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Archiv "Gesundheitsökonomie: Krankes Gesundheitswesen und die Reformen" (04.03.2005)

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T H E M E N D E R Z E I T

A

A570 Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 94. März 2005

G

esundheitsökonomik ist die An- wendung der Wirtschaftswissen- schaft (Ökonomik) auf das Ge- sundheitssystem. Sie ist „Leitwissen- schaft“ für Systemreformen. Nach Breyer et al. (4) untersucht dieses Fach unter anderem „die Macht der Ärzteverbän- de“ und „Ineffizienzen in Krankenhäu- sern“. Solche Beschreibungen haben mit einer wertfreien Wissenschaft wenig zu tun. Bei der Erforschung der Ener- giewirtschaft kommt beispielsweise kei- ne analoge Definition vor. Man sucht also die „Kostentreiber“ im Gesund- heitswesen. Kandidaten dafür sind: Der

„Moral-Hazard-Effekt“ (je besser die Versicherung ist, desto riskanteres Ver- halten tritt auf), die „Free-Rider-Menta- lität“ (Ausnutzen der Leistungen ohne Eigenbeteiligung bei der Kostenträger- schaft), die „Rationalitätenfalle“ (mög- lichst viele teure Gesundheitsleistungen werden beansprucht), das „Verantwor- tungsvakuum“ der Ärzte, das „steigen- de Anspruchsniveau“ der Bürger ge- genüber Gesundheitsleistungen, die Zu- nahme der Älteren und technologische Fortschritte. Zur Frage der „angebotsin- duzierten Nachfrage“ (je mehr Ärzte es gibt, desto mehr Gesundheitsleistungen werden nachgefragt) wird von Breyer et al. die „Zieleinkommens-Hypothese“

formuliert. Sie besagt, dass bei einem Anstieg der Ärztedichte der Anreiz für die Ärzte besteht, „die Informationen, die sie an die Patienten geben, syste- matisch zu ändern, um ihre eigene Aus- lastung sicherzustellen“. Die relative Häufigkeit dieser Verhaltensweisen ist allerdings nirgends repräsentativ aus- gewiesen.

Bemerkenswert ist, dass Gesund- heitsökonomen auch ein eigenes Kon- zept von „Gesundheit“ haben. Es be- ruht nicht auf einem medizinischen Ge-

sundheits-/Krankheitsmodell, sondern stellt sich als undifferenziertes, kaum messbares „Gesundheits-Kapitalstock“- Konzept dar, bei dem genetische Fakto- ren, Umweltfaktoren und Verhaltens- faktoren nicht explizit als Modellbasis verwendet werden. Dieses Konzept ist deshalb zu einfach in Hinblick auf mo- derne Erkenntnisse zur Pathogenese und Salutogenese (9, 1, 8, 14). Manche Krankheiten werden dagegen als „Le- bensstile“ klassifiziert, vermutlich um kategorisch Behandlungskosten einzu- sparen. Darüber hinaus entgeht man- chen Ökonomen der nicht so leicht zu treffende Unterschied von Gesundheit und Krankheit. Bei der Quantifizierung von Gesundheit als Output-Größe des Gesundheitswesens besteht das Pro- blem der Indikatorwahl: Lebenserwar- tung als Globalkategorie für den inter- nationalen Gesundheitssystemvergleich bildet auch gesundheitssystemexterne Faktoren ab. Wegen der Schwierigkeit der „Monetarisierung“ des Nutzens von Gesundheit sind Kosten-Nutzen-Analy- sen unpassend („Was kostet und was nützt ein Kranker der Gesellschaft“?).

Methodenbewusste Gesundheitsökono- men beschränken sich stattdessen auf Kosten-Effektivitäts-Analysen. Auch werden epidemiologische Daten zu we- nig differenziert einbezogen. Insbeson- dere ist die reale Inhomogenität betreffs Alter, Geschlecht, sozioökonomischer Merkmale und anderes oft nicht ausrei- chend berücksichtigt. Gesundheit aus ökonomischer Sicht ist letztlich ein

„Produkt“, das vom betreffenden Men- schen und vom Arzt „produziert“ wird.

Hier tritt ein weiterer Problempunkt zu Tage, nämlich die undifferenzierte, hohe Aggregation von Variablen: So ist vom

„Arzt als Nutzenmaximierer“ die Rede (4), wobei ein durchschnittliches Verhal-

ten der circa 350 000 Akteure angenom- men wird. Ob und wann Hausärzte oder Gebietsärzte, niedergelassene Ärzte oder Klinikärzte gemeint sind, bleibt meist offen. Die Differenzen verschwin- den so, das Kollektiv wird homogeni- siert, spezifische Handlungsbedingun- gen werden vernachlässigt. Den theore- tischen Ausführungen, in mathemati- scher Sprache gehalten, mangelt es an adäquaten Operationalisierungen und an geeigneten Daten. Die Gesund- heitsökonomik ist daher kaum in der Lage, wichtige Phänomene ihres Gegen- standsbereichs stringent zu erklären oder gar zu prognostizieren. Dennoch führt ihre scheinbare Neutralität in ihrer öffentlichen Präsentation zum Image ei- ner soliden Wissenschaft. Demnach er- hebt sie Ansprüche zur Umgestaltungs- kompetenz des Gesundheitswesens. Da die Gesundheitsökonomik sich mit ihren wissenschaftlichen Grundlagen so gut wie gar nicht kritisch auseinander setzt, sondern die Methodologie ihrer Mutterdisziplin unkritisch fortschreibt, soll hier ein kritischer Blick auf die Volkswirtschaftslehre geworfen werden (5, 6, 12).

Volkswirtschaftslehre als Mutterdisziplin

Der Nutzenmaximierer

Die Volkswirtschaftslehre (VWL) ver- sucht das gesamte wirtschaftliche Le- ben auf die Akteure am Markt zurück- zuführen (10). Grundlegend ist dabei die Annahme, dass jeder Akteur ein

„Nutzenmaximierer“ ist, der wie eine Kugel mit hoher potenzieller Energie automatisch von dieser Ebene auf ein niedrigeres Niveau rollt („rationaler

Gesundheitsökonomie

Krankes Gesundheitswesen und die Reformen

Kritik an der „politischen Gesundheitsökonomie“.

Hoher Gestaltungsanspruch trotz großer Erkenntnisdefizite

Felix Tretter

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Egoist“, 3). Das ist nur begrenzt richtig, weil es eben doch mit Innenleben aus- gestattete, erlebende und mit Erwar- tungen und Zielen handelnde Subjekte sind, die mit einer individuellen Eigen- dynamik oft nur „submaximalen“ Nut- zen akquirieren oder tolerieren (Psy- chologie-Defizit der VWL; 7). Die Nut- zenmaximierung trifft auf den Arzt bei der Berufswahl, im Klinikdienst usw.

selbst bei einem weit gefassten Nutzen- begriff nur sehr begrenzt zu, sodass man für die Arztrolle polarisierend vom

„empathischen Altruisten“ sprechen könnte. Darüber hinaus ist das Nutzen- konzept ein zirkuläres, tendenziell tau- tologisches Konstrukt, das im Nachhin- ein „alles“ erklärt, aber wenig progno- stizieren lässt: Wer handelt, maximiert Nutzen, und wer nicht handelt, offen- sichtlich auch. Wer beim teuren Anbie- ter kauft, kauft einen immateriellen Nutzen mit ein. Wer wenig Geld ver- langt, erhält immaterielle Werte. Wer altruistisch ist, maximiert ideelle Werte.

Mit solchen Argumentationen ist das Nutzenmaximierer-Konstrukt immuni- siert, es ist nicht mehr falsifizierbar und erklärt nichts mehr differenziert. Nut- zen ist deshalb nur im Rahmen der „or- dinalen Nutzentheorie“, also in Situa- tionen vergleichender Güterbewertun- gen mit gut messbaren Größen (Geld, Gütermengen), aussagekräftig („ration- al-choice-Paradigma“). Es ist daher fraglich adäquat bei Kranken, die kaum eine Wahl haben.

Der autoregulative Markt

Ein weiteres zentrales Konzept ist der Markt. Hier manifestiert sich die Kon- kurrenz der Akteure, die fast automa- tisch zum Wohl des Kunden als Nachfra- ger führen soll (Mikroökonomik, 15).

Auf der Basis solcher Konzepte er- scheint die Ökonomik als die „Physik des Sozialen“. Das Prinzip der maxima- len Konkurrenz geht allerdings an der sozialen Realität vorbei, denn es tritt auch kooperatives Verhalten auf, das bei Ökonomen als „Anomalie“ gilt. Diese Kooperativität haben viele empirische Studien demonstriert (2). Weitere Ein- schränkungen der Marktmechanismen („Marktversagen“) sind im Gesund- heitswesen anzunehmen. So gibt es eine

kaum behebbare „Informationsasym- metrie“ zwischen Arzt und Patienten und Versicherungen. Das Marktkonzept ist im Gesundheitswesen auch wegen des besonderen Charakters des Gutes Gesundheit (höchstes Gut, nicht belie- big konsumierbar und ersetzbar) nur begrenzt anwendbar. Auch die These, dass eine wachsende Ärztedichte die Gesundheitsnachfrage überproportio- nal erhöht (angebotsinduzierte Nach- frage) und sonstige kostentreibende Ef- fekte hat, ist empirisch nicht eindeutig belegt und theoretisch auch durch laten- ten Nachfrageüberhang erklärbar (4).

Letztlich zielen die Reformbemühun- gen im Gesundheitswesen auf eine Stei- gerung der Markprinzipien (11).

Die Methoden der Ökonomik

Eine besondere Bedeutung hat die Ma- thematik in den Wirtschaftswissen- schaften. So ist das mathematische Kon- zept des Differenzials eine wichtige Grundlage der ökonomischen Theorie:

Der Nutzenzuwachs („Grenznutzen“, Output) wird „zunehmend geringer“, wenn man auf hohem Niveau produ- ziert/konsumiert (Input) und die Pro- duktion/Konsumtion weiter steigern will. Das „Nutzenmaximum“ ist daher beim Grenznutzen von Null erreicht.

Auf diese Weise wird jeder Akteur am Markt als mehr oder weniger komple- xer „Differenzialoperator“ konstruiert.

Während in der Physik Energie, Masse oder Beschleunigung operatio- nalisierte, empirisch messbare Kernbe- griffe sind, die über Formeln in mathe- matische Zusammenhänge eingebun- den werden, findet sich bei formalen Kalkülen der Wirtschaftstheorie, insbe- sondere zum Gesundheitswesen, oft ein willkürlicher Variablenmix mit un- zulänglicher Operationalisierung. So wirkt die ökonomische Theorie des Arztes oder des Krankenhauses mit ih- rer Ad-hoc-Variablenwahl völlig abge- hoben, zumal die empirische Validie- rung inkonsistent ist (4, 13).

Selten erfolgt die Erörterung der Passung von Theorie und Daten. So be- stehen übermäßig formalisierte Theori- en. Dabei wird versäumt, einschrän- kend auf die Funktion der Mathematik als Sprachform und als Approximation

an Beobachtungsdaten zu verweisen.

Mathematische Modellierung ist in der Ökonomik auch nur ein hypothesenge- nerierendes heuristisches Instrument und nicht etwa Quelle der Weltformel (wirtschaftlichen) Verhaltens. Mathe- matische Modelle werden darüber hin- aus häufig ohne Bezug zur empirischen Forschung dargestellt. Numerische Wirtschaftsmathematik stellt sich hin- gegen häufig nur als banale Tabellen- kalkulation dar wie beispielsweise die Kostenrechnung bei Sparproblemen.

Problematisch im Bereich der empi- rischen Forschung ist auch der Bezug zu Daten aus anderen Staaten, wie sie bei- spielsweise bei Gesundheitssystemver- gleichen praktiziert werden, weil ge- samtwirtschaftliche, rechtliche und soziokulturelle Rahmenbedingungen (Soziologie-Defizit) selten berücksich- tigt werden. Auch können Einzelstudi- en nur begrenzt für Verallgemeinerun- gen herangezogen werden.

Fazit

Gesundheitsökonomik als „praktische Wissenschaft“ ist zwar ein unentbehrli- cher und auch stimulierender Ansatz, Orientierungen für rationale Gesund- heitssystemsteuerungen und -gestaltun- gen zu bekommen. Die „Rationalität“

dieses Faches ist aber begrenzter, als es ihr gegenwärtiges Marketing vermuten lässt. Ein intensiverer „transdisziplinä- rer“ Dialog zwischen Gesundheitsöko- nomie, Politik und praktischer Medizin zur Entwicklung von Konzepten zur Ef- fizienzsteigerung des Gesundheitssy- stems erscheint daher unumgänglich.

Auch die Berücksichtigung von Psycho- logie und Soziologie würde realistische- re Modellierungen erlauben.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2005; 102: A 570–571 [Heft 9]

T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 94. März 2005 AA571

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das beim Verfasser erhältlich oder im Internet unter www.aerzteblatt.de/lit0905 abrufbar ist.

Anschrift des Verfassers:

Priv.-Doz. Dr. rer. pol. Dr. phil. Dr. med.

Felix Tretter Bezirkskrankenhaus Haar Suchtabteilung 85529 Haar

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T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 9⏐⏐4. März 2005 AA1

Literaturverzeichnis Heft 9/2005

Gesundheitsökonomie

Krankes Gesundheitswesen und die Reformen

Kritik an der „politischen Gesundheitsökonomie“.

Hoher Gestaltungsanspruch trotz großer Erkenntnisdefizite.

Felix Tretter

Literatur

1. Antonovsky, A., Franke, A. (Hrsg)(1997): Salutogene- se. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. DGVT-Ver- lag, Tübingen

2. Axelrod, (1997): Evolution kooperativen Verhaltens.

Oldenburg , München

3. Becker, G.S. (1993): Ökonomische Erklärung mensch- lichen Verhaltnes. Mohr, Tübingen.

4. Breyer, F., Zweifel, P. , Kifmann, A. (2003): Gesund- heitsökonomie. Springer, Berlin

5. Brodbeck, K.H. (2000): Die fragwürdigen Grundlagen der Wirtschaftswissenschaft Wiss. Buchges. Darm- stadt

6. Dörner, D. (2002): Die Logik des Misslingens. Ro- wohlt, Reinbek/Hamburg

7. Frey, B. S. (1999): Economics as a Science of Human Behaviour. Towards a New Social Science Paradigm.

Kluwer Academic Publishers, Boston

8. Gross, R. Löffler, M. (1997): Prinzipien der Medizin.

Springer, Berlin

9. Hurrelmann, K., Laaser, U. (Hrsg)(1998): Handbuch Gesundheitswissenschaften. Juventa,Weinheim 10. Mankiw, N.G. (2000): Makroökonomik. Schäfer-Poe-

schel, Stuttgart

11. Oberender, P. , Hebborn,A., Zerth, J.(2002):Wachstums- markt Gesundheit. Lucius u. Lucius-UTB, Stuttgart 12. Schülein, J.A., Reitze, S. (2002): Wissenschaftstheorie

für Einsteiger. Facultas- UTB, Wien

13. Schulenburg, J.M. Graf v. d.,Greiner W. (2000): Ge- sundheitsökonomie Mohr, Tübingen

14. Uexküll, T. v., Geigges, W., Plassmann, R. (Hrsg) (2002): IntegrierteMedizin – Modell und klinische Praxis. Schattauer, Stuttgart

15. Varian, H.L. (2001): Grundzüge der Makroökonomik.

Oldenbourg, München

Referenzen

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