630
Zum Koran.
Von Julius Wellhausen.
1.
I o .
Der Gottesname ^♦s»^! wird allgemein „der Barmherzige'
übersetzt und für ein jüdisch-aramäisches Fremdwort angesehen.
Über die Art der Bildung scheint aber keine Klarheit zu herrschen.
5 Wenn das Wort „barmherzig" bedeutet, kann es nicht vom Feal
herkommen, welches vielmehr „lieben" bedeutet. Auch kommt die
Endung än für das nomen agentis beim Peal nicht vor. Vielmehr
ist ynr^ = "iipü'!"?- 1™ Syrischen fehlt allerdings der Vorsatz 72
des nomen agentis nur bei vierlautigen Wurzeln, ausgenommen pani
10 selbst. Aber im palästinisch-jüdischen Aramäisch fehlt er auch wohl
bei dreilautigen, die ja im Peal eigentlich den vierlautigen äquiva¬
lent sind. Z. B. '{iz-l „Tröster" (Menahem; christlich-palästinisch ty> TtagcxAijTos) ; yi-i? „Erklärer", ■^"0 „Heiratsvermittler", bei den deutschen Juden entstellt in das neutral gebrauchte „Schad- 15 eben". Dazu kommt noch "Kip fijAcorijs; im Neuen Testament
ist aus Kavaavalog geworden, ebenso wie aus NC'^D OuaiGuioq.
Ich habe nur diese Beispiele zur Hand; es werden sich vermutlich noch mehr auftreiben lassen.
2.
«0 In den Asma'ijät ed. Ahlwardt Nr. 20 steht ein dem Juden
Samaual zugeschriebenes Gedicht, das wegen seines Verhältnisses
zum Koran Beachtung verdient. Ich übersetze es und füge einige
Bemerkungen in Klammern bei:
* „Als Samentropfen bin ich seiner Zeit entstanden; es wurde
25 ihm seine Bestimmung gegeben, und in ihm erwuchs ich. " Gott
barg ihn an heimlicher Stelle (im Mutterleibe) ; und verborgen ist
seine Stelle, wenn ich verborgen wäre (?). ^ Ich bin tot in jenem
(Tropfen?), dann lebend, dann nach dem Leben (wieder) tot, um
auferweckt zu werden.
4 S
Wellhauaen, Zum Koran. 631
* Wenn mein Verstand mir schwindet, so bedenk, o Weib,
daß ich alt und schadhaft bin.
* Mach (o Gott) zu meinem Unterhalt das Erlaubte von Er¬
werb , und mach Lauterkeit zu meinem innersten Wesen, solange
ich lebe. * Mach mein Gewissen eng gegen Trug ; möge niemals 5
Bedürftigkeit mich bewegen, mir an vertrautes Gut anzugreifen, so
lange ich erhalten bleibe. ' Manche Schmähung habe ich gehört
und dazu geschwiegen; manche Ungebühr gut sein lassen und mich
zufrieden gegeben.
8 Wüßte ich doch, wenn dermaleinst gesagt wird „lies die lo
Aufschrift' und ich lese, * ob der Uberschuß zu meinen Gunsten
oder zu meinen Ungunsten ist (d. h. ob ich ein Plus oder ein Minus
habe) , wenn ich zur Rechenschaft gezogen werde ; mein Herr ist
vollmächtig, mich zur Rechenschaft zu ziehen.
1" Eine Ewigkeit bin ich tot gewesen, dann trat ich ins Leben, is
aber mein Leben ist Pfand dafür, daß ich sterbe. Und Kunde
ist mir zugekommen, daß ich nach dem Tode, oder wenn mein
Gebein vermodert ist, auferweckt werden soll. *- Werde ich
sagen , wenn mein Verstand und über mir zusammenbricht,
ich sei überrascht, sei es mit Gnade und Güte von dem himm- 20
lischen Könige, sei es mit einer Schuld, die ich vorausgeschickt habe und nun entgelte?
15 Und Kunde ist mir gekommen vom Reiche Davids, daran
habe ich Freude und Vergnügen.
1* Erlaubter, beschränkter Unterhalt frommt, und reichlicher, 25
schändlicher frommt nicht. ** Der Reiche bekommt nicht zu viel,
und der Arme, Niedere nicht zu wenig; *' vielmehr fällt einem
jedem das ihm beschiedene Maß zu, mag auch der Habgierige sich
schinden (?)."
Den zweiten Teil von Vers 2 versteh ich nicht, auch den 30
Schluß von Vers 17 nicht recht (vgl. Nöldeke, Beiträge S. 72);
die ausgelassenen Worte in Vers 12 kann ich trotz Sura 27, 68
nicht einmal wörtlich übersetzen. Für ^ii (9) lese ich nach einem
Vorschlage im Lisan ^jj. Isoliert sind Vers 4 und Vers 15;
letzterer sprengt den Zusammenhang zwischen 14 und 16. 17 und 35
erscheint als Parallele zu 11, mit gleichem Eingang. Das Thema
von 1—3 kehrt wieder in 10—13, das von 5—7 in 14. 16. 17.
Der Grund, weswegen das Gedicht dem Samaual zugeschrieben
wird, liegt in Vers 6, wo es heißt: „möge ich niemals mir an¬
vertrautes Gut angreifen'. Das schien auf den berühmten Samaual 40
von Taimä zu führen, dessen Andenken mit der treuen Bewahrung
der ihm von dem Dichterfürsten Mar'alkais übergebenen Waffen
verknüpft war. Aber die Äußerung in Vers 6 lautet ganz all-
sremein und unzeitlich, und von dem Samaual, dessen Gedicht in
O '
632 WellhaiLsen, Zum Koran.
der Hamasa S. 49 stellt, stammt unser Gedicht gewiß nicht. Es
unterscheidet sich davon formell und inhaltlich. Formell durch
(8) statt ol^ und durch oytx/«, ^Axi» (11. 14) statt
CJjjiA/o, ci/^Axi» (vgl. Abu Zaid, Nawädir 104) — diese Aramaismen
6 sind freilich nur im Reim erhalten , während innerhalb des Verses
jetzt die richtige arabische Aussprache (8) und ^jLi, (4)
erscheint. Materiell durch auffällige Berührungen mit dem Koran.
>
So ii>.3u (vom Tode erwecken 4. 11), (vollmächtig 9; Sura
4,87), ^^♦Is» ui^tAj (12; Sura 27, 68); ferner die Gleichsetzung
10 der ersten Zeugung zum irdischen Leben und der zweiten zum
künftigen Leben (1 — 3. 10), das Vorausschicken der guten oder
bösen Handlungen in die Ewigkeit (13), und namentlich das Blatt,
welches dem auferweckten Menschen gereicht wird und ihm seinen
Platz im Himmel oder in der Hölle anweist (8; Sura 69, 19, vgl.
15 Apocal. Joa. 2, 17). Die letztere Vorstellung differiert jedoch äußer¬
lich ziemlich stark von der entsprechenden des Korans und ist also
nicht daraus entlehnt, ünd überhaupt ist das dem Samaual zu¬
geschriebene Gedicht in den Asma'ijät zu originell, um als eine
muslimische Fälschung auf Grund des Korans betrachtet werden
80 zu können. Wir haben darin vielmehr einen Ausfluß aus der
gleichen Tradition, aus der auch Muhammed geschöpft hat. Die
Aramaismen führen wohl auf einen arabischen Juden. Jüdisch
scheint auch das Reich Davids (15) zu sein; es kann nicht als das
historische , sondern nur als das künftige Reich Davids verstanden
25 werden , d. h. als das messianische Reich. Es könnte freilich bei
einem so späten Juden auffallen , daß es stellenweise so scheint,
als sei die Auferstehung für ibn kein festes Dogma, sondern nur
eine geheime Hoffnung, von der er Kunde bekommen habe (11. 15).
3.
so Zu Sura 55, 46—78 bemerkt Nöldeke (Geschichte des Korans
1. Ausg., S. 30 = 2. Ausg., S. 40): ,üm des Reimes willen wird
bisweilen die gewöhnliche Gestalt der Wörter und selbst der Sinn
verändert; wenn z. B. in der 55. Sura von zwei himmlischen
Gärten die Rede ist, mit je zwei'Quellen und zwei Arten von
35 Früchten, und noch von zwei anderen ähnlichen Gärten, so sieht
man deutlich , daß hier die Duale dem Reime zuliebe gebraucht
sind". Am sonderbarsten sind wohl die zwei anderen ähnlichen
Gärten (55, 62—77), die den zwei ersten (55, 46—61) folgen und
beim Reim den gleichen Dual haben, sowohl in den beschreibenden
40 Zügen als auch in dem nach jedem einzelnen Zuge stereotyp wieder-
Wellhausen, Zum Koran. 633
kehrenden Refrain. Auch inhaltlich wiederholen sich die einzelnen
Züge der Beschreibung von 46—61 in fast gleichmäßiger Reihen¬
folge bei der Beschreibung von 62—77, wie Pigura zeigen möge:
46. 62 zwei Gärten,
48. 64 mit überhängenden Zweigen, mit tiefgrünem Laube, 5
50. 66 mit zwei plätschernden Quellen,
52. 68 mit verschiedenartigem Obst,
54. 76 mit Polstern, auf denen man liegt,
56—58. 70—74 mit schönen Mädchen.
Diese Verdoppelung des Doppelparadieses kann schwerlich ur- lo
sprüngliche Konzeption sein. Wir haben darin vielmehr das deut¬
lichste Beispiel zweier Varianten der gleichen Offenbarung, die als
verschieden aufgefaßt und hintereinander gestellt sind. Um sie
hintereinander möglich zu machen , ist von einem Bedaktor in
Vers 62 Ufi^O ^y^^ eingeschoben und dadurch wenigstens eine i5
äußere, örtliche Differenzierung der beiden eigentlich identischen Beschreibungen des Paradieses bewirkt.
4.
O3
Seltsam ist das Koranwort ^.,Lä^ , das namentlich in der so¬
genannten Huldigungsformel der Weiber vorkommt (60, 12). Es to
soll „Verleumdung" bedeuten und findet sich in diesem Sinne
€- o V
auch Agh. XV,. 118, 1.; ferner in BHiSam 353, 13 und
als Verbum Kamil 685, 2. Mit dem echt arabischen hat es
dann nichts zu tun, denn das bedeutet „plötzlich überfallen"
oder ,in Schrecken setzen", wie hebräisch nra und arabisch 25
^ki, z.B. Agh. II, 28,20. Tabari 1,877,12. 3182,11. 111,821,5.
Dagegen läßt es sich leicht zusammenbringen mit aramäisch rna
= hebräisch (wie am = yn), wozu ein arabisches Äqui¬
valent fehlt. Der Begriff' der Verleumdung würde dann zurück¬
gehen auf den des Schandbaren. so
CjJ
Daß ^^,Lä^ im Arabischen Lelrtiwort ist, darauf weist auch die
Form hin. Als Infinitiv ist ^.^sti, zwar wohl echt arabisch, so auch
^^j*Oj ■ Aber die richtigen Substantive dieser Form sind es nicht.
CjJ
Es gibt ihrer nicht viele. Die Herkunft von ^.^yix- liegt im Dunkel.
Cl>
Aus dem Abessinischen stammt ,^.jLsy- -A-ns dem Aramäischen S6
^JJiAL, ^.,Ls^-t') ei^J*' c<'"ir'" ■^^^ Vokabel ^^jU^ läßt sich aller-
4 6 «
g34 WeUhaiisea, Zum Koran.
dings in der uns erhaltenen aramäischen Literatur nicht nach¬
weisen ; aber sie wird doch wohl aramäisch sein , wenn auch das
Verbum , von dem sie stammt, aramäisch ist. Man muß dann an¬
nehmen , daß sie von arabischen Juden oder Christen , deren alte
6 Muttersprache aramäisch war, gebraucht oder vielleicht auch, nach
dem im Aramäischen sehr gewöhnlichen Typus , neu gebildet
worden ist.
Auf solche arabische Juden oder Christen wird ebenfalls das
Substantiv ^^^i zurückgehen, welches eine leichte Arabisierung von
10 zu sein scheint; vgl. Schwally in seiner Ausgabe von Nöldeke's
c
Geschichte des Koran 1, 33. 34. Auch das Verbum in der Be¬
deutung ,laut lesen, hersagen" (z.B. die Formel des Grußes)
ist nicht echt arabisch; die Araber haben für „rufen", woher
&i
„lesen" kommt, andere Ausdrücke. — Vielleicht hängt auch
18 zusammen mit N""';?.
TI : •
I, 6 *
635
Über das Gaonat in Palästina (980—1160 n. Chr.).
Von A. Marmors tela.
Vorbemerkung.
Ein eigentümlicbes Gefübl muß selbst den trockensten Ge-
scbicbtsforscher ergreifen, wenn er vor einem neuerscblossenen Kapitel
seines Forschungsgebietes steht. Es ergeht vielen so in unseren
Tagen , die an der Rekonstruktion der jüdischen Geschichte mit 5
Hilfe der Genizafragmente arbeiten. Der Historiker wußte bis vor
wenigen Jahren fast garnichts über die Geschichte der Juden in
Palästina vom Jahre 980 bis 1160 zu berichten. Die Genizafragmente
bereicherten unser Wissen. Mit Recht nannte W. Bacher (J. Q. R.
1902, p. 79 ff.) die dank der Veröffentlichungen S. Schechter's lo
bekanntgewordenen Nachrichten ein neuerschlossenes Kapitel der
jüdischen Geschichte , das seit dieser Zeit vielfach Gegenstand der
üntersuchung gewesen ist. Wir wollen hier auf Grund dieser
Porschungen und des von uns neuerdings aufgefundenen Materials
eine kurze Darstellung der Geschichte des Gaonats in Palästina und 16
deren Einfluß auf Ägypten und Vorderasien geben.
Bevor wir jedoch zu unserer Arbeit übergehen , müssen wir
dankbar der Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit des gelehrten
Mr. Elkan N. Adler, M. A. in London anerkennen, dessen Geniza¬
fragmente wir benutzen durften. 20
L
Der Stammvater der gaonäischen Familie, von der hier die Rede
sein soll, hat Josef geheißen. Dieser Josef war jedoch nicht der
erste Träger dieser Würde. Ein im Jahre 1132 lebender Enkel
beschreibt nämlich seinen Stammbaum folgenderweise : ich Mazliach, tb
Sohn des Salomo Hakohen, Enkel des Elijahu Hakohen, Enkel des
Salomo Hakohen, aus der Familie des Josef*). In einem Fragmente
Adler wird die im Cambridger Fragmente befindliche Lücke glück¬
licherweise ergänzt, dort heißt es klar und deutlich : Sohn des Aron
Hakohen-). Die Vermutung, daß die gaonäische Familie mit Ben- so
1) T.-S. 24, 26. Schechter, Saadyana p. 81, Anm. 1. Worman, J. Q. R.
XVIII, p. 723.
2) Fragment Adler ist identisch mit den oben erwähnten Fragmenten, hat jedoch deutlich TöNnn ")nD,T linN. Wenn Poznarisliy vermutet, daß sich die Worte auf den Ahnherrn aller Kohanim, den biblischen Aron bezögen, wird man ihm wohl schwer folgen dürfen (ZfHB. Vll, p. 23).