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Materialistische Menschenbilder in der Medizin und der Bedarf an Philosophie

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Academic year: 2022

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Bayerisches Ärzteblatt 2/2007 99

Gastkommentar

Der kranke Mensch in der Medizin wird immer häufiger als Kunde bezeichnet. Damit dringt das Menschenbild der Ökonomie in die Medizin ein – der Mensch als Homo oeconomicus. Dieses Menschenbild wurde vor allem vom Ökonomie- Nobelpreisträger Gary Becker entwickelt. Es beschreibt den Menschen als vom Nutzenkalkül determinierten Automaten. Zu diesem Men- schenbild kommt der Homo neurobiologicus von Hirnforschern wie Gerhard Roth oder Wolf Singer, die die frei entscheidende, selbstreflek- tierende Person zu einer Illusion erklären – die Person handle unbewusst von subortikalen Strukturen des Gehirns gesteuert und der Kor- tex kommentiere und begründe das Verhalten nur im Nachhinein, gewissermaßen als Ratio- nalisierung. Auch die Medizin selbst hat sich in letzter Zeit in der öffentlichen Darstellung ihrer Erfolge zunehmend als Reparaturmedizin und den Menschen als biomolekulare Maschine charakterisiert, die durch chirurgische Maß- nahmen und durch Pharmaka wieder instand gesetzt werden kann. Diese Sichtweisen führen insgesamt zu einem eindimensionalen, me- chanistischen und deterministischen Bild vom Menschen, dessen subjektiv erfahrene geis- tige Dimension nur noch von Religionen und im Krankenhaus vom Seelsorger anerkannt zu werden scheint.

Man vermisst im Spektrum dieser technizisti- schen Menschenbilder in zunehmenden Maße die vielschichtigen traditionellen Konzepte der medizinischen Anthropologie etwa von Vik- tor von Weizsäcker. Solche anthropologischen

Sichtweisen gehen von einer leiblichen und seelischen Existenz und Identität des Men- schen als ein in die Welt geworfenes, haltloses und gefährdetes Mängelwesen aus, das sozialer Bindungen bedarf – das zeigt sich in der Me- dizin beim von schwerer Krankheit befallenen Menschen, dem Homo patiens, wenn er als in- dividuelle Person, als Mensch in seiner Existenz gefährdet ist und als Wesen, das diese Situati- on und dabei auch sich selbst reflektiert. Dieses Wesen benötigt nicht nur Behandlung, sondern auch Beistand über den Homo curans, bei- spielsweise durch einen fürsorglich handelnden Arzt. Der erfahrende Arzt hat eine Vielzahl von Fragen an das Menschenbild der Medizin erlebt und ist dabei fachlich ziemlich allein gelassen – ausgehend von der problematischen Schwan- gerschaft, über perinatale Komplikationen, den Umgang mit Behinderungen, die Krankheiten der frühen Kindheit, die Gesundheitsprobleme der Adoleszenten und Erwachsenen, bis zu den komplexen Problemen des alternden, dementen Patienten und den Kranken im Finalstadium oder dem Toten nach frustraner Reanimation.

Als Hilfe bei solchen Praxisfragen hat sich zwar die Ethik im Umfeld der Medizin insti- tutionalisiert. Sie findet bei den genannten medizinischen Problemen, vor allem aber in der Transplantationsmedizin, beim Einsatz gen- technologischer Verfahren usw. Anwendung.

Allerdings ist die Ethik auf das Engste mit dem Menschenbild und dem Bild der Arzt-Patient- Beziehung verknüpft.

Wenn man nun noch die Möglichkeiten der Medizin, das Wesen von Krankheit jenseits von klinischen und labortechnischen, appara-

tiv ermittelten Parametern zu verstehen und zu erklären, prinzipiell betrachtet, begibt man sich in den Bereich der Erkenntnistheorie bzw.

Wissenschaftstheorie. Auf solche Erklärungs- probleme der modernen reduzierenden Medizin hat zuletzt der große Medizintheoretiker Ru- dolf Gross hingewiesen.

Es müsste also nicht nur die Anthropologie und die Ethik, sondern auch die Erkenntnistheorie stärker in die Medizin einbezogen werden. Das macht insgesamt deutlich, dass die Medizin derzeit unter einem starken Philosophie-Defizit leidet. Das führt zu einem zunehmenden Ver- lust an Nachdenklichkeit in der Medizin.

Was kann dagegen gemacht werden? Es scheint nur die grundlegende Revitalisierung der Philo- sophie als Bereich der Reflexion des Handelns weiterzuführen. Dazu sollten in Kliniken und auf medizinischen Kongressen mehr Veran- staltungen mit philosophischen Beiträgen ab- gehalten werden, die erfahrungsgemäß großes Interesse bei Kollegen wecken. Auch können Ärztekammern wenigstens gelegentlich die Philosophie zur Reflexion der Medizin einladen.

Schließlich haben die Universitäten in diesem Bereich Optionen, extracurriculäre Lehrveran- staltungen anzubieten, in denen jungen Stu- denten Leitkonzepte für ihr späteres klinisches Handeln vermittelt werden können.

Professor Dr. Dr. Dr. Felix Tretter, Isar-Amper-Klinikum,

Klinikum München-Ost, 85540 Haar,

E-Mail: tretter@krankenhaus-haar.de

Materialistische Menschenbilder in der Medizin und der Bedarf an Philosophie

Professor Dr. Dr. Dr. Felix Tretter

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