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Archiv "Zur geburtshilflichen Situation in der Bundesrepublik Deutschland" (24.11.1988)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

DIE UBERSICHT

Geburtshilfe im Wandel

Zur geburtshilflichen Situation in der Bundesrepublik Deutschland

Karl-Heinrich Wulf

Zahl der Geborenen - Fruchtbarkeitsziffern

Die Geburtenzahl lag in der Bundesrepublik am höchsten in den frühen 60er Jahren, von 1961 bis 1967 wurde die Millionengrenze überschritten. Danach erfolgte ein kontinuierlicher Abfall auf fast die Hälfte. Die Ursache für den Gebur- tenrückgang ist vor allem in einem veränderten generativen Verhalten der Bevölkerung zu sehen. Das ist sehr deutlich an der sogenannten Fruchtbarkeitsziffer abzulesen. Dar- unter versteht man die Zahl der Le- bendgeborenen pro 1000 Frauen im gebärfähigen Alter zwischen 15 und 45 Jahren. Diese Ziffer ist seit 1965 ebenfalls um die Hälfte zurückge- gangen von 88 auf 44. Seit 1971/72 haben wir auch zum ersten Mal in der überschaubaren Geschichte und seither ständig keinen Geburten- überschuß mehr, sondern ein Ge- burtendefizit, das heißt die Zahl der Verstorbenen ist größer als die der Geborenen. Die zur Bestanderhal- tung der Bevölkerung notwendigen Geburtenzahlen bringen wir schon seit 1970 nicht mehr auf (Tabelle 1).

Geburtsort - Regionalisierung der Geburtshilfe

Der Geburtsort hat sich eindeu- tig in die Klinik verlagert. In allen Bundesländern, mit vorübergehen- der Ausnahme von Berlin, beträgt die Rate der Hausgeburten weniger als ein Prozent. Der Wendepunkt war etwa 1954/55 mit gleich viel Kli- nikgeburten und Hausgeburten. Die

In der geburtshilflichen Landschaft hat sich auch bei uns in den letzten Jahrzehnten ein grundlegender Wandel vollzogen. Die Entwicklung ist charakterisiert durch einen dra- stischen Rückgang der Geburten- zahlen, eine hohe Rate an Klinikge- burten bei weitgehender Dezentra- lisierung, eine vom Arzt geleitete Geburtshilfe unter Assistenz von Hebammen, einen hohen Grad der Technifizierung, eine ständige Ver- besserung der Leistungsziffern und eine zunehmende Verrechtlichung der Geburtshilfe.

Verlagerung des Geburtsortes in die Klinik war bei uns zeitlich verbun- den mit der technischen Revolution in der modernen Geburtshilfe und Perinatologie. Die medizinischen Gründe für den Trend zur Klinikent- bindung sind vorrangig in den Fort- schritten der geburtshilflichen Über- wachungstechnik zu suchen. Die nichtmedizinischen Gründe für die Bevorzugung der Klinikentbindung ergeben sich aus den veränderten so- zialen Bedingungen. Es fehlt viel- fach heute der Rahmen der in Ge- meinschaft lebenden Großfamilien für die häusliche Betreuung.

Das stärkste Argument gegen die Hausgeburt ist die bekannt hohe Zahl weitgehend unvorhersehbarer Risiken, selbst nach komplikations- losem Schwangerschaftsverlauf. Das Aus der Frauenklinik und Hebammen- schule (Direktor: Professor Dr. med. Karl- Heinrich Wulf) der Bayerischen Julius- Maximilians-Universität Würzburg

Risikopotential liegt zwischen 7 und 17 Prozent. Trotz weitgehender Aufgabe der Hausentbindungen ist es in den letzten 30 Jahren bei uns dennoch nicht zu einer wesentlichen Konzentration der klinischen Ge- burtshilfe gekommen. Die Zahl aller Entbindungsstätten hat zwar abge- nommen von ca. 1800 auf 1400.

Noch stärker rückläufig war jedoch die Geburtenzahl. Die mittlere Ge- burtenfrequenz pro Klinik und Jahr beträgt heute bundesweit ca. 400.

Die entsprechenden Zahlen liegen in den skandinavischen Ländern et- wa um den Faktor 3 höher. Auch bei uns ist eine maßvolle Konzentration der klinischen Geburtshilfe dringend erforderlich. Nur dann wird es uns gelingen, den mühsam erreichten Standard zu sichern und eine dem jeweiligen Leistungsniveau der Me- dizin angepaßte Betreuung zu ge- währleisten. Dabei geht es nicht um die Errichtung möglichst vieler Großkliniken, sondern um die Auf- gaben der Geburtshilfe in den Kleinstabteilungen (Tabelle 2).

Eng verknüpft mit der Konzen- tration der Geburtshilfe ist das Pro- blem der flächendeckenden Versor- gung (Regionalisierung). Maximal- leistungen können nicht überall an- geboten werden. Erforderlich ist ein gegliedertes, aufeinander abge- stimmtes System von Krankenhäu- sern unterschiedlicher Versorgungs- stufen, wie es schon 1975 von der Deutschen Gesellschaft für Perina- tale Medizin entwickelt wurde. Das Konzept geht von geburtshilflich-gy- näkologischen Abteilungen in drei Krankenhaustypen aus:

a) Grund- und Regelversorgung, b) Schwerpunktversorgung, c) Zentral-/Maximalversorgung.

A-3342 (46) Dt. Ärztebl. 85, Heft 47, 24. November 1988

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SEITE FEHLT

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Tabelle 1: Geburten, Geburtenüberschuß und Geburtsort in der Bundesrepublik Deutschland 1950 bis 1980

1950 1965 1980

Zahl der Geborenen 830 953 1 057 229 663 965 Lebendgeborene

pro 1000 Einwohner Lebendgeborene pro 1000 Frauen (15 bis 45 Jahre) Geburtenüberschuß

pro 1000 Einwohner pro Jahr Anstaltsgeburten %

16,2 17,7 10,1

70 88 44

+ 5,7 + 6,2 — 1,5

43,0 83,3 99,3

Tabelle 2: Entbindungsstätten in der Bundesrepublik Deutschland 1954 bis 1982

1954 1965 1970 1975 1982

Anzahl 1865 1545 1464 1608 1429

Geburtenfrequenz

pro Jahr pro Klinik 593,5 684,2 559,5 376,4 354,8 Die drei Krankenhaustypen

sollten ihrer funktionellen Kapazität entsprechend unterschiedliche Auf- gaben in der geburtshilflichen Ver- sorgung übernehmen, zahlenmäßig in einem bestimmten Verhältnis zu- einander stehen und flächendeckend angeordnet sein.

Wandel im Berufsbild von Geburtshelfer und Hebamme

Die Verlagerung des Geburtsor- tes in die Klinik und der damit ver- bundene Übergang von der soge- nannten Hebammengeburtshilfe zur Geburtshilfe des Arztes haben nach- haltige Rückwirkungen gehabt auf die Berufsbilder aller in der Ge- burtshilfe Tätigen und auch auf die Ausbildungswege. Der praktische Arzt und Geburtshelfer gehört der Vergangenheit an, ebenso ist die freipraktizierende und alleinverant- wortlich Geburtshilfe treibende Hebamme zur Ausnahme gewor- den. Schwangerenbetreuung und Geburtshilfe sind fest in der Hand

der Frauenärzte. Die Beteiligung der praktischen Ärzte an den Vorsorgemaßnahmen im Rahmen der Mutterschaftsrichtlinien liegt nur bei 5 bis 7 Prozent. Dabei ist die praktische Geburtshilfe im wesent- lichen eine Aufgabe der Klinikärzte geworden. Von den ca. 6000 in frei- er Praxis tätigen Frauenärzten hat- ten 1984 nur etwa 1500 belegärzt- liche Genehmigungen. Das aber be- deutet, bundesweit wird der Anteil der in der praktischen Geburtshilfe Tätigen unter den niedergelassenen Kollegen weniger als 25 Prozent be- tragen.

Betroffen von dem Panorama- wandel in der Geburtshilfe sind auch

der studentische Unterricht und die Gebietsarztausbildung. Zum Basis- wissen eines Arztes, zu den prakti- schen Kenntnissen und Fähigkeiten, die von der Mehrzahl der Medizin- studenten nach dem Staatsexamen erwartet werden müssen, gehört heute nicht mehr die spezielle Ge- burtshilfe. Die neue Approbations- ordnung für Ärzte von 1970 trägt dieser Entwicklung Rechnung, der Schwerpunkt der praktischen Unter- richtung hat sich verlagert von der

speziellen Geburtshilfe und Gynä- kologie zur Ganzheits-, Präventiv- und Notfallmedizin in unserer Dis- ziplin. Insgesamt ist die Frauenheil- kunde ein kleines Unterrichtsfach geworden. Trotzdem muß die Re- form des studentischen Unterrichts auch in der Geburtshilfe zumindest vorerst als gescheitert gelten. Nach einer Umfrage an 28 Universitätskli- niken (1981) hat der Student nur an 17 Frauenkliniken Gelegenheit, Schwangere zu untersuchen, aktive Mithilfe bei Spontangeburten wird nirgends mehr praktiziert, und an

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Kliniken bekommt der Student im Rahmen des vorgeschriebenen Prak- tikums nicht einmal eine Geburt zu

sehen. Hauptgrund für diese Ausbil- dungsmisere ist das Massenstudium oder genauer gesagt das Mißverhält- nis zwischen Studentenzahlen und Lehrangebot.

Auch die bestehende Weiterbil- dungsordnung zum Frauenarzt wird den tatsächlichen Erfordernissen in keiner Weise gerecht. Das Dilemma besteht darin, daß es ein einheit- liches Berufsbild Frauenarzt heute nicht mehr gibt, alle Weiterbildungs- kandidaten aber durch den Engpaß eines gemeinsamen Curriculums ge- schleust werden. Die überproportio- nale Zunahme gerade an Gebiets- ärzten in unserer Disziplin hat ein neues Tätigkeitsfeld geschaffen, den frei praktizierenden Frauenarzt, ver- gleichbar dem amerikanischen Gy- naetrician. Daneben besteht nach wie vor der an der Klinik tätige Gy- näkologe und Geburtshelfer.

Die eingleisige Weiterbildungs- ordnung zum Frauenarzt kann die- ser Entwicklung nicht Rechnung tra- gen. Weder der frei praktizierende Gynäkologe noch der Kliniker unse- res Faches werden gezielt auf ihre spätere berufliche Tätigkeit vorbe- reitet. Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe hat angesichts dieser Weiterbildungsde- fizite schon 1976 und danach wieder- holt eine Zweistufenausbildung ge- fordert. Die Grundausbildung sollte berechtigen zur Tätigkeit in der ei- genen Praxis ohne Bettenversor- gung, die Zusatzausbildung die ge- samte

klinische Tätigkeit mit einbe- ziehen.

Grundlegende Umstellungen hat auch das Hebammenwesen er- Dt. Ärztebl. 85, Heft 47, 24. November 1988 (49) A-3345

(4)

1970 51,8 26,4 23,4

1971 50,5 25,3 23,1

1972 42,7 23,9 22,4

1973 45,9 23,0 22,7

1974 34,0 21,4 21,1

1975 39,6 19,3 19,7

1976 36,3 17,1 17,4

1977 34,0 14,9 15,4

1978 25,5 13,8 14,7

1979 22,0 12,6 13,6

1980 20,6 11,6 12,7

1981 19,4 10,5 11,6

1982 17,5 9,6 10,9

1983 11,4 9,3 10,2

1984 10,8 8,6 9,6

1985 10,7 7,9 9,0

1986 8,0 7,6 8,7

Tabelle 3: Leistungsziffern der Geburtshilfe in der Bundesrepublik Deutschland 1970 bis 1986

Müttersterblich- keit je 100 000 Lebendgeborene

perinatale Sterb- lichkeit je 1000

Geborene

Säuglingssterb- lichkeit je 1000 Lebendgeborene Jahr

fahren. Das betrifft sowohl die Zahl der Hebammen als auch ihr Berufs- bild Anfang des Jahrhunderts wa- ren im Deutschen Reich bei ca. 1,9 Millionen Geburten/Jahr 40 000 Hebammen tätig. Heute sind es in der Bundesrepublik bei knapp 600 000 Geburten nur noch etwa 5500. Gleichzeitig ist der Anteil der angestellten Hebammen von 10 Pro- zent auf ca. 80 Prozent gestiegen.

Tiefgreifend waren auch die struktu- rellen Veränderungen im Berufsbild der Hebammen Die moderne Ge- burtshilfe und Perinatologie ist frag- los auf Tätigkeitsfelder vorgestoßen, die jahrhundertelang unbestrittener Kompetenzbereich der Hebammen waren. Wenn die Umstellung den- noch im wesentlichen reibungslos verlief, so ist das vor allem dem ho- hen Maß an Einsicht und Beweglich- keit der Hebammenschaft zu verdan- ken. Dabei hat das Berufsbild sicher- lich nicht an Anziehungskraft verlo- ren, das belegt die große Nachfrage an Lehrstellen, verbunden mit außer- gewöhnlich guten Berufschancen.

Medikalisierung und Technifizierung der Geburtshilfe

Der unbestrittene Fortschritt in der Geburtshilfe wurde erkauft durch eine lückenlose Medikalisie- rung von Schwangerschaft und Ge- burt, verbunden mit einer techni- schen Revolution im Überwa- chungsmanagement. Schwangere und Gebärende sind zu Patienten geworden mit allen versicherungs- rechtlichen Konsequenzen. Voraus- setzung dafür waren eine entspre- chende Änderung der RVO und die weise Erkenntnis der Kostenträger, daß es zwischen Krankheit und Ge- sundheit beachtenswerte Nuancen gibt und daß sich auch in der Ge- burtshilfe eine sinnvolle Prophylaxe auszahlt.

Nicht minder eindrucksvoll als die Medikalisierung hat sich die Technifizierung vollzogen. Unsere Kreißsäle sind von ihrer personellen Besetzung und ihrer technischen Ausrüstung her mit Intensivüberwa- chungseinheiten vergleichbar. Mo- derne Geburtshilfe und Perinatolo-

gie sind zu einem Hochleistungssy- stem geworden, kompliziert, kosten- intensiv und anfällig. Der Prozeß dieser neuen industriellen Revolu- tion ist weder abgeschlossen noch bewältigt. Trotzdem gibt es derzeit keine vernünftige Alternative.

Es gehört zu den vornehmlichen Aufgaben des Geburtshelfers, in diesem dualistischen Konflikt zwi- schen biomedizinischer Technik und Psychoprophylaxe zu vermitteln.

Dabei sollten wir den verständlichen Wunsch der Schwangeren, nicht un- nötig in Abhängigkeit zu geraten und die Furcht, manipuliert zu wer- den, respektieren, gleichzeitig aber unsere Garantenstellung als Träger der Fachkompetenz energisch ver- treten. Bei gutem Willen aller Betei- ligten und gegenseitigem Respekt sollte eine familienorientierte Ge- burtshilfe auch unter klinischen Be- dingungen möglich sein.

Leistungsziffern der Geburtshilfe -

Qualitätskontrolle

Das stärkste Argument für eine moderne Geburtshilfe und Perinato- logie ist die überzeugende konti- nuierliche Verbesserung der ge- burtshilflichen Leistungsziffern (Ta- belle 3).

Die Müttersterblichkeit ist bei uns in den letzten 25 Jahren auf we- niger als ein Zehntel des Ausgangs- wertes zurückgegangen. Sie liegt heute unter 10/100 000 Lebendgebo- rene. Auch im internationalen Ver- gleich haben wir deutlich aufholen können. Unter den definierbaren Haupttodesursachen stehen Schock- zustände aller Art ganz im Vorder- grund, nach Infektionen und Sepsis, nach Blutungen, nach Thromboem- bolien.

(5)

Perinatal - Sterblichkeit 1976 - 1985

15—

10—

Perinatal Gestorbene je 1 000 Geborene

5 1 1 1 i 1 1 1 1 1 1

76 77 78 79 80 81 82 83 84 85

%o 20—

VO0

Säuglingssterblichkeit 1970 - 1985

20 — DDR

GB F

5 — 10 — 15 —

Im 1. Jahr Gestorbene je 1 000 Lebendgeborene

CH DK SF A.

A R GB DD D F DK CH

A 25 —

Abbildung 1: Perinatale Sterblichkeit im Vergleich europäischer Abbildung 2: Säuglingssterblichkeit im Vergleich europäischer

Länder 1976 bis 1985 Länder 1970 bis 1985

Noch eindrucksvoller als bei der Müttersterblichkeit ist der Rück- gang der perinatalen Mortalität und der Säuglingssterblichkeit. Vor al- lem die perinatalen Sterblichkeitszif- fern sind bei uns in den letzten Jah- ren drastisch abgefallen auf unter 10 pro tausend. Der Abstand zu ver- gleichbaren Ländern hat sich deut- lich verkürzt. Im internationalen Vergleich sind wir vom 14. auf den 4. Rang vorgerückt.

Die Entwicklung der Säuglings- sterblichkeit muß differenzierter ge- sehen werden. Insgesamt auch hier ein erfreulicher Rückgang, in den letzten zehn Jahren von etwa 20 auf 10 pro tausend, im europäischen Vergleich dagegen immer noch ent- täuschend, nur ein achter bis zehnter Rang.

Die Verbesserung der Säug- lingssterblichkeit ist bei uns vor al- lem auf eine signifikante Abnahme der sogenannten Frühsterblichkeit (1. bis 7. Lebenstag) zurückzufüh- ren. Die Spät- (8. bis 28. Lebenstag) und Nachsterblichkeit (29. Tag bis Ende des ersten Lebensjahres) ha-

ben sich dagegen nicht entscheidend verändert. Diese Analyse läßt ver- muten, daß bei uns Risikoneugebo- rene, insbesondere Frühgeborene wohl lebend geboren werden, viel- fach auch die Neugeborenenzeit überstehen, dann aber noch als Säuglinge versterben, möglicherwei- se infolge insuffizienter Primärver- sorgung. Eine weitere Verbesserung der Säuglingssterblichkeit wird nur über eine stärkere Konzentration zumindest der Hochrisikogeburten in Perinatalzentren zu erreichen sein. Zu diesen besonders gefährde- ten Kindern zählen vorrangig Früh- geborene unter 1500 Gramm Ge- burtsgewicht, insgesamt zirka zwei bis drei Prozent aller Geburten.

Nicht zu unterschätzen ist der Einfluß von Qualitätskontrollstu- dien auf den geburtshilflichen Lei- stungsstandard. Hier hat sich mit den Perinatalerhebungen in den letzten zehn Jahren ein beachtliches System etabliert,

beginnend mit der

Münchner Perinatalstudie 1975 und abschließend mit der Berliner Peri- natalerhebung 1986.

Verrechtlichung und Diskriminierung der Geburtshilfe - Defensivmedizin

Parallel mit der Verbesserung des Leistungsstandards ist es zu ei- ner wachsenden Diskriminierung der Geburtshilfe in Rechtsprechung, Medien und Öffentlichkeit gekom- men. Eine paradoxe Situation ist entstanden: Das medizinische Risi- ko für Mutter und Kind ist heute niedriger als je zuvor und das foren- sische Risiko für den Geburtshelfer höher denn je. Für diese Entwick- lung gibt es vielerlei Gründe.

Schwangerschaft und Geburt sind heute nur noch im Grenzfall iden- tisch mit dem, was sie früher im Re- gelfall waren: ein zumindest poten- tiell lebensbedrohendes Ereignis.

Folglich hat sich der Gesundheits- anspruch und die Selbstverständlich- keit,

mit der er vorgetragen wird,

beträchtlich erhöht. Damit gewach- sen ist auch die Wahrscheinlichkeit von Enttäuschungen bei Nichterfül- Dt. Ärztebl. 85, Heft 47, 24. November 1988 (55) A-3349

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lung der Erwartung. Perinataler Tod oder Schädigung gehen gleichsam nicht mehr in einer größeren Zahl unter, sondern erlangen als Einzel- fall ungewöhnliches Gewicht. Für das gesteigerte Anspruchsdenken sind wir Ärzte selbst mitverantwort- lich. Unsere eigenen Erfolge haben uns vielfach dazu verleitet, den Ein- druck des „Alles-Machbaren" zu erwecken. Auch bieten unsere kom- plizierter gewordenen Eingriffe und die biomedizinische Technik größe- re Angriffsflächen im forensischen Bereich.

Der zunehmende Einfluß von Rechtsprechung, Medien und Öf- fentlichkeit auf unser geburtshilf- liches Handeln ist unverkennbar.

Die Rechtsprechung hat uns ein gan- zes Arsenal von Pflichten beschert zur ärztlichen Sorgfalt, zur Aufklä- rung, zur Organisation und Doku- mentation. Die zum Teil überzoge- nen Anforderungen führen zur Ver- unsicherung und bahnen den Weg für medizinisch unsachliche Ent- scheidungen. Bei Verletzung der Sorgfaltspflicht drohen Schadenser- satzprozesse und Strafverfahren.

Das genaue Ausmaß des forensi- schen Risikos des Arztes läßt sich nur schätzen. Sicher haben Ermitt- lungsverfahren und Verurteilungen insgesamt zugenommen bei unpro- portional hohem Anteil gerade der Geburtshilfe. Unter den Vorwürfen überwiegen Fragen zur Geburtslei- tung, insbesondere der Wahl des Geburtsmodus, zur Geburtsüberwa- chung einschließlich der Befundin- terpretation und -dokumentation, sowie zur Aufgabendelegation (hori- zontale und vertikale Arbeitstei- lung).

Auch die Massenmedien haben zur allgemeinen Verunsicherung und Diskriminierung der Ärzte bei- getragen. Die Berichterstattung über Schadensfälle oder Rechtsver- fahren haben häufig sensationellen Charakter und führen nicht selten - zumindest in der allgemeinen Mei- nungsbildung - zu einer Vorverur- teilung der angeschuldigten Ärzte, unabhängig vom endgültigen Aus- gang des Prozesses.

Die öffentliche Meinung wird auch geprägt von Aktivitäten durch Eltern und Interessengemeinschaf-

ten. Das kann hilfreich sein, soweit diese Einrichtungen geeignet sind, Eltern geburtsgeschädigter Kinder zu unterstützen und darüber hinaus dazu beitragen können, Behand- lungsfehler in Zukunft zu vermei- den. Bedenklich ist es jedoch, wenn durch pseudowissenschaftliche Dar- stellung und Beweisführung Angst und Panikmache betrieben wird mit Verunglimpfung eines ganzen Be- rufsstandes.

Rechtsprechung, Medien und Öffentlichkeit können einen positi- ven Einfluß auf die Geburtshilfe ausüben, dort wo sie behilflich sind, den Leistungsstandard zu sichern, die Sorgfaltspflicht zu erhöhen und Forderungen zur Verbesserung der geburtshilflichen Versorgung durch- zusetzen. Der Einfluß ist negativ zu werten, wenn er zur Verunsicherung führt, die Vertrauensbasis zwischen Arzt und Patienten gefährdet und den Weg in eine Defensivmedizin bahnt. Im Vordergrund stehen darf auch in Zukunft nicht die Angst vor möglichen forensischen Konsequen- zen, sondern die Sorge um die ärzt- lich richtige Entscheidung.

Ausführlich in: Der Frauenarzt 29, 5 (1988) 565-580

Literatur

1. Elser, H.; L. Badmann: Unvorhergesehene Geburtsrisiken nach risikofreier Schwanger- schaft. Geburtsh. u. Frauenheilk. 42 (1982) 431-435

2. Eskes, T. K. A. B.: Das Risiko der Hausge- burt. Arch. Gynecol. 235 (1983) 624-631 3. Hickl, E.-J.: Wie beeinflussen Rechtspre-

chung, Medien und Öffentlichkeit unsere Geburtshilfe? Arch. Gynecol. 242 (1987) 640 4. Kubli, F.: Überlegungen zum Kosten-Nut-

zen-Problem der Intensivgeburtshilfe. Arch.

Gynecolg. 228 (1979) 96-103

5. Silver, H. K.; E. L. Makowski; P. R.

McAtee; R. D. Krugman: Utilization of Gy- niatricians as Primary Health Care Providers for Women. Journal of Reprod. Medicine 22 (3) (1979) 157-160

6. Wulf, K.-H.: Gliederung der geburtshilf- lichen Versorgung in den Krankenhäusern.

Deutsches Ärzteblatt 73 (1976) 282-285 7. Wulf, K.-H.: Die Bedeutung der Gynäkolo-

gie und Geburtshilfe im studentischen Un- terricht. Frauenarzt Heft 3 (1983) 11-15

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med.

Karl-Heinrich Wulf Direktor der

Universitäts-Frauenklinik Josef-Schneider-Straße 4 8700 Würzburg

FÜR SIE REFERIERT

Die Chancen nach brusterhaltender Operation

Von 1245 Patientinnen nach Brustkrebsoperation mit brusterhal- tender Methode und Röntgenbe- strahlung im Stadium I und II wurde bei 118 Patientinnen später eine zweite Operation aufgrund von au- genscheinlich isolierten Rezidiven in der behandelten Brust erforderlich.

52 dieser 118 Patientinnen wurden - alternativ zur konventionellen Brustabsetzung - zur erneut brust- erhaltenden Behandlung durch großzügige Exzision - mit oder ohne Achsel-Sektion - ausgewählt.

Bei einer Nachsorgeperiode von im Mittel 6 Jahren lag die statistische karzinogenspezifische Überlebens- zeit (Kaplan-Meier) nach Behand- lung der Rezidive bei 79 Prozent nach fünf Jahren und 64 Prozent nach zehn Jahren. Von 12 Patientin- nen, bei denen sich zweite lokale oder regionale Rezidive entwickel- ten, konnten 10 Patientinnen durch eine weitere Operation behandelt werden.

Die Autoren schließen hieraus, daß eine keilförmige Exzision des Tumorrezidivs eine adäquate Alter- native zur Brustabsetzung bei kura- tiver Behandlung isolierter mobiler Brusttumorrezidive von 2 cm im Durchmesser oder kleiner und ohne Zeichen schnellen Wachstums dar- stellt. Jhn

Kurtz, J. M., et al.: Results of Wide Exci- sion for Mammary Recurrence After Breast-Conserving Therapy, Cancer 61 (1988), 1969-1972.

Dr. Jean-Maurice Spitalier, Institut Paoli- Calmettes, BP 156, F-13273 Marseille, Frankreich.

A3350 (56) Dt. Ärztebl. 85, Heft 47, 24. November 1988

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