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Deutscher Deutscher Deutscher Deutscher Gewe Gewe Gewe

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Bunde Bunde Bunde

Bundessssvorstand vorstand vorstand vorstand

Abteilung

Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik

Stellungnahme des Stellungnahme des Stellungnahme des Stellungnahme des

Deutschen Gewerkschaftsbundes Deutschen Gewerkschaftsbundes Deutschen Gewerkschaftsbundes Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB)

(DGB) (DGB) (DGB)

zum Entwurf des

Nationalen Reformprogramms Deutschland 2013

Berlin, 19.02.2013

Herausgeber:

DGB-Bundesvorstand Abteilung Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik

Verantwortlich:

Claus Matecki

Henriette-Herz-Platz 2 10178 Berlin

Fragen an:

Florian Moritz Martin Stuber Tel.: 0 30/2 40 60-247 Fax: 0 30/2 40 60-218 E-Mail: florian.moritz@dgb.de

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1. Einführung

Der DGB begrüßt es, zum Nationalen Reformprogramm 2013 Stellung nehmen zu können. Einige andere Staaten (insbesondere Frankreich) veröffentlichen die entsprechenden Stellungnahmen der Sozialpartner auch zusammen mit dem NRP, so dass diese beispielsweise auf der Internetseite der Kommission direkt einsehbar sind1. Die Bundesregierung betont im NRP-Entwurf 2013 explizit, dass der DGB und andere zivilgesellschaftliche Gruppen zur Entstehung des NRP beigetragen haben. Im Rahmen der Konsultationen wurden inhaltliche Debatten mit der Begründung abgelehnt, es handele sich beim NRP lediglich um Berichterstattung. Deshalb wäre es aus unserer Sicht sinnvoll, die entsprechenden Stellungnahmen der Zivilgesellschaft im Sinne größtmöglicher Transparenz ebenfalls als Anhang des NRP zu veröffentlichen.

Auch das diesjährige Nationale Reformprogramm (NRP) erweckt den Eindruck, die Bundesregierung wolle vor allem vermeintliche Erfolge darstellen, anstatt die tatsächlich existenten Herausforderungen in Deutschland zu benennen und anzugehen. Nach Ansicht des DGB kann es aber nicht Sinn des NRP sein, der Bundesregierung Raum für Selbstlob zu geben. Stattdessen sollten dort Probleme klar und nüchtern benannt und mögliche Lösungswege gesucht werden. Die Bundesregierung sollte dabei auch den Mut haben, bisherige Versäumnisse einzugestehen. Diese Chance wurde im vorliegenden Entwurf nicht genutzt. Entsprechend fehlt bislang auch die Behandlung verschiedener wichtiger Punkte, die zur Gewährleistung von Wachstum und Stabilität in Europa notwendig wären.

In vielen Punkten, die im NRP aufgenommen wurden – insbesondere bei den wirtschafts- und

arbeitsmarktpolitischen Komplexen – weicht der DGB bei Analyse, Einschätzung und Bewertung zum Teil erheblich von der Position der Bundesregierung ab. Im Folgenden werden die verschiedenen Bereiche deshalb im Einzelnen kommentiert.

2. Konjunkturelle Entwicklung: Binnennachfrage stärken und nicht in die Rezession sparen!

Wie bereits im NRP 2012 schreibt die Bundesregierung auch in diesem Jahr wieder, die konjunkturelle Dynamik in Deutschland werde vor allem von der Binnennachfrage getragen. Im vergangenen Jahr lag die

Bundesregierung mit ihrer diesbezüglichen Einschätzung, der rechnerische Wachstumsbeitrag des Außenhandels werde 2012 negativ ausfallen und die Inlandsnachfrage alleiniger Wachstumsträger werden, kräftig daneben:

Tatsächlich war im Jahr 2012 genau das Gegenteil der Fall: Der Wachstumsbeitrag der Binnennachfrage war mit -0,3 Prozentpunkten negativ, während alleiniger Träger des Wirtschaftswachstums mit 1,1 Prozentpunkten abermals der Exportüberschuss war.

Auch in diesem Jahr gibt es bezüglich der konjunkturellen Entwicklung keinen Grund für großen Optimismus. Der DGB teilt diesbezüglich die Sorge der Bundesregierung, dass sich die außenwirtschaftliche Dynamik abschwächt.

Ein maßgeblicher Grund für diese Entwicklung ist die verfehlte Anti-Krisenpolitik in Europa, insbesondere die flächendeckenden staatlichen Ausgabenkürzungen und der Druck auf die Löhne in einigen Ländern. Diese Politik hat dazu geführt, dass die deutschen Warenexporte in die anderen Länder der Eurozone bereits 2012 um 2,1 Prozent zurückgegangen sind. Der Außenbeitrag blieb allein deshalb Wachstumsmotor, weil dieser Rückgang durch steigende Exporte in Drittländer überkompensiert wurde (insbesondere nach Nordamerika, Russland, Japan und südostasiatische Schwellenländer). Dieser Effekt wird im laufenden Jahr voraussichtlich schwächer. Vor diesem Hintergrund gewinnt die deutsche Binnennachfrage 2013 tatsächlich an Bedeutung – allerdings nur relativ zum Außenbeitrag, bei einer sehr niedrigen Wachstumsrate des BIP und auf insgesamt niedrigem Niveau.

1 http://ec.europa.eu/europe2020/making-it-happen/country-specific-recommendations/index_de.htm

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Neben einer Beendigung der Rezessionspolitik in den europäischen Nachbarländern muss deshalb eine weitere Stärkung der Binnennachfrage – insbesondere der öffentlichen Investitionen und der privaten Konsumnachfrage – im Zentrum der politischen Bemühungen stehen. Die Förderung eines stärkeren, insbesondere von der Binnennachfrage getriebenen Wachstums in Deutschland ist auch deshalb wichtig, um innereuropäische Leistungsbilanzungleichgewichte in einem insgesamt stärker werdenden Wirtschaftsumfeld abbauen zu können.

Bislang werden Leistungsbilanzdefizite in europäischen Krisenländern vor allem dadurch abgebaut, dass deren Importe sinken, nicht durch stärker steigende Exporte. Die Anpassung findet also mittels politisch

vorangetriebener Rezession statt. Würde Deutschland seine Binnennachfrage und damit die Importe tatsächlich angemessen erhöhen, könnte die Anpassung durch steigende Exporte in den Krisenländern geschehen – also durch insgesamt stärkeres Wirtschaftswachstum in Europa. Die vereinzelt zu vernehmende Position, anstelle einer ausgeglichenen Leistungsbilanz sollten alle europäischen Staaten, bzw. die Eurozone als Ganzes auf

Leistungsbilanzüberschüsse hinarbeiten, ist hingegen abzulehnen. Das würde nicht nachhaltige globale Ungleichgewichte befördern und mittelfristig wohl durch eine Aufwertung des Euros konterkariert.

Zur Steigerung der deutschen Inlandsnachfrage bedarf es auch einer Stärkung der öffentlichen Investitionen in der Bundesrepublik. Dabei ist es kontraproduktiv, dass die Haushaltskonsolidierung in Deutschland – trotz der vergleichsweise günstigen Wirtschaftslage in den vergangenen Jahren – stark von Rückgängen bei den

Staatsausgaben geprägt ist. Wie Schaubild 2 des NRP-Entwurfes zeigt, liegt die Staatsausgabenquote weit unter dem Niveau der 1990er Jahre. Zusätzlich soll sie nach Plänen der Bundesregierung – genau wie die

Staatseinnahmenquote – auch in den kommenden Jahren sinken. Getrieben vom Druck der fehlerhaften Schuldenbremse und des neuen Fiskalpakts (den der DGB abgelehnt hat), wird es wohl zu einem weiteren Ausbleiben wichtiger Infrastrukturinvestitionen kommen. Der DGB fordert hier von der Bundesregierung einen Richtungswechsel. Der DGB hat ein Konzept für einen „Marshallplan für Europa“ vorgelegt, das massive öffentliche und private Investitionen zur langfristigen Stärkung Europas vorsieht und dazu einen konkreten Finanzierungsvorschlag macht.2 Auch Deutschland muss in diesem Zusammenhang seinen Beitrag leisten.

Außerdem bedarf es dringend einer Stärkung der privaten Konsumnachfrage in der Bundesrepublik: Die Einzelhandelsumsätze sanken in Deutschland 2012 real um 0,3 Prozent und liegen preisbereinigt fast fünf Prozent niedriger als 1994. Die privaten Konsumausgaben wuchsen auch im vergangenen Jahr um lediglich 0,8 Prozent. Ursache für die dauerhaft schwache Konsumnachfrage ist insbesondere die politisch voran getriebene Ausweitung des Niedriglohnsektors und der damit einhergehende Druck auf die Arbeitnehmerentgelte, sowie die zunehmende Ungleichheit in der Einkommensverteilung.

3. Lohnentwicklung und Tarifautonomie stärken!

Die EU-Kommission hat in ihren länderspezifischen Empfehlungen unter anderem festgestellt, dass die Löhne in Deutschland „nicht immer mit der Produktivitätssteigerung Schritt gehalten“ haben. Die Kommission empfiehlt entsprechend, dass Deutschland „…die Voraussetzungen schafft, damit die Lohnentwicklung mit dem Produk- tivitätszuwachs Schritt hält.“ Die Bundesregierung lehnt es im vorliegenden NRP-Entwurf jedoch ab, über die Umsetzung dieser länderspezifischen Empfehlung zu berichten und begründet dies wie folgt: „Die Empfehlung des Rates zur Lohnentwicklung richtet sich in erster Linie an die Tarifpartner. In Deutschland gibt es eine verfassungsrechtlich verankerte Tarifautonomie. Das sorgt für differenzierte und an die Marktanforderungen angepasste Löhne.“

Aus Sicht des DGB ist es sehr zu begrüßen, dass die Bundesregierung auch im europäischen Kontext explizit für die Einhaltung der Tarifautonomie eintritt. Nichtsdestotrotz ist diese Antwort auf die länderspezifische

Empfehlung verwunderlich und als nicht ausreichend anzusehen:

2 http://www.dgb.de/themen/++co++985b632e-407e-11e2-b652-00188b4dc422

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Erstens ist die Auffassung aus unserer Sicht außergewöhnlich, die Europäische Kommission würde im Rahmen des Europäischen Semesters Empfehlungen an die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände richten. Das Euro- päische Semester wurde von den im Europäischen Rat vertretenen europäischen Regierungen beschlossen. Die Länderspezifischen Empfehlungen richten sich an die Mitgliedstaaten der EU. Die Berichterstattung über die Umsetzung der Empfehlungen an Deutschland geschieht durch die Bundesregierung in den Nationalen Reform- programmen. Wären tatsächlich die Sozialpartner Adressaten der Länderspezifischen Empfehlungen, wäre die Antwort der Bundesregierung insbesondere vor dem Hintergrund bedenklich, dass von verschiedenen Seiten – auch von der Deutschen Bundesregierung – eine stärkere Verbindlichkeit der Empfehlungen angestrebt wird. Im vorliegenden NRP-Entwurf begrüßt die Bundesregierung schließlich explizit „das Bestreben, die Länderspezifi- schen Empfehlungen künftig inhaltlich noch differenzierter, präziser und schlagkräftiger auszugestalten.“ Die Bundeskanzlerin selbst hat betont, es müsse „verbindliche Absprachen zwischen der Kommission und den Mitgliedsstaaten auch auf der Grundlage der länderspezifischen Empfehlungen geben.“ Eine solche Position wäre nicht vertretbar, wenn sich die Empfehlungen nicht an Regierungen, sondern an die Tarifpartner richten würden. Es ist daher in diesem Zusammenhang davon auszugehen, dass die Kommission mit ihrer Empfehlung nicht direkt in die Belange der Tarifpartner eingreifen will, sondern ihre Empfehlung tatsächlich an die politischen Entscheidungsträger – insbesondere in der Bundesregierung – richtet.

Die Bundesregierung übersieht in ihrem kurzen Verweis auf die Tarifautonomie bei der Behandlung der o.g.

Länderspezifischen Empfehlung auch, dass für einen großen Teil der Beschäftigten in Deutschland eine tarifliche Absicherung nicht mehr greift, da die Tarifbindung auf Seiten der Beschäftigten und Betriebe in den letzten Jahren stark zurückgegangen ist. Das Tarifvertragssystem in Deutschland ist in den letzten Jahren aber noch aus einem anderen Grund unter Druck geraten: Die Arbeitsmarktreformen haben zu einer starken Ausweitung des Niedriglohnsektors geführt. In der Folge können Arbeitgeber so niedrige Entgelte zahlen, dass Beschäftigte ihr Einkommen über staatliche Transferleistungen aufstocken müssen, um ihre Existenz zu sichern. Durch dieses faktische Kombilohnmodell erlangen nicht tarifgebundene Arbeitgeber gegenüber tarifgebundenen Arbeitgebern einen Wettbewerbsvorteil zu Lasten der öffentlichen Hand, also der Steuerzahler und der Allgemeinheit. Darauf basieren mittlerweile ganze Niedriglohn-Geschäftsmodelle.3

Die von der Kommission bemängelte Entwicklung, dass Löhne „nicht immer mit der Produktivitätssteigerung Schritt gehalten“ haben, betrifft vor allem diese Bereiche. Wie eine aktuelle Untersuchung des WSI-Tarifarchivs ergab, blieb das Wachstum der Bruttolöhne in Deutschland insgesamt stark hinter der Entwicklung der Tariflöhne zurück. Insofern ist bis zur Wiederherstellung handlungsfähiger Strukturen durchaus eine Kombination tariflicher und gesetzlicher Regelungen erforderlich, um Mindestarbeitsbedingungen, insbesondere Existenz sichernde Einkommensuntergrenzen, verbindlich festzulegen.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund fordert deshalb beispielsweise die Einführung eines flächendeckenden gesetz- lichen Mindestlohns in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde. Die Einführung eines Mindestlohnes wäre eine Möglich- keit für die Bundesregierung und die sie tragende parlamentarische Mehrheit, die länderspezifische Empfehlung der Kommission ohne Eingriff in die Tarifautonomie umzusetzen. Mindestlöhne sind eine sichernde Untergrenze, oberhalb derer sich die Tarifautonomie frei entfalten kann. Dort, wo es strukturelle Schwächen des Tarifvertrags- systems gibt, können Mindestlöhne als gesetzliche Untergrenze Existenz sichernde Löhne sicherstellen.

Darüber hinaus hat die Bundesregierung verschiedene Möglichkeiten, die Tarifautonomie und die Lohnentwicklung zu stärken: So sollte sie darauf hinwirken, die Voraussetzungen der Erteilung einer Allgemeinverbindlicherklärung nach Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG) und Tarifvertragsgesetz (TVG) zu erleichtern. Denn die Allgemeinverbindlicherklärung ist ein bewährtes und erprobtes Instrument zur Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen und zur Vermeidung von Schmutzkonkurrenz. Auch die Ausweitung des

3 Vgl. Positionspapier des DGB Bundesvorstandes: Gewerkschaftliche Anforderungen an eine Reform der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen

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Arbeitnehmerentsendegesetzes auf alle Wirtschaftsbereiche trägt zur Stärkung des Tarifvertragssystems bei.

Zugleich ist dies ein Weg, tarifgestützte Mindestlöhne auszuweiten. Schließlich könnte die Bundesregierung wirk- same Maßnahmen treffen, um den stark gewachsenen Niedriglohnsektor einzudämmen – beispielsweise indem die Minijob-Regelungen reformiert werden, grundsätzlich alle Beschäftigungsverhältnisse ab dem ersten Euro in den Sozialversicherungsschutz einbezogen und Sonderregelungen bei der Besteuerung aufgehoben werden, wie es der DGB in seiner Stellungnahme zum Entwurf des Gesetzes zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung empfohlen hat.4 Die Bundesregierung kann zudem dafür Sorge tragen, dass der Einsatz von Leiharbeit begrenzt wird und das Prinzip der Gleichbehandlung beim Entgelt und den Arbeitsbedingungen ohne Ausnahmen im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) gesetzlich festgeschrieben wird. Aus Sicht des DGB muss die Bundesregierung diese Möglichkeiten nutzen. Davon abgesehen ist der Bund selbst Tarifpartner und könnte mit guten Lohnabschlüssen voran gehen.5

Irritierend ist, dass sich die Bundesregierung in Deutschland mit Hinweis auf die Tarifautonomie weigert, die Lohnentwicklung und die Tarifautonomie durch politische Maßnahmen zu stärken, während sie auf europäischer Ebene und in anderen EU-Staaten sogar staatliche Eingriffe in Lohnfindungsverfahren befürwortet. So hat die Bundesregierung beispielsweise den Euro Plus Pakt unterschrieben, der für Unterzeichnerstaaten die

Selbstverpflichtung enthält, Maßnahmen zur „Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit“ zu treffen, beispielsweise dafür zu sorgen, dass die „Kosten sich entsprechend der Produktivität entwickeln“. Als entsprechende

Instrumente werden im Euro Plus Pakt genannt: „Überprüfung der Lohnbildungsverfahren und erforderlichenfalls des Grads der Zentralisierung im Verhandlungsprozess und der Indexierungsmechanismen, unter Wahrung der Autonomie der Sozialpartner in den Tarifverhandlungen; Sicherstellung, dass die Tarifabschlüsse im öffentlichen Sektor den auf eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit gerichteten Anstrengungen im Privatsektor förderlich sind (eingedenk der wichtigen Signalwirkung der Löhne im öffentlichen Sektor).“

Die Bundesregierung hat zudem der Einführung des europäischen Mechanismus gegen makroökonomische Ungleichgewichte zugestimmt, der unter anderem Obergrenzen für die Entwicklung der Lohnstückkosten definiert. Diese Lohnstückkosten ergeben sich aus den von der Kommission auch in ihrer o.g. Länderspezifischen Empfehlung an Deutschland thematisierten Größen Löhne und Produktivität. Die Bundeskanzlerin hat auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos unter anderem dafür plädiert, dass Nationalstaaten Verträge mit der EU- Kommission schließen, in denen sie sich verpflichten, Elemente der Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Dabei solle es oft auch um die Lohnstückkosten gehen. Ebenso hat die Bundeskanzlerin regelmäßig darauf beharrt, dass Griechenland die von der so genannten Troika verlangten Auflagen erfüllt, obwohl diese Auflagen Eingriffe in die Tarifautonomie (z.B. Senkung der durch den Gesamttarifvertrag vereinbarten Mindestlöhne) und einseitige Änderungen der Tarifgesetzgebung zu Gunsten der Arbeitgeberseite beinhalten. All diese Maßnahmen sind kontraproduktiv und erschweren faire Verhandlungen der Tarifpartner dort. Auch verschiedene Länderspezifische Empfehlungen der Kommission an andere Staaten enthalten Aufforderungen zu Änderungen bei den

Lohnstückkosten. Die Bundesregierung sollte deshalb konsequenterweise in jedem Fall davon absehen, eine stärkere Verbindlichkeit der länderspezifischen Empfehlungen und des Europäischen Semesters voranzutreiben.

Zusammengefasst hat die Bundesregierung aus Sicht des DGB also durchaus Möglichkeiten, die Funktion der Tarifautonomie in Deutschland zu stärken, um der Länderspezifischen Empfehlung der Kommission gerecht zu werden, ohne die Tarifautonomie der Sozialpartner zu tangieren. Auf der anderen Seite sollte die Bundesregie- rung strikter darauf achten, dass sie künftig keinerlei Maßnahmen unterstützt, die die Tarifautonomie in Deutsch- land oder anderswo tatsächlich gefährden – indem sie beispielsweise eine Einflussnahme der EU-Kommission auf nationale Lohnverhandlungssysteme erlauben oder die Tarifautonomie dadurch unterminieren, dass einseitig Rechte von Beschäftigten und ihren Gewerkschaften zu Gunsten der Arbeitgeberseite abgebaut werden.

4 Vgl. auch Abschnitt 4 dieser Stellungnahme

5 Die Bundesregierung hat bei Unterzeichnung des Euro Plus Paktes ja selbst die Auffassung unterschrieben, dass von Löhnen im öffentlichen Sektor eine „wichtige Signalwirkung“ ausgehe.

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4. Entwicklung am Arbeitsmarkt: Prekarisierung der Arbeitswelt aufhalten!

Der DGB kann sich der im NRP-Entwurf geäußerten ungetrübten Freude der Bundesregierung über die Entwicklung am Arbeitsmarkt nicht vorbehaltlos anschließen. Die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit ist zwar statistisch erreicht worden, aber eine nachhaltige Integration der Betroffenen in den Arbeitsmarkt wird häufig nicht erreicht. Vor allem nach Vermittlung aus dem Hartz IV-System ist die Beschäftigung häufig instabil, und oft so niedrig bezahlt, dass weiterhin ergänzende Leistungen zur Aufstockung der Löhne notwendig sind.

Der Rückgang der Langzeitarbeitslosigkeit ist deswegen statistisch überzeichnet, weil schon kurze Unterbrechungen der Arbeitslosigkeit zu einer Statusänderung führen.

Der DGB hat auch Zweifel, ob die arbeitsmarktpolitischen Instrumente wirklich gestärkt wurden. Tatsächlich dienten die gesetzlichen Änderungen überwiegend dem Ziel der Mitteleinsparung. So sind auch erfolgreiche Programme, wie die Förderung von Selbständigkeit, dem Rotstift zum Opfer gefallen. Dies wird auch von Ökonomen außerhalb des DGB sehr kritisch gesehen.

Die Kürzungen erschweren vor allem aber die Integration von Langzeitarbeitslosen. Sinnvolle Maßnahmen, wie zum Beispiel Investitionen in Ausbildung werden deutlich zu wenig angeboten. Erst in letzter Zeit gibt es ein Umdenken. So hat der Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit auf Drängen der Gewerkschaften endlich beschlossen, auch älteren Jugendlichen eine „zweite Chance“ auf Ausbildung zu ermöglichen. Dies sollte konsequent ausgebaut werden, dafür sind aber mehr Mittel erforderlich. Zu kritisieren ist auch, dass die

Aktivitäten inzwischen ausschließlich aus Beitragsmitteln finanziert werden müssen, weil der Bund den Zuschuss an die Bundesagentur für Arbeit schrittweise abbaut. Das Nachholen von Berufsabschlüssen ist aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die vorrangig aus Steuermitteln finanziert werden sollte.

Die zunehmende Prekarisierung von Arbeit und die Verlagerung von Risiken auf die Beschäftigten (bei gleich- zeitiger Entlastung der Arbeitgeber) bleiben das Hauptproblem des deutschen Arbeitsmarktes. Im NRP wird es verschwiegen. Auch auf dem Arbeitsmarkt werden Gewinne privatisiert und Risiken vergesellschaftet. Dieser Vorgang wird systematisch verharmlost. Die Verlagerung von Risiken wird zur Steigerung der Wettbewerbs- fähigkeit in Kauf genommen. Gleichzeitig werden andere Staaten in Europa unter Druck gesetzt, dieser Politik zu folgen. Auch im NRP gibt es keine Hinweise darauf, dass dieser Vorgang von der Regierung kritisch hinterfragt wird bzw. Abhilfen eingeleitet werden.

Als Ziel formuliert das NRP die Sicherung und den Ausbau der Beschäftigung. Doch bei der Darstellung der vermeintlichen Fortschritte wird lediglich auf die Erwerbstätigenquote abgestellt. Dabei ist dieser Indikator sehr weit gefasst. Wichtiger wäre hier die Darstellung der Entwicklung der Beschäftigungsquote, also der

sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Denn bei den Erwerbstätigen werden u.a. rund 860.000 Menschen zwischen 55 und 65 Jahren mitgezählt, die lediglich einen Minijob haben. Zwar ist auch die Beschäftigungsquote zuletzt gestiegen, jedoch auf deutlich niedrigerem Niveau. Bei den 60- bis 64-Jährigen lag sie zuletzt nur bei 27,5 Prozent. Besonderes kurz vor Erreichen der Regelaltersgrenze sinkt die Quote zudem rapide. Nur etwa 11 Prozent der 63- und 64-Jährigen haben noch eine sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung. Gleichzeitig steigt seit Jahren der Anteil der Zugangsrenterinnen und -rentner, die ihre Altersrente vorgezogen in Anspruch nehmen und dafür hohe Abschläge in Kauf nehmen müssen. Mittlerweile ist davon fast jede/r zweite Neurentner/in betroffen und die Höhe der Abschläge liegt im Schnitt bei 109 Euro im Monat.

Darüber hinaus ist zu unterstreichen, dass Durchschnittsbetrachtungen der Beschäftigung oder der

Erwerbstätigkeit Älterer die tatsächliche Realität, der sich einzelne Arbeitnehmer gegenübergestellt sehen, nur unzureichend abbilden können. Die Beschäftigungszahlen Älterer variieren erheblich zwischen den ausgeübten Branchen und Berufen. So haben es zum Beispiel Arbeitnehmer in körperlichen Tätigkeiten und/oder in Kleinbetrieben ohne Kündigungsschutz schwerer als andere, auch im Alter einen Arbeitsplatz zu behalten bzw.

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einen neuen zu finden. Hier besteht ein besonderer renten- bzw. arbeitsmarktpolitischer Handlungsbedarf, der durch unzureichend differenzierte Quotenbetrachtungen nicht einmal sichtbar wird.

Hinter dem von der Bundesregierung immer wieder betonten Rekord bei der Erwerbstätigkeit in Deutschland ver- birgt sich insbesondere die gestiegene Zahl von Kleinstarbeitsverhältnissen und prekär Beschäftigten. Unter dem Strich wächst zwar die Zahl der Erwerbstätigen, aber das hat nicht zur Folge, dass auch das Arbeitsvolumen zunimmt. Auch 2012 war es noch niedriger als Anfang der 90er Jahre, wurde aber auf mehr Schultern verteilt.

Während sich die Zahl der im Normalarbeitsverhältnis stehenden Beschäftigten über die Konjunkturzyklen verringerte, zeigten sich deutliche Zuwächse beispielweise bei den Minijobs. Bereinigt man die Gesamtzahlen um diejenigen, die nur einer geringfügigen Beschäftigung nachgehen, so liegt die Zahl der verbleibenden

Erwerbstätigen auch absolut noch unter dem Niveau von 1991 und 1992. Nach Berechungen des Statistischen Bundesamtes von 2008 arbeitet von den 30 Millionen abhängig Beschäftigten gut ein Viertel atypisch.

Jahrelang wurden Sonderregelungen für vermeintliche Aushilfstätigkeiten propagiert und geschaffen. Diese sollten möglichst einfach geregelt und weitgehend sozialversicherungs- und steuerfrei sein. Das führte in der Praxis zu einer Spaltung der Beschäftigung in reguläre, tariflich bezahlte Arbeit und geringfügige Beschäftigung, also in Minijobs. Heute sind in Branchen wie dem Handel, der Gastronomie und der Gebäudereinigung Minijobs weit verbreitet. Mit mehr als 7 Millionen geringfügig Beschäftigten sind dies die wesentlichen Sektoren prekärer Beschäftigung. Und es sind vor allem Branchen, in denen viele Frauen ihr Einkommen erzielen.

Das Ziel der Reformen war, Übergänge in den ersten Arbeitsmarkt zu erleichtern oder die Beschäftigung Geringqualifizierter zu forcieren. Es wurde nicht erreicht. Minijobs sind heute weder in großem Maße Aushilfs- tätigkeiten noch Möglichkeiten des Zuverdienstes für Menschen, die im Haushaltskontext abgesichert sind. Dies untermauert auch eine aktuelle Veröffentlichung des Statistischen Bundesamtes, nach der 27 Prozent aller Mini- jobber/innen eine umfangreichere Tätigkeit suchen, also keineswegs nur geringfügig arbeiten wollen. Minijobs sind eine Sonderform der Beschäftigung am Arbeitsmarkt, die insbesondere Frauen um die Möglichkeit bringt, eigenständig ihre Existenz zu sichern. Sie sind in vielen Branchen längst vom Ausnahmefall zur alltäglichen Form der Beschäftigung geworden; sie führen im Zeitverlauf zu gravierenden Lücken in der Altersversorgung der Betroffenen und zementieren das tradierte Modell geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung. Das Gutachten zum Gleichstellungsbericht der Bundesregierung unterlegte die anstehende Lücke in der Altersversorgung schon 2011 mit folgenden Zahlen: bereits weisen 60 Prozent der erwerbstätigen Frauen in Westdeutschland im Alter

zwischen 50 und 55 Jahren Erwerbszeiten im Minijob auf, die sich in ihrem Erwerbsverlauf auf 7,6 Jahre summieren. In Ostdeutschland sind es 30 Prozent mit Zeiten von bis zu 3,5 Jahren.

Die in den letzten Jahren geschaffenen Arbeitsplätze gehören überwiegend zum Niedriglohnsektor und halten die Prekarisierung der Arbeitswelt nicht auf. In den Segmenten prekärer Beschäftigung sind Männer und Frauen unterschiedlich vertreten. Männer dominieren z. B. die Leiharbeit, auch wenn sich diese in den Dienstleistungs- sektoren mehr und mehr durchsetzt. Frauen sind vor allem in Sektoren wie der geringfügigen und der – oft un- freiwilligen und marginalen – Teilzeitbeschäftigung deutlich überrepräsentiert. Besonders augenfällig: knapp 68 Prozent der geringfügig beschäftigten Frauen müssen ausschließlich in diesem Bereich ein Einkommen erzielen.

Der DGB hat deswegen ein Konzept vorgelegt, wie Minijobs in den regulären Arbeitsmarkt integriert werden können, ohne die Vorteile von Teilzeitarbeit einzuschränken. Der Vorschlag sieht vor, dass ab dem ersten Euro voller Sozialversicherungsschutz besteht, die Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer aber ab 800 Euro vollständig paritätisch finanziert werden. Darunter zahlen die Arbeitgeber gleitend abnehmend einen höheren Beitrag, während der Beitrag der Beschäftigten gleitend steigt. Um steuerliche Nachteile von Teilzeitkräften zu mindern, hat der DGB vorgeschlagen, das Faktorverfahren für Ehepaare verbindlich einzuführen, wenn beide Erwerbseinkommen erzielen.

Neben der Schaffung von neuen Arbeitsplätzen – beispielsweise durch die Stärkung der Binnennachfrage – muss es also insbesondere darum gehen, prekäre Beschäftigung und den Niedriglohnsektor auszutrocknen. Der DGB

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fordert diesbezüglich bspw. die Gleichbehandlung aller Arbeitsverhältnisse und deren Einbindung in die Systeme der sozialen Sicherung vom ersten Euro an. Eine Dynamisierung der Geringfügigkeitsgrenze ist der falsche Weg.

Die Bundesregierung sollte sich bei allen arbeitsmarktpolitischen und arbeitsrechtlichen Vorhaben vor Augen führen, dass es eben gerade nicht einer Deregulierung des Arbeitsmarktes und einem Abbau des Arbeitnehmer- schutzes zu verdanken war, dass sich Entlassungen bei den Stammbelegschaften (Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter wurden ja zahlreich entlassen) in der Krise 2008/2009 in Grenzen hielten. Vielmehr zahlten sich erneut die interne Flexibilisierung und die Anwendung der Kurzarbeitergeld-Regelung bei gleichzeitigem gesetzlichem Schutz der Arbeitnehmer vor Entlassungen aus. Zur Erinnerung: über Jahre hinweg wurde dies von neoliberalen Ökonomen und ihren Institutionen als unflexibel und rigide angesehen und bekämpft.

5. Armutsbekämpfung: Probleme anpacken, nicht ignorieren!

Die Bundesregierung widmet dem wichtigen Ziel der Armutsbekämpfung, das auch Kern der EU2020-Strategie ist, gerade einmal vier kurze Absätze in ihrem NRP-Entwurf. Und selbst in diesem kurzen Text begnügt sie sich damit, Verbesserungen bei der Reduktion der Langzeitarbeitslosigkeit anzupreisen. Das ist höchst bedauerlich, zeigt es doch, dass die Bundesregierung die tatsächlichen Probleme bei der Entwicklung der Armut in

Deutschland ignoriert. Dieses Bild wurde zuletzt auch dadurch verfestigt, dass entscheidende Aussagen des 4.

Armuts- und Reichtumsberichts im Rahmen der Ressortabstimmung gestrichen oder abgeändert wurden, um die tatsächliche Armutsentwicklung in Deutschland zu beschönigen. Die sprachliche Bekämpfung von Armut wird den Problem- und Handlungsdruck aber nicht verringern. Nach Auffassung des DGB ist gerade die Entkopplung des Arbeitsmarktes von der Armutsentwicklung charakteristisch für die jüngere Entwicklung. Es ist eben nicht ausreichend, zur Armutsbekämpfung darauf zu verweisen, dass Arbeitsplätze geschaffen wurden. Wenn die geschaffenen Arbeitsplätze nicht zur Folge haben, dass Armut auch tatsächlich bekämpft wird, ist dies ein zweifelhafter Erfolg. Die Zahl der Menschen, die trotz Arbeit arm sind, steigt weiter, trotz eines Rückgangs der Arbeitslosigkeit. Die Details können der Grafik entnommen werden.

Nach 2006: Mehr Armut trotz sinkender Arbeitslosigkeit

15,3

9

8,1 14,2 14,5

13,4 14,3 14,6

13,1 13,4 12,6

11,9 11,7

10,4

7,8 10,8

11,7 10,5

10,5 9,4 9,8

9,6 10,5

11,1

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18

1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009

Armutsrisikoquote in % (<60 % Medianeinkommen, SOEP) Arbeitslosenquote in % (bezogen auf alle zivilen Erwerbspersonen) Quelle: Entwurf 4. Armuts- und Reichtumsbericht und BA-Statistik

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Der Indikator Langzeitarbeitslosigkeit ist wenig aussagefähig, da die Langzeitarbeitslosigkeit oft nur statistisch beendet wird (z.B. wg. Erkrankungen oder kurzzeitigen Eingliederungsmaßnahmen). Zahlen aus dem BMAS konterkarieren zudem den Versuch der Bundesregierung, Armutsbekämpfung auf die Verringerung der Langzeit- arbeitslosigkeit zu reduzieren. Denn die Zahl der Langzeitarbeitslosen sank in Deutschland zwischen 2009 und 2011 im Jahresdurchschnitt lediglich um ein Prozent auf 1,15 Millionen. Da die Arbeitslosenzahl insgesamt um 13 Prozent zurückging, stieg der Anteil der Langzeitarbeitslosen seit 2009 sogar von 33,8 auf 37,5 Prozent.

Besonders betroffen sind die über 50-Jährigen. Sie machen inzwischen 39 Prozent der Langzeitarbeitslosen aus.

Das BMAS weist darüber hinaus aus, dass Langzeitarbeitslose weniger gefördert werden: Ihr Anteil an den verschiedenen Maßnahmen der Arbeitsförderung ist unterdurchschnittlich. Bei den Ein-Euro-Jobs stellen sie 21 Prozent der Geförderten, beim Gründungszuschuss sind es sogar nur 2,4 Prozent. Auch von der beruflichen Weiterbildung mit dem Ziel eines Berufsabschlusses profitieren Langzeitarbeitslose nur mit 10,5 Prozent. Dabei sind laut Statistik 47 Prozent von ihnen ohne Berufsausbildung.

Die Ausweitung des Niedriglohnsektors bleibt eine wesentliche Armutsursache. Offensichtlich ist der Niedrig- lohnsektor kein „Sprungbrett“ in den regulären Arbeitsmarkt, sondern eher eine „Falle“. Eine Untersuchung des IAB unter Vollzeitbeschäftigten ergab, dass über einen Zeitraum von sechs Jahren nur jeder achte Niedriglohn- empfänger aus dem Niedriglohnsektor aufstieg. Einiges spricht dafür, dass sich die Aufstiegschancen für Gering- verdiener noch verschlechtert haben und auch im internationalen Vergleich gering sind. Die Frage des Verbleibs im Niedriglohnsektor ist auch mit Blick auf die zunehmende Altersarmut eine gesellschaftliche Schlüsselfrage.

Auch das starke Wachstum der letzten zwei Jahre hat nicht verhindert, dass die Armut kontinuierlich zunimmt.

Trotz zeitgleicher Entspannung bei den offiziellen Arbeitslosenquoten muss man sich der Problematik „working poor“ stellen. „Arm trotz Arbeit“ stellt den gesellschaftlichen Zusammenhalt unserer Gesellschaft massiv in Frage. Nicht nur aufgrund der sozialen Spaltung, sondern weil selbst gegen das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit verstoßen wird – und zwar nicht mehr nur bei den oft leistungslos erlangten Vermögen am oberen Ende der Einkommensskala, sondern am Fundament der Einkommenspyramide.

Zentraler Hebel für die Bekämpfung von Ungleichheit und Armut ist die Primärverteilung. Die

Rahmenbedingungen am Arbeitsmarkt müssen geändert werden, wenn sich die doppelte Spaltung der Einkommensverteilung – nach Einkommenshöhe sowie zwischen atypischer und Vollzeitbeschäftigung – nicht weiter verschärfen soll. Mit dem starken Anstieg atypischer Beschäftigung hat sich das Armutsrisiko generell deutlich erhöht. Berücksichtigt man nicht nur das individuelle Erwerbseinkommen, sondern das gesamte

Haushaltsnettoeinkommen und die Größe des jeweiligen Haushalts, zeigt sich zugleich ein überdurchschnittliches Armutsrisiko atypisch Beschäftigter. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes waren 2008 bereits mehr als 1 Mio. bzw. 14,3 Prozent aller atypisch Beschäftigten armutsgefährdet. 1998 lag der Anteil noch bei knapp 10 Prozent. Der Anteil der armutsgefährdeten Personen hat sich generell bei allen Formen atypischer Beschäftigten erhöht und ihre Zahl absolut mehr als verdoppelt.

Die Armutsgefährdung hat über die atypisch Beschäftigten hinaus auch bei den anderen Beschäftigungsformen zugenommen. Bei den Soloselbständigen ist die Armutsgefährdung zwar moderater gestiegen. Das Risiko der Selbständigen ohne Beschäftigte ist aber dreimal höher und für atypisch Beschäftigte sogar fast fünfmal so hoch wie für Normalbeschäftigte.

Die Einkommen gehen immer weiter auseinander. Laut OECD war die Einkommensungleichheit unter

Vollzeitbeschäftigten nur in Südkorea und den USA höher als in Deutschland, wobei sie in keinem OECD-Land seit 2000 so stark gestiegen ist wie hierzulande. Der Lohnabstand zwischen befristet und unbefristet

Beschäftigten ist nur in wenigen Ländern so groß wie in Deutschland.6 Die Verdienstschere hat sich auch im

6 www.oecd.org/economy/goingforgrowth/inequality

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Zeitraum 2007 bis 2011 weiter geöffnet. So realisierten Arbeitnehmer in leitenden Stellungen ein Plus von nominal 12,4 Prozent, Fachkräfte hatten hingegen nur 8,3 Prozent mehr Geld. Im Schnitt aller Beschäftigten waren es 9,4 Prozent.

Dass sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet, liegt aber auch an der Vermögenskonzen- tration. Armut und Reichtum sind zwei Seiten derselben Verteilungsmedaille. Das Vermögen konzentriert sich in immer weniger Händen. Im selben (Krisen-) Zeitraum seit 2007 hat sich laut Armut- und Reichtumsbericht das private Vermögen um 1,4 Billionen erhöht. Seit der Finanzkrise sind 140.000 Millionäre hinzugekommen.

Inzwischen hat Deutschland nach der Schweiz und Japan die weltweit drittgrößte Millionärsdichte.

Die steuerliche Reichtumspflege hat die wachsende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen zusätzlich verschärft. Das oberste Zehntel verfügt inzwischen über 53 Prozent des Nettovermögens – 1998 waren erst 45 Prozent. Mit Sach- und Immobilienvermögen besitzt das reichste Promille – etwa 70.000 Personen – rund 23 Prozent oder 1.600 Mrd. Euro. Bei dieser Konzentration von Reichtum ist Vermögensbesteuerung keineswegs symbolisch. Das reale Einkommen der Mittelschichten hat sich im letzten Jahrzehnt dagegen kaum erhöht. Die unteren Einkommensgruppen sind gänzlich abgehängt (s. Grafik).

Die Nichterwähnung des vor der Veröffentlichung stehenden Armuts- und Reichtumsberichts im NRP bestätigt den Eindruck von ebendiesem Bericht: der Umgang mit Armut folgt einem veralteten Gesellschaftsbild. Die wachsende materielle Ungleichheit wird damit gerechtfertigt, dass sie „eine wesentliche Triebfeder wirtschaftlichen Handelns“ sei. Aus Armut folgt dann nicht staatlicher Handlungsbedarf, sondern die Herausforderung, „Akzeptanzprobleme“ zu bewältigen. Dieses zynische Verständnis von Regierungshandeln zeigt sich auch daran, dass „sinkende Reallöhne in den unteren Dezilsgruppen […] Ausdruck struktureller Verbesserungen“ seien, während „die bei Vermögenden grundsätzlich vorhandene Bereitschaft zu mehr freiwilligem Engagement mehr noch als bisher zur Geltung zu bringen“, zum politischen Ziel erklärt wird.

Aus der Erkenntnis, dass soziale Ungleichheit Folge von Strukturen der Exklusion ist, wird also nicht der Schluss gezogen, strukturelle Hindernisse für gesellschaftliche Teilhabe zu beseitigen und die Inklusion aller Menschen fördern. Armut zu bekämpfen und Integration voranzutreiben, erschöpft sich im gewerkschaftlichen Verständnis nicht in der Bereitstellung von Infrastruktur für gleiche Startchancen. Es geht um die kontinuierliche

Unterstützung bei der Wahrnehmung von Chancen. Zahlreiche wissenschaftliche Ergebnisse zeigen inzwischen,

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dass Gesellschaften mit geringerer Ungleichheit nicht nur sozial gerechter und zufriedener sind, sondern auch wirtschaftlich erfolgreicher.

6. Bildung: schleppende Fortschritte

Es sollte ein historischer Moment werden: Vor mehr als vier Jahren rief die Bundeskanzlerin Angela Merkel gemeinsam mit den Ministerpräsidenten der Länder die „Bildungsrepublik Deutschland“ aus. Beim Dresdner Bildungsgipfel im Oktober 2008 einigten sich Bund und Länder auf wenige Ziele, ohne deren konkrete Umsetzung zu fixieren. Die Ausgaben für Bildung und Forschung sollen auf zehn Prozent des Bruttoinlands- produkts (BIP) steigen, die Zahl der Schulabbrecher und der jungen Menschen ohne abgeschlossene Ausbildung halbiert werden. Mehr Menschen sollen ein Studium aufnehmen und sich weiterbilden. Für ein Drittel der Kinder, die jünger als drei Jahre sind, müsse ein Krippenplatz bereit stehen.

Nimmt man diese Ziele ernst, hätten Bund und Länder fortan alle Hände voll zu tun. Noch immer leben in Deutschland 7,5 Millionen Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können. 17 Prozent der Menschen im Alter von 20 bis 29 Jahren haben keine abgeschlossene Ausbildung. Mehr als 50.000 Jugendliche verlassen Jahr für Jahr die Schule ohne einen Abschluss. Selbst bei gleicher Leistung hat das Kind eines Akademikers gegenüber einem Arbeiterkind eine drei Mal so große Chance das Gymnasium zu besuchen. Gute Bildung bleibt ein

vererbtes Privileg der höheren Schichten. Der Weg in die Bildungsrepublik Deutschland ist weit.

Der DGB und die Mitgliedsgewerkschaften haben sich entschieden, die Regierungschefs an ihren eigenen Versprechen zu messen. Zum vierten Jahrestag des Bildungsgipfels müssten bereits signifikante Fortschritte messbar sein, wenn Bund und Länder – wie vereinbart – ihre Ziele bis 2013 bzw. 2015 erreichen wollen. Der DGB hat deshalb den Essener Bildungsforscher Prof. Dr. Klaus Klemm beauftragt, eine Bilanz der ersten vier Jahre zu ziehen: Was ist aus den Dresdner Versprechen geworden?

Obwohl es in jüngster Zeit zahlreiche Reformen im Bildungswesen gab, bleibt Klemms Fazit ernüchternd: Bei vier von sechs wesentlichen Zielen des Bildungsgipfels läuft die Umsetzung entweder schleppend oder mit nur kaum wahrnehmbaren Fortschritten. Bund und Länder drohen beim Krippenausbau, den jungen Menschen ohne Schul- oder Berufsabschluss sowie der Weiterbildung ihre Ziele zu verfehlen. Lediglich bei der Anhebung der

Studienanfänger-Quote ist ein Erfolg zu verzeichnen.

Eine Bilanz – vier Jahre nach dem Bildungsgipfel in Dresden – zeigt:

• Krippenausbau: Beim Ausbau der Betreuung der unter Dreijährigen liegt Deutschland im Betreuungsjahr 2009/10 mit einem Platzangebot von 27,6 Prozent noch weit hinter dem für 2013 angesteuerten Ziel von 35 Prozent zurück. Insgesamt fehlen zur Zielerreichung noch 143.000 Plätze. Um die vom Statistischen Bundesamt angenommene Bedarfsdeckung (39 Prozent Plätze für 39 Prozent der unter Dreijährigen) zu erreichen, müssten sogar bis 2013 noch 220.000 zusätzliche Plätze geschaffen werden. Auch die Deckung des durch den Ausbau entstehenden Personalbedarfs ist nicht in Sicht. Allein bis 2013 werden bundesweit in den Kindertageseinrichtungen etwa 22.400 und in der

Kindertagespflege zwischen 22.000 und 29.000 Personen fehlen.

• Senkung der Zahl der jungen Menschen ohne Schulabschluss: Die angestrebte Halbierung der Quote der Absolventen allgemein bildender Schulen ohne Hauptschulabschluss auf vier Prozent ist nicht erkennbar. In den Jahren von 2000 bis 2011 ist diese Quote um 3,2 Prozentpunkte gesunken – von 9,4 auf 6,2 Prozent. Ein Maßnahmebündel, das in diesem Handlungsfeld Erfolge versprechen würde, ist nicht erkennbar – schon gar nicht eines, das die Förderschulen, aus denen mehr als die Hälfte der Absolventen ohne Hauptschulabschluss stammen, einbezöge.

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• Senkung der Zahl der jungen Menschen ohne Berufsabschluss: Auch die gleichfalls angestrebte Halbierung der Quote junger Erwachsener, die keinen Berufsabschluss erwerben, ist nicht in Sicht: Von 2008 bis 2011 hat sich die entsprechende Quote von 17,2 Prozent auf 15,9 Prozent nur sehr

geringfügig verringert. Da die Integrierte Ausbildungsberichterstattung auch für 2011 noch eine Zahl von fast 300.000 jungen Erwachsenen im Übergangssystem vermeldet (jenem System, das keinen Berufsabschluss vermittelt), besteht kein Anlass, optimistisch in die nähere Zukunft zu blicken.

• Anhebung der Quote der Studienanfänger: Das Ziel der Anhebung der Quote der Studienanfänger auf 40 Prozent wurde inzwischen mit 55 Prozent (2011) weit übertroffen. Diese Entwicklung macht allerdings auch auf die Schwierigkeiten der Hochschulen, den jungen Studierenden angemessene Studienbedingungen zu bieten, aufmerksam.

• Höhere Weiterbildungsquote: Eine Steigerung der Quote der Weiterbildungsbeteiligung auf 50 Prozent der Erwerbsbevölkerung ist nicht in Sicht: Im Zeitraum von 2007 bis 2010 ist diese Quote von 44 auf 42 Prozent leicht abgesunken.

In der Bildungsfinanzierung tritt Deutschland weiter auf der Stelle. Während Klemm, gestützt auf den Bildungsfinanzbericht 2012, zu dem Ergebnis kommt, den Zielen von Dresden sei man sehr nahe gekommen, hinkt die Bundesrepublik im OECD-Vergleich weiter deutlich hinterher. Danach lag das Niveau der Ausgaben für Bildungseinrichtungen im Jahr 2009 bei 5,3 Prozent und damit deutlich unter dem OECD-Durchschnitt von 6,2 Prozent. Der DGB fordert eine Steigerung der Bildungsausgaben auf 7 Prozent nach OECD-Standards. Insofern besteht hier weiter dringender Handlungsbedarf.

Ausbildungspakt

Trotz guter Wirtschaftsentwicklung bleibt die Lage auf dem Ausbildungsmarkt enttäuschend. Die Spitzenver- bände der Wirtschaft haben die Chance des demographischen Wandels nicht genutzt, um gerade auch Jugend- lichen mit mittlerem Schulabschluss oder auch Hauptschulabschluss bessere Chancen auf dem Ausbildungsmarkt zu bieten. Im Jahr 2012 wurden nur 551.271 Ausbildungsverträge abgeschlossen. Seit der Wiedervereinigung gab es nur 2005 ein schlechteres Ergebnis. Die Quote der Ausbildungsbetriebe ist auf 21,7 Prozent gefallen.

Auch das ist der niedrigste Stand seit 2001. Während die Spitzenverbände über den vermeintlichen Fachkräfte- mangel klagen, kommen sie ihrer Verantwortung für die Ausbildung der jungen Generation immer weniger nach.

Glänzende Ausbildungschancen für junge Menschen sind leider noch immer eine Fata Morgana. Zwar rechnet der Ausbildungspakt nur mit rund 7.700 unversorgten Bewerbern. Er zählt aber mehr als 60.000 Bewerberinnen und Bewerber als versorgt, die keinen Ausbildungsplatz bekommen haben und sich mit Bewerbungstrainings, Ein- stiegsqualifizierungen und Praktika über Wasser halten. Und das bei nur 30.000 offenen Plätzen. In Wahrheit übersteigt die Zahl der unversorgten Bewerberinnen und Bewerber die Zahl der offenen Plätze um mehr als das Doppelte.

Viele Branchen, die lautstark über fehlende Auszubildende klagen, haben oft inakzeptable Ausbildungsbeding- ungen. Viele Betriebe sind schlicht nicht ausbildungsreif: Sie bieten eine niedrige Vergütung. Sie halten viele Überstunden und unregelmäßige Arbeitszeiten für normal. Hohe Abbrecherquoten von mehr als 40 Prozent und geringe Übernahmequoten sind nicht selten, gerade in Hotels und Gaststätten. Wenn junge Menschen als billige Arbeitskräfte ausgenutzt werden, bewerben sie sich in diesen Unternehmen nicht mehr. So kommen auf 100 gemeldete Stellen in der Gastronomie nur 37 registrierte Bewerber. Wenn Betriebe für Bewerber attraktiv sein wollen, müssen sie ihre Azubis besser bezahlen, die Qualität der Ausbildung verbessern und mehr Azubis übernehmen.

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Während der Ausbildungspakt Jahr für Jahr eine entspannte Lage verkündet, ist gleichzeitig laut Statistischem Bundesamt die Zahl der jungen Menschen im Alter von 20 bis 29 Jahren ohne abgeschlossene Ausbildung mittlerweile bei 1,5 Millionen angekommen. Das sind immerhin rund 15 Prozent dieser Altersgruppe.

7. Fachkräftemangel: Auch inländisches Potenzial aktivieren!

Bei der Sicherung von Fachkräften setzt die Bundesregierung vornehmlich auf qualifizierte Zuwanderung. Die Aus- und Weiterbildung des inländischen Beschäftigungspotenzials, insbesondere die Aktivierung von Langzeit- arbeitslosen, wird aus Kostengründen vernachlässigt. Zwar gehört zu den im Fachkräftekonzept identifizierten Sicherungspfaden auch die Integration von in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten. Neben den Erfolgen bei der schulischen Integration und auch des Rückgangs der Arbeitslosigkeit bleibt die Situation von Menschen ohne dauerhaften gesicherten Aufenthalt aber problematisch. Ein großer Teil der ausländischen Bevölkerung verfügt nur über ein befristetes Aufenthaltsrecht und rund 87.000 Personen sind nur geduldet, obwohl sie bereits seit Jahren in Deutschland leben. Das Aufenthaltsrecht stellt mit seinen Beschränkungen und Restriktionen ein Arbeitsmarkthemmnis dar. Dies zeigt sich auch in der Abhängigkeit von Geduldeten und Flüchtlingen von staatlichen Leistungen (Asylbewerberleistungsgesetz, ALG II). Aus gewerkschaftlicher Sicht erforderlich ist eine Veränderung des Aufenthaltsrechts, mit dem Ziel, allen sich in Deutschland erlaubt aufhaltenden Ausländern einen gleichrangigen Zugang zum Arbeitsmarkt zu gewähren.

Zentraler Bestandteil des Fachkräftekonzeptes soll die Erleichterung der Zuwanderung aus Drittstaaten sein. Das NRP weist auf die Verabschiedung des Gesetzes zur Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie der EU hin.

Unabhängig von der Kritik des DGB an der nicht europarechtskonformen Umsetzung der Richtlinie in Bezug auf das Mindestgehalt führt das Gesetz zu weiteren Aufenthaltstiteln. Sie verstärken den Eindruck, dass das Zuwanderungsrecht weiter verkompliziert wird. Die Zahl der erteilten Aufenthaltstitel (Blaue Karte EU) zeigt deutlich die immer noch geringe Bedeutung. Von Juli bis Dezember 2012 wurden lediglich 188 Blue-Cards an neu eingereiste Ausländer erteilt. Das geltende Aufenthaltsrecht und noch stärker die geplante Beschäftigungs- verordnung orientieren sich fast ausschließlich an aktuell vorhandenen Schwierigkeiten bei der Stellenbesetzung.

Verkannt wird aber, dass eine Zuwanderungsentscheidung eine längerfristige Perspektive voraussetzt und gleichzeitig die Möglichkeiten des Familiennachzugs eine besondere Rolle spielen. Außerdem muss sich

Zuwanderung statt an kurzfristigen Bedarfen an einer längerfristigen Arbeitskräfteentwicklung orientieren. Daher fordert der DGB neben einfacheren, durchschaubaren Regelungen für die nachfrageorientierte Zuwanderung die Einführung eines Punktesystems, mit dem zuwanderungswillige Drittstaatsangehörige auf Dauer nach

Deutschland übersiedeln können.

Aus Sicht des DGB problematisch ist der verstärkte Einsatz von grenzüberschreitend tätigen Arbeitskräften vor allem aus EU-Mitgliedstaaten. Die Erfahrungen des vom BMAS und dem ESF unterstützen Projektes „Faire Mobilität“ zeigen, dass die Beschäftigten vielfach in prekären Beschäftigungssituationen eingesetzt werden und teilweise um Lohn und Sozialversicherungsbeiträge betrogen werden. Kontrollen sind derzeit wegen der europäischen Rechtsprechung nur unzureichend möglich. Die Bundesregierung ist aufgefordert, den Grundsatz der Gleichbehandlung auch bei grenzüberschreitend eingesetzten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern durchzusetzen.

8. Frauenerwerbsbeteiligung: Flexibilität im Dienste der Wirtschaft?

Die Beschäftigungspolitik verzeichnet nur auf den ersten Blick Fortschritte. Die Erwerbstätigenquote von Frauen in Deutschland stieg zwar kontinuierlich und lag 2012 bei mehr als 67 Prozent. Das verdeckt jedoch die

Tatsache, dass sich der Arbeitsmarkt weiter spaltet – in sinkende Vollzeitarbeit und in immer mehr Teilzeitarbeit, dabei vor allem in Minijobs. Geringfügige Beschäftigung ist sowohl aus arbeitsmarkt- wie

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gleichstellungspolitischer Perspektive ausführlich kritisch beleuchtet und bewertet worden; sie ist die umfangreichste Form prekärer Beschäftigung von Frauen in Deutschland und ein Grund für die nach wie vor erhebliche Entgeltlücke zwischen den Geschlechtern. Denn die Anteile von Minijobber/innen am

Niedriglohnsektor waren und sind enorm hoch.

Hinter einer enormen Annährung der Erwerbsquoten von Frauen und Männern – die Differenz liegt gegenwärtig nur noch bei rund 10 Prozent – verbergen sich tiefgreifende Unterschiede. Drei von ihnen prägen das

Arbeitsleben besonders:

- die horizontale Segregation; Frauen und Männer üben verschiedene Berufe aus,

- die vertikale Segregation; Frauen und Männer arbeiten in diesen Berufen auf verschiedenen Positionen, - die Kluft zwischen den Arbeitsvolumina, die beide Geschlechter ableisten.

Die absolute Zahl abhängig beschäftigter Frauen stieg in den letzten Jahren – allein zwischen 1991 und 2007 nahm sie um fast 12 Prozent zu. In der gleichen Zeit ging sie unter Männern um 8 Prozent zurück. Doch mehr als die Hälfte der Frauen ist dabei in Teilzeit, ob sozialversicherungspflichtig oder im Mini-Job, beschäftigt; unter Männern sind es hingegen nur knapp 17 Prozent.

Frauen stellen inzwischen die Hälfte der Erwerbstätigen, jedoch gingen in den letzten Jahren nur gut 40 Prozent aller Arbeitsstunden auf ihr Konto. Rechnet man die immer wieder aufgeführte Erwerbstätigenquote von Frauen in Vollzeitstellen um, so lag sie auch 2011 nur bei knapp 50 Prozent. Das von Frauen geleistete Gesamtarbeits- volumen ist von 1991 bis 2007 fast stabil geblieben (- 0,1Prozent). Ihre durchschnittlichen Wochen- und Jahresarbeitszeiten sinken seit Jahren kontinuierlich.

Von den gut fünf Millionen sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigten waren Mitte 2011 85 Prozent Frauen. Davon arbeiteten nicht wenige unter 18 Stunden die Woche. Von den Frauen mit einer

sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung arbeitete jede Dritte in Teilzeit, von allen erwerbstätigen Frauen jede Zweite. Mit Blick auf die zunehmende Flexibilisierung der Lebenskonstellationen und die steigende

Prekarisierung von Erwerbsbiographien von Frauen und Männern ist die Frage nach der Möglichkeit, die Existenz eigenständig zu sichern, von zentraler Bedeutung.

9. Vereinbarkeit von Familie und Beruf: verspätet und aufs falsche Gleis gesetzt

Der Bedarf privater Haushalte an Hilfe bei Haushaltsführung, Kinderbetreuung und bei der Pflege von Ange- hörigen – kurz an haushaltsnahen und personenbezogenen Dienstleistungen – steigt unbestritten. Er wird in Deutschland aber überwiegend durch irreguläre Arbeit gedeckt. Ziel der Debatte um die Qualität haushaltsnaher und personenbezogener Dienstleistungen muss es sein, praxistaugliche Regulierungen für Beschäftigte in Haus- halten und für Haushalte als Arbeitgeber zu diskutieren und zu erarbeiten. Das hat auch die Bundesregierung erkannt, in dem sie das Thema in ihren Demographieprozess aufgenommen hat.7

Dabei sind folgende Aspekte wichtig: Aus Sicht der Haushalte stellt sich die zentrale Frage, ob und wie qualitativ hochwertige und dennoch bezahlbare haushaltsnahe Dienstleistungen bedarfsnah, unbürokratisch und legal in Anspruch genommen werden können. Aus Sicht der Beschäftigten besteht der Anspruch, dass auch sie ein Recht

7 Die Bundesregierung unterstellt, dass sie mit ihrer Demografiestrategie die Voraussetzung dafür geschaffen hat, „um alle gesellschaftlichen Kräfte einzubeziehen und die Weichen zur Bewältigung der demografischen Herausforderungen zu stellen“. Leider beschränkt sich die Demografiestrategie bislang nur auf eine Diskussionsrunde. Erst die nächsten Monate und Jahre werden zeigen, wie ernst es der Bundesregierung wirklich ist. So werden beispielsweise im Bereich des Arbeitsschutzes und der Gesundheitsförderung im Betrieb rechtliche Veränderungen notwendig sein, um die Arbeitgeber stärker in die Pflicht zu nehmen.

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auf gute und Existenz sichernde Arbeit, auf Tariflöhne und Arbeitsschutz haben. Dabei sind die gegenwärtig geltenden Tarifverträge, die sowohl für den Privathaushalt als auch für Dienstleistungsagenturen, deren Einsatz- ort der private Haushalt ist, zu beachten. Aus Sicht der sozialen Sicherung muss es Ziel sein, Beschäftigten im Haushalt eine versicherte Tätigkeit zu ermöglichen und vorhandene, nicht angemeldete Beschäftigungsverhält- nisse (derzeit ca. 3,75 Mio.) zu legalisieren. Eine Befreiung von Sozialversicherungsbeiträgen ist nach Ansicht des DGB nicht der richtige Weg.

Grundsätzlich gilt: Haushalte sind Arbeitgeber, sie haben Rechte und Pflichten. Der steigende Bedarf an Dienstleistungsangeboten bedarf guter Angebote, die mit der Schaffung sozialversicherungspflichtiger Arbeit einhergehen müssen. Und es bedarf dringend einer Debatte über die Förderung haushaltsnaher Dienstleitungen zur Unterstützung und Entlastung von Familien. Zentraler Ansatz zur Förderung regulärer Beschäftigung im Haushalt ist nach Ansicht des DGB der Ausbau einer kostengünstigen und bedarfsgerechten Infrastruktur für die Betreuung von Kindern und älteren Menschen. Ergänzend könnten Dienstleistungsunternehmen die (meist kleineren) Jobs im Haushalt zu sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung bündeln – und zwar in (geförderten) Dienstleistungsagenturen.

Ab August 2013 gibt es für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz. Für junge Mütter und Väter wäre die Umsetzung des gesetzlich festgeschrieben Anspruchs ein wichtiger Schritt: Sie könnten sich endlich für Familie undBeruf entscheiden. Aktuelle Berechnungen gehen jedoch davon aus, dass der Bedarf an Betreuungsplätzen nicht rechtzeitig gedeckt werden wird.8 Konkret wurde im vergangenen Jahr ein Zusatzbedarf von bundesweit 30.000 Plätzen ermittelt. Anstatt der 750.000 Plätze werden nun insgesamt 780.000 neue Plätze benötigt.

Neben dem Mangel beim Platzangebot ist spätestens mit Eintritt des Rechtsanspruches eine enorme

Fachkräftelücke zu erwarten.9 Dann werden zehntausende zusätzliche Erzieherinnen und Erzieher benötigt. Doch schon jetzt fehlt es an ausreichend qualifiziertem pädagogischem Personal, um die Rahmenbedingungen und die Qualität der frühkindlichen Bildung durch kleinere Gruppen, mehr Zeit für die pädagogische Vor- und

Nachbereitung und Angebote für die Ganztagsbetreuung zu verbessern.

Wenn mehr Frauen und Männer für den Erzieherberuf gewonnen werden sollen, muss jedoch die Qualität steigen. Das bedeutet nicht nur eine Verbesserung der Rahmenbedingungen, im Gegensatz zu einer Qualitätsab- senkung, um das 35-Prozent-Ziel zu erreichen. Auch die schlechte Bezahlung von Erzieherinnen und Erziehern steht im krassen Widerspruch zu den gestiegenen Anforderungen an den Beruf. So müssen Teilzeitbeschäftigte häufig mit Transferleistungen nach Hartz IV aufstocken, Neueinsteiger/-innen werden fast nur noch befristet eingestellt.

Eine grundlegende Qualitätsoffensive in der frühkindlichen Erziehung und Bildung ist arbeitsmarktpolitisch geboten und bildungspolitisch notwendig. Zusammengefasst: Die Arbeitsbedingungen, das Einkommen und die Berufsperspektiven müssen deutlich verbessert werden.10

Wer gute Betreuung und frühkindliche Bildung will, muss nicht nur in den Kindertagesstätten, sondern auch in der Tagespflege für ein angemessenes Ausbildungsniveau sorgen. Zwar absolvieren immer mehr

8 Daten des Statistischen Bundesamtes vom Nov. 2012 (demnach fehlen rd. 220.000 Plätze), der 3. Zwischenbericht zur Evaluation des Kinderförderungsgesetzes der Bundesregierung 2012 und die aktuellen Erhebungen des Deutschen Jugendinstituts ergeben, dass es beim Ausbau starke regionale Unterschiede gibt und der Bedarf insgesamt, v.a. in den Großstädten, höher ausfallen wird.

9 Vgl. Schilling, M.: Personalbedarfsberechnung für den Bereich Kindertagesbetreuung für den Zeitraum März 2011 bis August 2013.

Aktualisierung und Erweiterung der Publikation „Der U 3-Ausbau und seine personellen Folgen“ von Th. Rauschenbach und M. Schilling, München 2010, Dortmund 2012

10 Vgl. auch Arbeitsqualität der Erzieherinnen und Erzieher, Sonderauswertung der DGB-Index-Erhebungen Gute Arbeit 2007/2008, hrsg.

vom GEW-Hauptvorstand, Frankfurt/M.

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Tagespflegekräfte den erforderlichen Qualifikationskurs von 160 Stunden, doch verfügen noch immer 55 Prozent der Tagespflegepersonen in Westdeutschland und 36 Prozent in Ostdeutschland nicht über diese

Minimalqualifikation. Wer echte Qualität in der frühkindlichen Bildung will, darf diesem Problem nicht länger aus dem Weg gehen. Der Ausbau der frühkindlichen Bildung darf jedoch nicht vor allem über Tagespflegepersonen erfolgen. Tagesmütter und Tagesväter können eine gute Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur nur ergänzen, nicht ersetzen. Auch aus diesem Grund muss der Ausbau von Kindertagesstätten vorangebracht werden.

Vor diesem Hintergrund war es politisch verantwortungslos, das Betreuungsgeld für Eltern, die ihren Anspruch auf eine öffentlich geförderte Betreuung nicht wahrnehmen, einzuführen. Die für das Betreuungsgeld

veranschlagten zwei Milliarden Euro pro Jahr hätte in eine dauerhafte und zukunftsfähige Bildungsinfrastruktur investiert werden müssen, von der alle Familien profitieren. Das Betreuungsgeld widerspricht dem erklärten Ziel der Bundesregierung, die Erwerbsbeteiligung von Frauen zu erhöhen, den beruflichen Wiedereinstieg zu erleichtern und den Frauenanteil in Führungspositionen zu steigern. Eine Mehrheit der Gesellschaft lehnt die Einführung des Betreuungsgeldes ab.

Der DGB, die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft und die Bundesregierung haben sich in der „Charta für familienbewusste Arbeitszeiten“ verpflichtet, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern.

Insbesondere haben sie vereinbart, dass „(…) die familienbezogenen Leistungen des Staates überprüft und wo nötig weiter angepasst und Fehlanreize beseitigt werden.“ Die Einführung des Betreuungsgeldes ist das genaue Gegenteil dessen, wozu sich die Unterzeichner verpflichtet haben.

Der DGB fordert, schnell einen Krippengipfel einzuberufen, bei dem sich Bund, Länder und Kommunen auf einen gemeinsamen Ausbau- und Finanzierungsplan einigen. Er ist notwendig, damit der Krippenausbau nicht länger stagniert und ab 2013 eine teure Klagewelle seitens der Eltern droht. Eltern wollen heute ihre berufliche Entwicklung kontinuierlich fortsetzen und brauchen dafür Unterstützung durch ein hochwertiges Angebot an Kinderbetreuung. Auch bildungspolitisch ist der Krippenausbau unverzichtbar, denn in dieser Phase wird der Grundstein für den Bildungserfolg der Kinder gelegt.

Dass die Bundesregierung immer noch der Überzeugung ist, dass das Familienpflegezeitgesetz der große Wurf für die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege ist, darf bezweifelt werden. Nur 147 Arbeitnehmerinnen und

Arbeitnehmer haben bisher Familienpflegezeit beantragt. Der Großteil nimmt auch nur die Gruppenversicherung des Bundesamtes in Anspruch. Die Mehrheit der Arbeitgeber verzichtet auf das zinslose Darlehen. Dass es keinen Rechtsanspruch auf Familienpflegezeiten gibt, könnte eine der Ursachen für den Flop sein. Aus Sicht des DGB funktioniert aber der gesamte Ansatz von Familienpflegezeiten bestenfalls theoretisch, aber sicher nicht praktisch. Denn die Pflegebedürftigkeit eines Angehörigen ist nicht planbar. Besonders kritikwürdig ist, dass das gesamtgesellschaftliche Risiko der Pflegebedürftigkeit mit Familienpflegezeiten individualisiert wird. Bei vollem Ausschöpfen der gesetzlich förderungsfähigen Familienpflegezeit erhält der/die Beschäftigte über einen Zeitraum von vier Jahren nur 75 Prozent des ursprünglichen Gehalts. Hinzu kommen die Kosten für den Abschluss einer Pflichtversicherung, die der DGB weiterhin scharf kritisiert. Dass diejenigen, die Familienpflegezeiten in Anspruch nehmen, sich gegen Berufsunfähigkeit und den eigenen Tod absichern müssen, ist einfach nur geschmacklos.

10. Pflege: Struktureller Reformbedarf bleibt

Die Herausforderungen in der Pflege nehmen zu. So wird es im Jahr 2030 nach den Prognosen des Statistischen Bundesamtes etwa 3,4 Mio. pflegebedürftige Menschen geben, das sind ungefähr eine Million mehr als heute.

Parallel dazu werden im selben Zeitraum eine halbe Million Vollzeit-Pflegekräfte fehlen. Auch die Familie als

‚Pflegedienst der Nation’ fällt immer häufiger aus, weil keine Kinder in der Familie da sind oder weil sie woanders leben als die zu pflegenden Eltern. Trotz des Grundversorgungscharakters der Leistungen der Pflegeversicherung

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sind damit mehr Kosten vorprogrammiert. Mit der Ankündigung der Pflegereform im Sinne eines

Pflegeneuausrichtungsgesetzes (PNG) war ursprünglich geplant, eine strukturelle Weiterentwicklung der Pflege voranzutreiben, um auf die Probleme der Zukunft gut vorbereitet zu sein.

Seit dem 1.1.2013 ist nun ein Gesetz in Kraft, das als Ergebnis des anhaltenden Koalitionsstreites auf den kleinsten gemeinsamen Nenner eingedampft wurde. Die Pflegereform bringt zwar punktuelle

Leistungsverbesserungen, vernachlässigt aber den strukturellen Reformbedarf und trägt möglicherweise sogar zu einer weiteren Zersplitterung in der ohnehin unübersichtlichen Versorgungslandschaft der Pflege bei.

Das Kernstück der lang angekündigten Pflegereform, die Neu-Definition von Leistungsansprüchen für

pflegebedürftige Menschen, blieb genauso außen vor wie Maßnahmen zur Lösung des Fachkräftemangels in den Pflegebetrieben und eine nachhaltige Finanzierung der Pflegeversicherung. Über diese großen Lücken kann auch die Leistungsausweitung für demenziell erkrankte Menschen nicht hinwegtäuschen.

Die gravierendste Fehlentscheidung ist und bleibt die mit Spannung erwartete Antwort auf die Frage nach der künftigen Finanzierung steigender pflegerischer Leistungen. Die Fünf-Euro-Förderung von privaten

Pflegeverträgen ist angesichts des Pflegenotstands in Deutschland eine große Enttäuschung. Der 'Pflege-Bahr' löst die Probleme der Zukunft nicht, weil damit die notwendige Pflege – vor allem einkommensschwacher Menschen – weder heute noch in Zukunft finanziert werden kann.

Der DGB setzt sich daher nach wie vor für folgende Entwicklungen ein:

• Absicherung einer qualitativ hochwertigen pflegerischen Versorgung; dabei müssen die kommenden Bedarfs- und Kostensteigerungen von der sozialen Pflegeversicherung abgedeckt werden;

• Zeitnahe Umsetzung eines neuen und verbesserten Pflegebedürftigkeitsbegriffes;

• Bessere Rahmenbedingungen für die in der Pflege beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer;

• Absicherung des Pflegerisikos durch einkommensabhängige und paritätisch finanzierte Beiträge;

• Erweiterung der solidarischen Finanzierungsgrundlagen durch eine Weiterentwicklung der sozialen Pflegeversicherung zu einer Bürgerversicherung Pflege.

Insgesamt ergibt sich als Preis für spürbare und notwendige Leistungsverbesserungen, die mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und einer angemessenen Leistungsdynamisierung verbunden sind, eine

Beitragssteigerung auf ca. 2,8 Prozent. Dieser notwendige Beitragsanstieg lässt sich jedoch durch die Einführung einer Bürgerversicherung Pflege auf moderate 2,35 Prozent begrenzen. Mit einer Anhebung von je 0,2

Beitragspunkten für Arbeitnehmer und Arbeitgeber wäre im Rahmen einer Bürgerversicherung ein echter Durchbruch erreichbar, denn die heutigen und künftigen Herausforderungen wären auf lange Sicht finanzierbar.

Notwendig wären dazu die Steuerfinanzierung versicherungsfremder Leistungen in der Pflegeversicherung, die Beteiligung der Privaten Pflegeversicherung am solidarischen Ausgleich sowie die Einbeziehung von

Kapitaleinkünften in die Beitragspflicht.

Programme zur Minderung des Fachkräftemangels in der Pflege sollten Priorität besitzen. Notwendige

Anpassungen in der Personalbemessung gegenüber der immer stärker steigenden Zahl an Pflegebedürftigen und dem steigenden Pflegebedarf fehlen im PNG ebenso wie praktikable Lösungen, um die Arbeits- und

Lohnsituation der in der Pflege Beschäftigten entscheidend zu verbessern. Nur wenn es nachhaltig gelingt, den Fachkräftemangel in der Pflege zu beseitigen, wird sich auch die Situation der zu Pflegenden verbessern.

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11. Steuerpolitik: Schaffung eines effizienteren Steuersystems steht aus

Aus Sicht des DGB hat die Bundesregierung ihre Möglichkeiten zur Schaffung eines effizienteren Steuersystems bei Weitem noch nicht ausgenutzt. Beispielsweise gehört die Ehegattenbesteuerung in Deutschland auf den Prüfstand. Der DGB fordert eine grundsätzliche Reform der Familienförderung, in deren Zentrum die Kinderför- derung stehen muss. Das derzeit praktizierte Ehegattensplitting ist unzeitgemäß und ungerecht. Es begünstigt unabhängig vom Vorhandensein von Kindern die Alleinverdienerehe und bevorteilt außerdem Bezieher hoher Einkommen. Zum anderen wirkt das Ehegattensplitting als ein wesentlicher Mechanismus, mit dem Frauen vom Arbeitsmarkt ferngehalten oder in – oft marginale – Teilzeitbeschäftigung abgedrängt werden. Es sollte daher schrittweise in Richtung einer Individualbesteuerung umgeformt werden. Auch diese kann so ausgestaltet sein, dass sie den grundgesetzlichen Anforderungen genügt. Ein erster Schritt wäre, das Faktorverfahren in Klasse IV/IV verbindlich zu machen und die Steuerklasse V entfallen zu lassen. Daraus resultierende finanzielle Mehreinnahmen sollen für die Förderung von Familien mit Kindern sowie die Ausweitung des Angebotes von Kinderbetreuungseinrichtungen eingesetzt werden.

Ein großes, bislang nicht gelöstes Problem ist die Verbesserung der Bekämpfung von Steuerhinterziehung. Hier muss die Bundesregierung auch auf internationaler Ebene stärkeres Engagement zeigen. So kommt es aus unserer Sicht bspw. darauf an, die multilateralen Vereinbarungen zum automatischen Informationsaustausch und zur gegenseitigen Amtshilfe zügig voranzutreiben und zu verbessern. Ziel muss es dabei sein, diese Abkommen umfänglich und umgehungsfrei auszugestalten. Ausnahmen über den Austausch von Informationen über bestimmte Einkunftsarten, wie Einkünfte aus Kapitalgewinnen und selbstständiger Arbeit sowie Nutzungsent- gelte, sind unverzüglich abzustellen. Bilaterale Abkommen, die meist Ausnahmen für bestimmte Sachverhalte oder Erschwernisse für den Informationsaustausch beinhalten, unterlaufen dieses Ziel. Aber nicht nur von multi- lateralen Abkommen alleine sind Fortschritte bei der Bekämpfung der grenzüberschreitenden Steuerhinterziehung zu erwarten. So hat die FATCA Initiative der USA gezeigt, dass es großen Volkswirtschaften unabhängig von der Kooperationsbereitschaft einzelner Staaten möglich ist, von ausländischen Banken, die Geschäftsbeziehungen zu eigenen Staatsbürgern unterhalten, die Herausgabe von Informationen zu erzwingen: Banken, die die

Herausgabe von Daten an die US-Steuerbehörden verweigern sollten, müssen dann eine 30 prozentige Quellensteuer auf alle Einkünfte aus US-Anlagen bezahlen.

Aber alle diese Ansätze können auch nur dann zum Erfolg führen, wenn die deutsche Finanzverwaltung, insbesondere die Steuerfahndung, endlich mit ausreichend Personal ausgestattet wird. Der DGB fordert daher, unverzüglich das Personal mindestens entsprechend der Personalbedarfsplanungen aufzustocken.

Mit ihrer Antwort auf die EuGH-Entscheidung zur Besteuerung von Streubesitzdividenden geht die

Bundesregierung den falschen Weg: Der EuGH monierte, dass ausländische Kapitalgesellschaften beim Bezug dieser Ausschüttungen aus Deutschland nicht mit deutschen Unternehmen gleichgestellt seien. So hätten nach deutschem Recht nur in Deutschland ansässige Unternehmen die Möglichkeit, die darauf zu entrichtende Kapitalertragsteuer vollständig mit der Körperschaftsteuer zu verrechnen. Dem Urteil konnte auf zweierlei Weise entsprochen werden: Entweder dadurch, dass auch die ausländischen Unternehmen und Fonds von der

Kapitalertragsteuer befreit werden oder indem die faktische Steuerfreiheit für die hier ansässigen Unternehmen beendet wird. Mit letzterem Lösungsweg hätte die Bundesregierung nicht nur zusätzliche Steuermehreinnahmen von jährlich ein bis zwei Milliarden Euro erzielen können. Dies hätte zugleich auch eine vergleichbare Rechtslage wie in Frankreich und anderen europäischen Staaten geschaffen. Tatsächlich aber entschied sich die Regierungs- koalition für die rund 500 Millionen Euro teure Lösung, auch die im Ausland ansässigen Gesellschaften komplett von der Kapitalertragsteuer zu befreien.

Gemessen an ihrem Bekenntnis zur europäischen Angleichung der Unternehmensbesteuerung ist das Handeln der Bundesregierung nicht konsistent. Selbst wenn die Möglichkeit besteht, Einnahmen in Milliardenhöhe zu erzielen und zugleich mit dem Steuerrecht anderer großer EU-Mitgliedstaaten gleichzuziehen, scheint es der

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