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U Alles zu seiner Zeit

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Academic year: 2022

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Medien, Moden, Medizin

npünktlichkeit hat mir schon eine schwere Kindheit bereitet. Meine Mutter – sonst die Al- lerbeste – entsprach dem Cliché der Frauen, die immer zu spät kommen. Ich lernte warten: beim Kieferorthopäden, vor dem Lehrerzimmer, in eisiger Kälte an irgendeinem Treffpunkt. Sie kam völlig ausser Atem an und meckerte auch noch mich, den Zahn - experten und die Lehrer an. Immer wieder sass mein Vater schwitzend in Hut und Mantel im geheizten Wohnzimmer und schwor, er habe noch nie eine Ouvertüre hören können und sei froh, wenn er vor dem 1. Akt noch in die Oper käme, während Mutter sich nicht für die richtige Abendgarderobe und die passenden Schuhe entscheiden konnte. Sie war daran schuld, dass uns Züge wegfuhren, Flugzeuge wegflogen, Ferien- tage verloren gingen und wir schöne Ereignisse ver- passten. Mein Vater seufzte nur, meine Geschwister und ich litten. Wir wurden überpünktlich und heirateten auch solche Menschen. Wenn wir bei Freunden ein - geladen sind, müssen wir noch einen Spaziergang in der Nachbarschaft machen, weil wir viel zu früh sind.

Wir verliessen unpünktliche Arbeitgeber und Chefs.

Wünschten uns, dass alle Menschen die «Höflichkeit der Könige» ausübten. Das Zeitmanagement südlicher Länder ertrage ich nur in Ferienlaune. Das meiner Patienten hingegen gar nicht – mein Kindheitstrauma wird täglich wiederholt. Patienten kommen zu spät, kommen zu früh, kommen gar nicht oder unangemel- det. Und sie meckern. Auch die wenigen Pünktlichen, regulär Angemeldeten. Sie sind ärgerlich – und haben mein volles Verständnis - weil ihnen die Notfälle vorge- zogen werden. Wenn sie dann mit zwanzig Minuten Verspätung schliesslich dran kommen, habe ich das Gefühl, dass sie extra langsam reden und bleiern sit- zen, weil sie so lange auf diesen Moment warten muss- ten und nun ein von der Verfassung garantiertes Anrecht auf meine Zeit haben. Weil mich zu viele Men- schen im Wartezimmer nervös machen, bestellen wir unsere Patienten nach einem ausgeklügelten System.

Mit Pufferzonen. Trotzdem sitzen entweder Trauben von Kranken oder gar niemand im Wartezimmer. Letz- teres kostet Geld, aber erlaubt Kaffee- und Literatur - lesepausen. Ersteres stresst mich. Da gibt es die «chro- nisch rezidivierenden Notfälle»: Leute, die immer wie- der mit etwas so Hochdramatischem hereinplatzen, dass man sie wirklich nicht weiterschicken, warten las- sen oder vertrösten kann. Treuherzig sagen sie: «Ja, es

ging schon gestern los, aber ich dachte, es geht vorbei und wollte Sie nicht stören.» Man schiebt sie ein und verstärkt damit ihr Verhalten. Aber sonst wäre man unethisch, käme der Staatsanwalt wegen unterlassener Hilfeleistung…Keine pädagogische Intervention hilft bei den Konfusen, die sich weder Tag noch Uhrzeit merken können. Vermutlich haben sie eine Variante der Dyskalkulie. Es ist ihnen schrecklich peinlich und sie entschuldigen sich zerknirscht. Dann gibt es die Locke- ren, oft aus anderen Kulturkreisen, die mal eben so hereinschneien und echt erstaunt sind, dass der Doktor sich nicht über diesen Vertrauensbeweis für seine Per- son und Kompetenz freut. Freudig setzen sie sich hin, blättern sämtliche Illustrierten durch, während sie vier Stunden geduldig warten und dann heiter ihr Anliegen schildern. Es gibt die Rücksichtsvollen, die nachts um elf anrufen mit Epistaxis, die bereits um sechs Uhr be- gann. Mit anämischer Stimme kündigen sie an, dass sie in fünf Minuten in der Praxis seien. Und schliesslich nachts um drei erscheinen. Sie hätten noch geduscht.

«Ich wollte Ihnen doch nicht einen so schmutzig-blu - tigen Patienten zumuten!» Ausserdem haben sie noch ihr blutverschmiertes Bett frisch bezogen, die Küche aufgeräumt, den Hund gefüttert, der Putzfrau, der Nachbarin und dem Milchmann einen Zettel hingelegt und ihre E-Mails beantwortet. Alles mit einem Handtuch an die Nase gepresst und einem Hämoglobin von in- zwischen sechs mmol/l. Was soll man da tun, ausser leise zu seufzen? Genau wie bei den Charmanten, die immer ein bisschen bis sehr viel zu spät kommen, aber charysmatisch lächeln und von denen man weiss, dass sie selbst nie auf die Uhr schauen oder mit ihrer Zeit geizen würden, wenn sie anderen helfen könnten. Kurz – als Hausarzt lernt man die Typologie der Zuspätkom- menden kennen und ordnet seine Patienten und Pa- tientinnen den einzelnen Kategorien zu. Mit der Zeit ärgert man sich sogar kaum mehr. Nur bei den dreisten, schimpfenden Verspäteten ist man versucht, die Türe zuzuschlagen mit dem Gorbatschow-Zitat, dass das Leben den bestrafe, der zu spät komme. Doch dann sieht man das gestresste, kranke Kind an der Hand der chaotischen Mutter, die vermutlich ihre Handtasche nicht fand oder denkt an den Vortrag des Psychiaters über Persönlichkeitsstörungen. Seufzend lässt man die Kranken noch herein und ruft seine

Ehefrau an, um ihr zu sagen, dass sie schon mal vorausgehen soll in die Oper. Wenn man speditiv arbeitet, schafft man es noch vor dem ersten Akt …

Alles zu seiner Zeit

ARSENICUM

U

928

ARS MEDICI 22 2011

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