- herrschen, sondern über Qualität und Nutzen der gesammelten und verteilten Daten nachzudenken.

Und Professor Dr. med. Peter Reichertz, Hannover, der sich in der letzten Zeit viel mit der Anwen- dung von Computern in der Ein- zelpraxis des Arztes beschäftigt hat, erklärte: „In den letzten Jah- ren haben wir gelernt, daß Compu- tersysteme nicht erfolgreich ange- wandt werden können, wenn sie ohne den betroffenen Benutzer konstruiert, an seinen Wünschen, Befürchtungen und Erfahrungen sozusagen vorbeigebaut worden sind. Es wird Aufgabe der Zukunft sein, in stärkerem Maße als bisher auch die Hoffnungen, Befürchtun- gen und Interessen desjenigen zu berücksichtigen, zu dessen Wohl letzten Endes die Technologie in die Medizin eingeführt werden soll

— des Patienten."

Professor Reichertz (Department für Biometrie und Medizinische In- formatik der Medizinischen Hoch- schule Hannover und einer der Vi- zepräsidenten der Deutschen Ge- sellschaft für Medizinische Doku-

mentation, Informatik und Stati- stik) war es auch, der in einem zusammenfassenden Schlußvor- trag die Frage aufwarf, ob die me- dizinische Informatik sich in einer Krise befinde. Damit war eigent- lich gemeint eine Krise in der Ent- wicklung der medizinischen Infor- matik zu einer eigenen Wissen- schaft, zu der nach Meinung von Reichertz unter anderem gehören muß eine eigene Theorie, eine ei- gene Methodologie und auch eine eigene Ausbildung mit einem Lehrplan (auf diesem Gebiet ist man in der Bundesrepublik relativ weit fortgeschritten, vor allem an der Universität Heidelberg).

Neue Entwicklungen:

Von der zentralen Datenbank zur kleineren Rechenanlage Andererseits ist wohl nicht nur dem Arzt Reichertz klar, daß man die medizinische Informatik nicht losgelöst von der Medizin und dem Gesundheitswesen sehen kann, auch nicht isoliert von der nun einmal notwendigen Verknüp- fung mit der technischen Entwick- lung der Elektronischen Datenver- arbeitung. Und gerade hier kon- statierte Reichertz eine gewisse Krise.

Sie beruht nach seiner Darstellung unter anderem darauf, daß die Er- wartungen vielleicht zu hoch ge- schraubt waren, daß man die be- reits gemachten Fortschritte nicht erkennt und daß man auf dem Ge- rätesektor von den großen, zentra- lisierten Rechenanlagen zumin- dest vorübergehend abgekommen ist zugunsten kleinerer, dezentrali- sierter Einrichtungen. Dies habe zum Teil Kostengründe, es liege zum Teil auch daran, daß sich die Industrie lange darauf konzentriert habe, umfangreiche Hardware zu verkaufen, und die Software ver- nachlässigt habe. Eine solche Ent- wicklung führe dazu, daß der Computer nur noch Teil eines Ge- rätes ist und als solcher vom Arzt nur noch als Hilfsmittel benutzt wird — ein typisches Beispiel ist die Computertomographie: hier kann

der Arzt einen Computer „benut- zen", ohne ihn eigentlich zu ver- stehen und ohne daß es dann zu Fortschritten in der Anwendung oder in der Theorie kommt.

Dadurch entsteht unter anderem auch die Gefahr, sagte Reichertz, daß die Möglichkeit verlorengeht, die Verarbeitung von administrati- ven und medizinischen Daten mit- einander zu verbinden — wobei man wohl hinzufügen muß: andere sehen gerade in diesen Verbin- dungsmöglichkeiten eine der größten Gefahren des Computers für das Verhältnis zwischen Arzt und Patient und darüber hinaus für die freiheitliche Entwicklung unserer ganzen Gesellschaft. Die- se widersprüchlichen Auffassun- gen über das, was eigentlich auf dem Gebiet der medizinischen In- formatik und der Datenverarbei- tung im Gesundheitswesen eine

„Gefahr" darstellt, sind wohl ebenfalls symptomatisch für das Unbehagen, von dem eingangs die Rede war.

Bei alldem muß man aber beden- ken, daß in einzelnen Bereichen ganz erhebliche Fortschritte bei der Anwendung von Computern in der Medizin gemacht worden sind und noch gemacht werden. Man- ches davon ist außerordentlich in- teressant, anderes in höchstem Maße beunruhigend. Der viertägi- ge Kongreß in Berlin und die gleichzeitig stattfindende Ausstel- lung von etwa zwei Dutzend ein- schlägigen Firmen belegten dies reichlich.

Als Beispiel sei eine Vortragsreihe herausgegriffen, in der über „Sy- steme für die Arztpraxis" berichtet wurde. So hat in London der Allge- meinarzt Dr. Geoffrey Dove mit ei- ner „Computer-Anamnese" expe- rimentiert und berichtete über ih- ren „psychotropen Effekt".

Das mit 60 Patientinnen durchge- führte Experiment bestand daraus, daß die Frauen nach einer Einwei- sung durch den Arzt vor einen Computer gesetzt wurden und et- wa 400 programmierte Fragen

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DIE GLOSSE

Computer-Sprache

„ADA ist der Name einer höhe- ren Programmiersprache, die gegenwärtig im Auftrag des amerikanischen Verteidigungs- ministeriums entwickelt wird.

(Daher auch als DoD-Sprache bekannt.) . . . Die High-Order-

Language-Wo rki ng-G rou p (HOLWG) des DoD hat für ADA in mehreren lterationen die technischen Anforderungen an die zu schaffende Program- miersprache erarbeitet. Sie wurden als Strawman (1975), Woodenman (1975), Tinman (1976), Ironman (1977) und Steelman (1978) requirements veröffentlicht .. .

Die gegenwärtigen Vorstellun- gen sind als Pebbleman-Report (2nd edition) im Januar 1979 veröffentlicht worden. Unter anderem sollen alle Übersetzer validiert werden, bevor sie für

militärische Anwendungen frei- gegeben werden

So steht's wörtlich in der Zeit- schrift „Informatik-Spektrum".

Und nun ein paar Fragen, damit ich sehe, ob Ihr Bengels das auch begriffen habt! Also:

Warum ist das eine DoD-Spra- che? Na? Weil sie im Pentagon entwickelt wird, im Department of Defense – nein, das steht nir- gends, das muß man sich halt denken!

Was ist ein requirement? – Richtig: eine Iteration. Gut auf- gepaßt, mein Junge.

Und merkt Euch eins: wenn Ihr Übersetzer werden wollt, dann validiert Euch beizeiten, ver- standen! Sonst kommen all die Stroh-, Holz-, Zinn-, Eisen-, Stahl- und Kieselmänner aus der HOLWG und schlagen Euch DoD – pardon: tot . . . gb nach der medizinischen und so-

zialen Anamnese zu beantworten hatten. Der Computer konnte die Fragen sogar in verschiedenen

„Sprachen" stellen, je nach dem Bildungsstand und der sozialen Schicht der Patientin.

Es stellte sich heraus, daß die Pa- tientinnen im Durchschnitt 90 Mi- nuten für die Beantwortung der Fragen brauchten, also eine we- sentlich längere Zeit, als für ein direktes Gespräch mit dem Arzt zur Verfügung gestanden hätte.

Dr. Dove sah einen erheblichen Vorteil dieses Verfahrens bereits darin, daß die Frauen sich wäh- rend dieser 90 Minuten natürlich eigentlich nicht so sehr mit dem Computer beschäftigten, sondern im wesentlichen mit sich selbst – eine kleine psychoanalytische Sitzung.

Bemerkenswert war ferner, daß die etwa fünf Prozent der Fragen, die von den Patientinnen mit

„weiß nicht" beantwortet wurden, oft gerade solche Bereiche betra- fen, an denen nachher die ärztli- che Beratung oder Behandlung einzusetzen hatte. Dr. Dove unter- strich allerdings die Notwendig- keit der sorgfältigen Formulierung der Computerfragen (um einen Placebo-Effekt zu vermeiden) und hielt es für unerläßlich, daß die Pa- tientin weiß: die Computerfragen sind vom gleichen Arzt entworfen worden, mit dem ich hinterher über die Eraebnisse sprechen kann. Nach Dr. Doves Eindruck wurden auch dem Computer man- che Fragen beantwortet, auf die der Arzt im direkten Gespräch kei- ne Antwort erhalten hätte.

Einen ganzen Schritt weiter geht der belgische Arzt Dr. Temmer- man mit einem „modularen inte- grierten Krankenblatt für die Allge- meinpraxis". Hier füllt der Patient zu Hause einen Anamnesefrage- bogen aus, bringt ihn mit in die Praxis, wo er mit Hilfe des Arztes eventuell noch korrigiert oder ver- vollständigt wird, und der Frage- bogen wird dann vom Computer verarbeitet. Das Ergebnis können

verschiedene Arten von Ausdruk- ken sein, zum Beispiel eine vom Computer geschriebene Überwei- sung an den Facharzt oder an das Krankenhaus mit einer Aufstellung der Risikofaktoren, gegliedert nach drei Gefährdungsstufen, für 19 pathologische Bereiche, mit Behandlungsvorschlägen, Arznei- mittelwarnungen, Wiederbestel- lungsterminen oder auch Rat- schlägen zur Änderung der Le- bensweise.

Unbeantwortet blieb dabei die Fra- ge, warum nicht ein solcher Aus- druck gleich dem Patienten in die Hand gedrückt werden soll, und darüber hinaus auch seiner Kran- kenkasse, seinem Arbeitgeber und wer immer sonst an den Einzelhei- ten interessiert sein könnte.

Und unbeantwortet blieb auch die Frage eines Teilnehmers (Dr. Ot- fried Schaefer, Kassel), ob nicht der erfahrene Arzt durch einen

sorgfältig gestalteten Anamnese- fragebogen bereits die notwendi- ge Übersicht über die Krankenge- schichte des Patienten erhält. Mit anderen Worten: warum muß ei- gentlich der Fragebogen erst in den Computer gesteckt werden?

Dr. Schaefer: „Der Computer ver- mehrt zwar den Papiereinsatz, aber nicht die Erkenntnis. Aller- dings kann der Computer die Er- kenntnis bringen, daß der Arzt sei- ne Dokumentation verbessern sollte – verbessern kann er sie aber auch ohne den Computer."

Wie gesagt: diese wesentliche Fra- ge blieb unbeantwortet ...

Viel Wasser in den Wein gossen dann Dr. Erhard Geiss vom Zen- tralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland und wiederum Pro- fessor Dr. Peter Reichertz, Hanno- ver, in ihren Übersichten über die bisherigen Feldversuche mit Com- putereinsatz in der Einzelpraxis

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Computer in der Medizin

und die dabei beobachteten Ko- sten-Nutzen-Effekte.

Es wird manchen überraschen, daß nach Dr. Geiss Praxiscompu- ter bisher in der Bundesrepublik Deutschland nur von 15 Firmen angeboten worden sind, und kein einziger davon ist in mehr als sie- ben Arztpraxen erprobt worden.

Es sei sehr schwer, die „richtigen"

Kosten und den „richtigen" Nut- zen zu kalkulieren; es stehe je- doch fest, daß Ärzte die indirekten Anschaffungskosten oft unter- schätzen.

In manchen Fällen stellte sich her- aus, daß die Praxiskosten durch die Anschaffung eines Computer- systems um bis zu ein Drittel stie- gen. Da dem meistens — dies gilt übrigens auch für andere Berei- che, etwa Krankenhauslabors — keine sofortige Personaleinspa- rung gegenübersteht, bleibt der wirtschaftliche Nutzen oft sehr klein oder entpuppt sich sogar als finanzieller Verlust.

Professor Reichertz wies demge- genüber darauf hin, daß bei einem von ihm ausgewerteten Feldver- such nur eine von sechs Praxen aus dem Einsatz eines Computers einen meßbaren finanziellen Nut- zen erzielte. Überträgt man dies allerdings auf die Gesamtheit der 50 000 Kassenarztpraxen, so könnte bei 8000 von ihnen der Computereinsatz sinnvoll sein.

Ebenso erinnerte Geiss daran, daß bei einem Gesamtumsatz in der kassenärztlichen Versorgung von 14 Milliarden DM jährlich bereits Rationalisierungserfolge in der Größenordnung von Promille ho- he Millionenbeträge freisetzen können.

Dr. Geiss wies auch auf die recht- lichen und organisatorischen Schwierigkeiten hin, die es zur Zeit noch unmöglich machen, daß der niedergelassene Arzt etwa sei- ne ärztliche Dokumentation mit der Abrechnung bei der KV in ei- nem Computer verbindet. Wegen der Kostendiskussion hätten die Ärzte auch in den letzten Jahren

eine merkliche Zurückhaltung bei umfangreichen Investitionen ge- zeigt. Dr. Geiss erwartet, daß mit der Vermehrung von ärztlichen Gemeinschaftseinrichtungen etwa ab Mitte der achtziger Jahre ein größerer Markt für Praxiscompu- ter entstehen wird. Voraussetzung sei allerdings auch, daß die Indu- strie Hardware und Software an- bieten kann, die für mindestens zehn Jahre im wesentlichen unver- ändert betrieben werden können.

Datenschutz ist technisch machbar, aber ...

Es wird vielleicht manchen ver- wundern, daß in diesen Betrach- tungen über die „Medical Informa- tics Berlin '79" das Wort „Daten- schutz" noch nicht gefallen ist.

Dies hat hauptsächlich den Grund, daß die Notwendigkeit des Daten- schutzes bei den Experten nicht mehr bestritten ist. Fast jeder Fachvortrag enthielt ein eigenes Kapitel über die technischen Vor- kehrungen für den Datenschutz, die bei dem jeweils beschriebenen System oder Modell selbstver- ständlich eingebaut sind oder ein- gebaut werden können. Es läuft, kurz gesagt, darauf hinaus, daß Datenschutz technisch ohne wei- teres machbar ist — die Informati- ker können sogar mit einigem Recht darauf hinweisen, daß erst durch sie in der allgemeinen Öf- fentlichkeit das Problembewußt- sein für den Datenschutz geschaf- fen worden sei.

Wobei man als Beobachter hinzu- fügen muß: das Wort „Daten" hat inzwischen einen solchen Bedeu- tungswandel durchgemacht, daß Experten und Laien offenbar glei- chermaßen bei diesem Wort im- mer automatisch an den Computer denken — dabei kann es auch mei- lenweit von jedem Computer ent- fernt zu schützende „Daten" ge- ben. Es wäre vielleicht an der Zeit, sich für „Datenschutz" einen neu- en Begriff einfallen zu lassen.

Es gibt aber noch einen zweiten Grund. Die Statistiker und Infor-

matiker weisen — von ihrem Stand- punkt aus sogar mit einigem Recht

— darauf hin, daß sie zwar die tech- nischen Möglichkeiten des Daten- schutzes schaffen und ausschöp- fen können. Ob jedoch dann die überall entstehenden Datenban- ken miteinander verknüpft werden dürfen oder nicht, dies sei letzten Endes eine Entscheidung, welche die Politiker oder die Gesellschaft zu treffen hätten. Wenn man aber vor dem Hintergrund dieses Argu- ments hört, wo überall Daten ge- sammelt werden könnten, müßten oder sollten, oder wenn man die oft wiederholte Forderung hört, daß zum Beispiel im Krankenhaus endlich die „ziemlich künstliche Trennung der verwaltenden und der medizinischen Ebene über- wunden werden müßte", damit nämlich endlich ein größerer Computer rationeller eingesetzt werden kann, so beschleicht einen doch das Gefühl, daß hier Ent- wicklungen in Gang gesetzt wer- den, die eines Tages womöglich nicht mehr zu stoppen sind.

Hinzu kommt noch die ziemlich schauerliche Fachsprache, derer sich die Datenfachleute heutzuta- ge bedienen und die jedenfalls vom einzelnen Arzt auf weiten Strecken bestimmt nicht mehr ver- standen werden kann. Auch hier- für bot der Berliner Kongreß eine Fülle von abschreckenden Bei- spielen. Wer die Entwicklung auf dem Gebiet der Elektronischen Datenverarbeitung und Informatik genau beobachten und verstehen will, braucht offenbar ein Fach- wörterbuch — und das für die Be- schäftigung mit einer Maschine, die doch in Wirklichkeit nur zwei Ausdrücke kennt, nämlich „Ja"

und ,,Nein". Und dies ist das wahre Unbehagen, mit dem man den Berliner Kongreß verließ: Lassen wir es zu, verkennen wir die damit verbundenen Gefahren, stört es uns überhaupt nicht, daß diese Maschine eines Tages alle Äuße- rungen und alle Lebensäußerun- gen des kranken Menschen und des helfenden Arztes in ihr stupi- des Plus-Minus-Schema pressen wird? Günter Burkart

3100 Heft 47 vom 22. November 1979 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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