• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Freiwilligkeit und Zwang in der psychiatrischen Behandlung" (20.11.1998)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Freiwilligkeit und Zwang in der psychiatrischen Behandlung" (20.11.1998)"

Copied!
4
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

A-2990

M E D I Z I N

(50) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 47, 20. November 1998 ie Sonderstellung der psy-

chisch Kranken innerhalb des Gesundheitswesens beruht nicht auf einer statistisch erhöhten Gefährlichkeit der psychisch Kran- ken. Die Rate derjenigen unter ihnen, welche gefährliche Straftaten began- gen haben, ist nicht größer als die ent- sprechende Rate bei Nichtkranken (4, 6). Die Besonderheit psychiatrischer Patienten rührt vielmehr daher, daß diese Kranken infolge ihres veränder- ten Erlebens und Verhaltens die Be- ziehungen zu ihren Nächsten meist schwerer – und für sie selber folgen- reicher – belasten als körperlich Er- krankte.

Hierfür bedarf es keineswegs psychotischer Erregungszustände vom Ausmaß einer schizophrenen Episode. Alkoholische Räusche zer- stören Familien; ein andauernder ma- niformer Redefluß erschöpft die Mit- bewohner schon durch den Schlafent-

zug allein; tägliche stundenlange Waschrituale Zwangskranker führen zum Wegzug des Lebenspartners; die erstarrte Unzugänglichkeit eines de- pressiven Familienmitgliedes bringt gerade diejenigen Angehörigen zur Verzweiflung, die sich ihm am näch- sten verbunden fühlen. Indessen emp- finden sich viele psychisch schwer ver- änderte Menschen selber keineswegs als krank, und nicht wenige von ihnen verwahren sich gegen eine psychiatri- sche Behandlung.

Beim wem suchen psychisch Erkrankte freiwillig Hilfe?

Die Antworten der repräsentati- ven Bevölkerungsumfragen lauten übereinstimmend: Für den Fall einer künftigen psychischen Störung denkt man zuerst an das Gespräch mit einer

vertrauten Bezugsperson und sodann bald einmal an den Hausarzt. Der Facharzt für Psychiatrie dagegen figu- riert nach einigen Zwischenlösungen ziemlich am Schluß der Rangliste (8).

In der Tat begegnen die niederge- lassenen Allgemeinpraktiker (eben- so wie die Internisten im Allgemein- krankenhaus) bei den Überweisun- gen psychisch Kranker an die psych- iatrischen Kollegen oft erheblichen Widerständen; eine Schwierigkeit, die sie bei ihren Überweisungen soma- tisch Kranker – beispielsweise an den Kardiologen oder an den Dermatolo- gen – nicht kennen.

Dieses Freiwilligkeits- oder Complianceproblem der psychiatri- schen Versorgung zeigt weltweit eine derartige Ausprägung, daß die WHO es aufgegeben hat, auf einen Sinnes- wandel der Bevölkerung gegenüber der Psychiatrie zu warten. Vielmehr empfiehlt uns die höchste Gesund- DIE ÜBERSICHT

Freiwilligkeit und

Zwang in der psychiatrischen Behandlung

Klaus Ernst

Schwere, rezidivierende psychische Krankheiten zerstören auf die Dauer das soziale Netz, auf welches die erkrankte Person angewiesen ist. Die Fähigkeit des Kranken, mit ei- ner ambulanten psychiatrischen Behandlung zusammen- zuarbeiten, nimmt jedoch mit steigender Krankheitsschwe- re tendenziell ab. Dadurch kommt es zu Notzuständen, welche zur Zwangseinweisung führen. Wie der Schweizer Autor darstellt, deckt sich der formalrechtliche Zwang aber nicht immer mit der subjektiven Einstellung: Manche formal Zwangseingewiesenen akzeptieren die Klinik, und manche formal freiwillig Eingetretenen fühlen sich zu Un- recht hier. Deshalb erhalten alle Eintretenden die obligate schriftliche Rechtsmittelbelehrung mit der Anschrift des

zuständigen Rekursgerichts. Notfall- mäßige Zwangsmaßnahmen wie Iso-

lierungen, Fixierungen und sedierende Medikationen sind dokumentationspflichtig und beschwerdefähig. Ihre Inzi- denz sinkt mit günstigeren Personalraten und mit abneh- mender Überfüllung der Akutstationen. Dagegen führt die Überlastung psychiatrischer Stationen zu vorzeitigen Ent- lassungen. Dies fördert die Zunahme der psychisch kran- ken Wohnungslosen in den Großstädten und die Ver- schickung chronisch Kranker in agglomerationsferne, mangelhaft kontrollierte Heime.

Schlüsselwörter: Zwangseinweisung, Zwangsbehandlung, Notfallmaßnahmen, richterliche Kontrolle, Heimbereich

ZUSAMMENFASSUNG

Voluntary and Compulsory Therapy in Psychiatry Severe and recurring psychiatric disorders finally destroy the social network the patient depends on. With increasing severity of illness, the ability to collaborate with psychiatric treatment in an ambulatory setting tends to diminish. Thus, urgencies arise that lead to compulsory hospitalization.

However, some patients who were hospitalized by constraint accept the clinic, whereas some do not. This is why all those admitted receive a written information with the address of the law court where they may ask for an injunction. Emer- gency measures such as isolation, constraint, or urgent

medication must be recorded by the staff and are open to subsequent appeal. Their incidence

decreases with better rates of staff and less overcrowding.

On the other hand, overburdened psychiatric departements tend to discharge early and, thus, contribute to the number of the homeless mentally ill in the cities. Many of the chron- ically ill are sent to remote homes with lack of medical staff and public control.

Key words: compulsory hospitalization,

coercive treatment, emergency measures, judicial control, psychiatric department

SUMMARY

D

(2)

heitsbehörde, die psychiatrische Fort- bildung der ärztlichen Primärversor- ger zu verbessern, und zwar durch psychotherapeutische, psychosoziale und psychopharmakologische Trai- ningsprogramme (9).

Man kann die Sonderstellung der psychischen Krankheiten kultur- geschichtlich verstehen. Die Auffas- sung, daß erhebliche psychische Störungen Krankheiten sind, hat sich erst im Laufe der letzten Jahr- hunderte verbreitet. Und die Ent- wicklung von hinreichend zuverlässi- gen und zumutbaren Behandlungs- methoden ist zur Hauptsache inner- halb unseres Jahrhunderts erfolgt.

Aber auch heute und in absehbarer Zukunft können die Ärzte nicht alle psychisch Kranken mit ihrem Ein- verständnis ambulant oder zu Hause behandeln.

Zwangseinweisungen

Wie die Schweiz kennen alle ent- wickelten Länder heute gesetzliche Kontrollen der Zwangseinweisungen psychisch Kranker und richterliche Rekursintanzen für deren Beschwer- den. Diese Gesetze gewährleisten das demokratische Prinzip der Gewalten- teilung zwischen Verwaltung und Ju- stiz. In der Schweiz verlangt Art. 397 des Zivilgesetzbuches, daß psychisch Kranke nur insofern und nur so lange hospitalisiert werden können, als ih- nen „die nötige persönliche Fürsorge nicht anders erwiesen werden kann“.

Dabei soll auch die Belastung berück- sichtigt werden, welche der Patient für seine Umgebung bedeutet. Jeder Eintretende muß schriftlich über sei- ne richtliche Rekursinstanz infor- miert werden. Diese hat rasch zu ent- scheiden. Das deutsche Recht regelt die Unterbringung betreuter Perso- nen in § 1906 BGB und in Landes- gesetzen über Hilfen und Schutzmaß- nahmen für psychisch Kranke (Psych- KG).

Die Statistiken über Zwangsein- weisungen offenbaren nun erstaunli- che Unterschiede zwischen den Insti- tutionen und Regionen. Es leuchtet zwar ein, daß die Raten in den neuen psychiatrischen Abteilungen mit ih- rer guten Integration ins Allgemein- krankenhaus tendenziell tiefer liegen

als in den großen Fachkrankenhäu- sern mit ihrem spezifischen Image.

Aber es läßt sich nicht erklären, wie- so sich die Raten in Deutschland zwi- schen 2,8 Prozent in Bremen und 44,8 Prozent in West-Berlin bewegen (7);

und warum in der Schweiz die ent- sprechenden Werte der Kantonalen Kliniken von weniger als 5 bis zu über 50 Prozent streuen – und dies, obwohl der Vergleich sich auf Regi- onskliniken mit voller Aufnahme-

pflicht auch für schwierige Kranke beschränkt (2).

Für die Schweiz liegt des Rätsels Lösung in den dezentralen (kantona- len) Ausführungsgesetzen und in de- ren unterschiedlicher Anwendung:

Wo die Kliniken diejenigen Eintreten- den, welche ihre Unterschrift auf dem Freiwilligenschein verweigern, der Betreuungsbehörde ihrer Wohnge- meinde melden müssen, unterschrei- ben fast alle Patienten; sie möchten keinesfalls in ihrer Gemeindeverwal- tung aktenkundig werden. Wo hinge- gen die Freiwilligkeitserklärung nur solchen Eintretenden vorgelegt wird, die kein genügendes ärztliches Über- weisungszeugnis mitbringen, wird nur die Minderzahl als formal freiwillig registriert.

Der Rekursrichter

Der Anteil der Aufgenommenen, welche im Aufnahmezimmer ihre Kli- nikbehandlung als unnötig bis unver- hältnismäßig bezeichnen, liegt inner- halb repräsentativer Stichproben et- wa zwischen einem Viertel und zwei Fünfteln aller Eintretenden. Aber nur ein Bruchteil dieses Bruchteils wen- det sich in der Folge an das Rekursge- richt, obwohl dessen Anschrift von

Gesetzes wegen jedem Aufgenomme- nen schriftlich mitgeteilt worden ist.

Die meisten Unzufriedenen verhan- deln lieber mit dem Arzt als mit dem Richter. Auch beginnen viele von ih- nen schon in den ersten Tagen, den Klinikaufenthalt weniger negativ zu sehen (1).

Das richterliche Verfahren für Unterbringungsmaßnahmen ist nach deutschem Recht in §§ 70 ff. des Ge- setzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG) geregelt. Es bestimmt die Zustän- digkeit des Vormundschaftsgerichts für Unterbringungsmaßnahmen, die mit Freiheitsentzug verbunden sind, die Rechte der Betroffenen, die An- hörung von Verwandten und Bezugs- personen, die Pflicht zur Einholung A-2992

M E D I Z I N DIE ÜBERSICHT

(52) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 47, 20. November 1998

Jean Claude 1964: Wiedergegeben ist der ängstliche Patient (links) gegenüber seinem strengen, paternali- stisch empfundenen Arzt (rechts). Die weiße Fläche zwischen den beiden Personen unterstreicht die Schwierig- keit des Kontakts.

Aus: Alfred Bader, Leo Narratil; Zwischen Wahn und Wirklichkeit – Kunst-Psychose-Kreativität. Centre d’ études de l’expression plastique. Psychiatrische Universitätsklinik Lausanne

(3)

A-2994

M E D I Z I N

(54) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 47, 20. November 1998 eines Sachverständigengutachtens re-

gelmäßig durch einen Arzt für Psych- iatrie, jedenfalls durch einen Arzt mit Erfahrungen auf dem Gebiet der Psychiatrie, die Möglichkeit vorläu- figer Maßnahmen sowie Rechtsbe- helfe.

In der Schweiz haben Angehöri- ge und (definierte) Nahestehende des Rekurrenten aufgrund einer höchstrichterlichen Präzisierung des oben erwähnten Gesetzes (Schweize- risches Bundesgericht 1996) das Recht, vom Rekursrichter innerhalb der gesetzlichen Frist angehört zu

werden (nicht aber natürlich, seinen Entlassungsentscheid anzufechten).

Diese Bestimmung liegt letztlich im Interesse des Kranken. Entlassungs- verfügungen, welche Rekursrichter bei mangelhafter Kenntnis des sozia- len Umfelds der Patienten erlassen, sind geeignet, das familiäre Netz, das den Kranken bisher noch knapp ge- tragen hatte, durch erneute vorzeiti- ge Überlastung definitiv zu sprengen.

Man weiß aber, daß chronisch psy- chisch Kranke sich kaum je ein neues Beziehungsnetz knüpfen können, wenn das alte einmal zerstört ist (2).

DIE ÜBERSICHT

Notfallmäßiger Zwang in der Klinik

Isolierungen (Einschließen im Einzelzimmer) und Fixierungen (An- binden am Bett) sind keine „Thera- pien“. Solche Notmaßnahmen wer- den nur angewendet, wenn alle ande- ren zwangsfreien Mittel gegen Tät- lichkeiten und andere untragbare Verhaltensstörungen versagt haben.

Zwangsmedikationen erleben inter- national immerhin fünf bis 15 Prozent aller Aufgenommenen während ihres Aufenthaltes in Regionskliniken mit unbeschränkter Aufnahmepflicht (3).

Alle Zwangsmaßnahmen sind grundsätzlich beschwerdefähig. Sie müssen vom Klinikpersonal nach Ur- sache, Art und Dauer dokumentiert werden. Angehörigen gegenüber soll man sie nicht aktiv verheimlichen. Es existieren auf diesem Gebiet geschrie- bene und ungeschriebene Standards.

So soll kein Patient außerhalb der Hörweite des Personals isoliert wer- den; mit dem fixierten Kranken hat ei- ne Pflegeperson im Gesprächskon- takt zu bleiben; und nicht nur während, sondern auch nach jeder Zwangsinjektion soll der Arzt mit dem Patienten das Gespräch über das Vorgefallene suchen (1).

Hohe Raten an Notfallmaßnah- men beweisen nicht schon an und für sich ein Fehlverhalten des Klinikper- sonals. Die Häufigkeit der Eingriffe korreliert mit niedrigem Personal- schlüssel, kleiner Stationsfläche pro Patientenzahl und – weil sich Tätlich- keiten am häufigsten innerhalb der er- sten Kliniktage der Eingewiesenen er- eignen – mit hoher Patientenrotation.

Die Überfüllung der Stationen hat seit den Anfängen der Psychiatriege- schichte das Elend der Anstalten ge- prägt und die Abscheu vor ihren In- sassen gefördert. Wir kennen solch extreme Zustände nicht mehr. Eher droht unseren Städten die Zunahme psychisch kranker Wohnungsloser, die aus überlasteten Stationen vorzei- tig entlassen werden mußten.

Notfallüberdauernde stationäre

Zwangsmedikation

Die Compliance des Patienten stellt sich keineswegs immer schon mit seiner Beruhigung ein. Von wel- chem Tag an sie wirklich auf Freiwil- ligkeit beruht, ist nicht immer leicht zu erkennen. Nichtpsychiater führen die „Duldung“ der Medikation auf ei- ne persönlichkeitszerstörende Wir- kung der Neuroleptika zurück. Sie empfehlen den Patienten, im urteils- fähigen Zustand ein anwaltlich be- glaubigtes Patiententestament zu er- stellen und darin jede psychopharma- kologische Behandlung in der Klinik zu verbieten. Solche Verfügungen sind rechtsgültig. Sie vermögen aller- dings Notfallmaßnahmen nicht zu verhindern.

Für den klinischen Praktiker lau- tet der Auftrag, dem Kranken inner- halb seiner Freiheitsrechte die langfri- stig besten Chancen zu ermöglichen.

Unverhältnismäßiger Zwang gegen- über dem Urteilsunfähigen zerstört dessen spätere Compliance, vorzeiti- ger Behandlungsverzicht sein soziales Beziehungsnetz. Die Zustimmung ei-

ner Betreuungsbehörde zur Zwangs- behandlung kann den Arzt zwar vor Strafe, nicht aber vor dem therapeuti- schen Dilemma bewahren.

„Freiwillige

Zwangsmedikation“

im ambulanten Maßregelvollzug

Es handelt sich hier um die Mög- lichkeit, rückfallgefährdeten psy- chisch kranken Straftätern die lang- dauernde strafrechtliche oder fürsorg- liche Freiheitsentziehung zu erlassen, solange sie (nach hinreichender sta- tionärer Vorbereitung) eine ambulant kontrollierte Dauermedikation akzep- tieren. Das Verfahren eignet sich bei- spielsweise für bipolar Erkrankte, die ausschließlich während ihrer manifor- men Phasen gewalttätig geworden, bisher aber der Rezidivprophylaxe ferngeblieben sind. Ein solcher ambu- lanter Maßregelvollzug setzt eine ge- wisse soziale Restintegration des Pati- enten voraus, die sein Untertauchen unwahrscheinlich macht.

Für diesen „ambulanten Zwang“

scheinen in den meisten europäischen Staaten klare gesetzliche Grundlagen noch zu fehlen. Nach deutschem Recht sind sie auch erst ansatzweise gere- gelt im Strafgesetzbuch, der Strafvoll- zugsordnung und in Maßregelvoll- zugsgesetzen der Länder.Einschlägi- ge katamnestische Erfahrungen hier- zu werden dagegen aus den USA mit- geteilt (1). Sie belegen die verminder- te Rückfallkriminalität, die selteneren Rehospitalisationen und eine deutlich verbesserte Lebensqualität der Be- troffenen.

Zwangsmaßnahmen im Altenpflegeheim

Abschließen von Türen, zwangs- weise Fixation im Bett oder am Nachtstuhl zur Sturzprävention und medikamentöse Sedierung erfolgen bei verwirrten und dementen Kranken in der Regel zu deren eigenem Schutz.

Anhand der Pflegedokumentation – soweit eine solche existiert – bleibt aber oft unklar, warum die Maßnah- men so lange andauern, ohne daß an-

(4)

A-2996

M E D I Z I N

(56) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 47, 20. November 1998 dere Problemlösungen versucht wor-

den sind. Es wird deutlich, daß hier weder die öffentliche Meinung noch eine rechtliche Kontrolle Druck aus- übt. Daß die psychiatrischen Patien- tenrechte von den Gesetzen altersun- abhängig formuliert worden sind, hat die Praxis wenig beeindruckt.

Das hat zunächst banale Gründe:

Altershirnkranke sind meist nicht in der Lage, einen Beschwerdebrief zu schreiben; und die vom Gesetz für sie vorgesehenen Betreuer sind weder zu finden noch zu bezahlen. Wo noch Angehörige vorhanden sind, reicht deren Sachkenntnis nur selten zu be- gründeter Kritik aus. Vor allem de- pressive Alterskranke bleiben trotz ihrer guten Ansprechbarkeit für ne- benwirkungsarme Antidepressiva un- behandelt, weil sie beim psychiatrisch ungeschulten Personal wie bei ihren Angehörigen als „abgebaut“ und „le- bensmüde“ gelten. So entstehen die Zustandsbilder vom „unwürdigen Le- ben“, welche in der neuen Euthana- siedebatte ihre irreführende Wirkung entfalten. Es sind die Kosten eines kontrollierten, gesetzeskonformen gerontopsychiatrischen Pflegestan- dards, die seiner Verwirklichung im Wege stehen.

Abnehmender Zwang, zunehmende Abwendung?

Daß die erste Hälfte der Frage zu bejahen ist, schließe ich aus den Fort- schritten der Patientenrechte und aus der Entwicklung des mancherorts be- reits institutionalisierten „Trialogs“

zwischen Patienten, Angehörigen und Professionellen. Mein Verdacht, daß auch die zweite Hälfte mindestens ver- mehrte Beachtung verdient, stützt sich unter anderem auf die häufiger wer- denden Klagen der klinischen Akut- psychiater, daß sie ihre neuen Langzeit- patienten nicht nur nicht mehr selber versorgen können, sondern in gemein- deferne Heimbereiche teilweise unbe- kannter Qualität verlegen müssen.

Solche Klagen sind zwar psychiatrie- geschichtliche Klassiker, aber ihr er- neutes Aufleben läßt aufhorchen.

Die Folgen mangelhafter Kontrol- le der privaten und gemeindefernen Krankenheime sind nicht nur in den USA ein Dauerthema. Während sich in den entwickelten Ländern die psycho- therapeutischen und pharmakologi- schen Behandlungsmöglichkeiten für die leichteren und akut Kranken wei- terhin verbessern und differenzieren, entschwinden die „Pflegefälle“ aus Ko- stengründen dem Gesichtskreis von Psychiatern und Richtern.

Die Verwirklichung des Patien- tenrechts auf Behandlungsverzicht kostet die Solidargemeinschaft weni- ger als die Verwirklichung des Patien- tenrechts auf Behandlung. Es wird prioritär behandelt, wer so gesund ist, daß er dies durchsetzen kann, und so wohlhabend, daß er es auch zu bezah- len vermag. Es ist zwar gut, die Ver- drängung der Solidaritätsidee durch das Prinzip des freien Marktes genau zu beschreiben. Aber es ist noch bes- ser, die solidaritätsfördernden Ideen der umverteilten Arbeit und des neu- en Generationsvertrags aktiv zu un- terstützen.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1998; 95: A-2990–2996 [Heft 47]

Literatur

1. Ernst K: Praktische Klinikpsychiatrie. 3.

Auflage. Stuttgart: Kohlhammer, 1995.

2. Ernst K: Psychiatrische Versorgung heute.

Konzepte, Konflikte, Konsequenzen.

Stuttgart: Kohlhammer, 1998.

3. Finzen A, Haug HJ, Beck A, Lüthy D: Hil- fe wider Willen. Zwangsmedikation im psychiatrischen Alltag. Bonn: Psychiatrie- Verlag, 1993.

4. Häfner H, Böker W: Crimes of violence by mentally abnormal offenders. Cambridge:

Cambridge University Press, 1982.

5. Hamid WA, Wykes T, Stansfeld S: The social disablement of men in hostels for homeless people. Br J Psychiatry 1995;

166: 806–812.

6. Modestin J, Amman R: Mental disorder and crimincal behaviour. Br J Psychiatry 1995; 166: 667–675.

7. Riecher-Rösler A, Rössler W: Die Zwangseinweisung psychiatrischer Patien- ten im nationalen und internationalen Vergleich – Häufigkeiten und Einflußfak- toren. Fortschr Neurol Psychiat 1992; 60:

375–382.

8. Rössler W, Salize HJ, Häfner H: Gemein- depsychiatrie. Grundlagen und Leitlinien.

Planungsstudie Luxemburg. Innsbruck, Wien: Verlag Integrative Psychiatrie, 1993.

9. Sartorius N, Eisenberg I, Andrews G et al.:

The scientific basis for treatment in psy- chiatry. Bern: Huber, 1992.

10. Schweizerisches Bundesgericht: Urteil vom 19. 3. 1996 betr. Fürsorgerische Frei- heitsentziehung. Lausanne, 1996.

Anschrift des Verfassers Prof. Dr. med. Klaus Ernst Wiesenstraße 18

CH-8008 Zürich DIE ÜBERSICHT/FÜR SIE REFERIERT

Die kursiv eingeschobenen Ergänzungen be- treffend das deutsche Recht verdanken Her- ausgeber und Autor Herrn Dr. iur. U. Kirch- hoff, Hannover.

Zur Vermeidung der durch nicht- steriodale Antirheumatika (NSAR) hervorgerufenen Gastropathie wird in zunehmendem Maße der Proto- nenpumpenhemmer Omeprazol ein- gesetzt, nachdem die ulkusprotektive Wirkung der Substanz von der Ar- beitsgruppe um Hawkey in umfang- reichen Studien nachgewiesen wor- den war. Bei 500 Millionen Verord- nungen von nichtsteroidalen Antir-

heumatika pro Jahr weltweit ist natürlich die Frage von herausragen- dem Interesse, ob der Protonenpum- penblocker beim Arzneimittelabbau über das Zytochrom P 450 mit den nichtsteroidalen Antirheumatika in- teragiert.

Die Autoren untersuchten die Plasmakonzentration der nichtste- roidalen Antirheumatika Diclofenac (100 mg), Naproxen (500 mg) und

Piroxicam (10 mg) mit und ohne die gleichzeitige Gabe von 20 mg Ome- prazol. Eine wechselseitige Beein- flussung der Pharmakokinetik ließ sich ausschließen, das heißt, die Bio- verfügbarkeit der nichtsteroidalen Antirheumatika wird durch eine Magenschutztherapie mit Omepra- zol nicht beeinflußt. w Andersson T, Bredberg E, Naesdal I, Wilson I: Lack of drug-drug interaction between three different non-steroidal antiinflammatory drugs and omeprazole.

Eur J Clin Pharmacol 1998; 433: 1–5.

Clinical Research & Development, Astra Hässle AB, 43183 Mölndal, Schweden.

Keine Interaktion zwischen Omeprazol

und Diclofenac, Naproxen und Piroxicam

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Solange nicht mehr Pa- tienten in die Ausbildung einbezo- gen werden können, sollte durch ei- ne deutliche Reduktion die Zahl der Studenten den Ausbildungsmöglich- keiten

In der Regel fallen diese Patienten jedoch auch durch sonographische Verän- derungen oder eine persistierende TSH-Suppression auf, so daß die Szintigraphie im Verdachtsfall

Die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen in Deutschland ist grö- ßer als in vielen anderen Industriestaaten - für eines der reichsten Länder der Welt ein Armutszeugnis.. Es zeigt

Haben die kantonalen Vertreter im VR die im Zusammenhang mit der Erweiterung des Parkings unbefriedigende Erschliessung ernsthaft hinterfragt und allfällige Ideen für einen

Abbildungsformen können zumeist als ‚Hybride‘ begriffen w erden, in denen Deutungszusammenhänge verschiedener kultureller Praktiken einflossen.“[11] Hier w ird deutlich,

Das KBV-Gutachten belegt außerdem, dass die drei überwiegend psychotherapeutisch tätigen Berufsgruppen Patienten mit vergleichbaren psychischen Erkrankungen behan- deln. Bei

September 2016 geschrieben: «Nach bald sieben Amtsjahren möchte ich meinen Sessel an eine jüngere Kraft weitergeben.» Ueli ist seit dem 1. Januar 2014 Gemeindepräsident

Schwe- re Verbrennungen sollten daher zwingend in einer spezialisierten Ein- richtung behandelt werden, wobei sich der Schweregrad nicht allein am Verbrennungsausmaß, sondern auch