Übungen im Öffentlichen Recht I / FS 2017
Fall Nr. 3 / Haft
Gruppen K—M und W—Z
Prof. Regina Kiener / Dr. Goran Seferovic
Schritte einer Falllösung
I. Sachverhalt
o Hauptelemente?
o Bundesstaatliche Ebene?
o Akteure? - Beteiligte Behörden? Beteiligte Private?
o Welche Argumente werden vorgebracht?
o Welches sind die Etappen der Prozessgeschichte?
II. Thema
o Hauptproblem? Worum dreht sich der Fall?
o Auftrag: Was soll ich tun?
III. Recht
o Rechtsgebiet? Einschlägige Erlasse bzw. Normen?
o Rechtsfragen? Reihenfolge der Beantwortung?
FRAGE 1: BERÜHRTE GRUNDRECHTE
08.03.2017 Seite 3
Menschenwürde
Art. 7 BV
Recht auf Leben
Art. 10 Abs. 1 BV
Persönliche Freiheit
Art. 10 Abs. 2 / 3 BV
Schutz der Privatsphäre
Art. 13 BV
Recht auf Ehe und Familie
Art. 14 BV
Grundrechtlicher Schutz von Person und Persönlichkeit
Enger Konnex zu - Art. 12 BV
- Art. 10 Abs. 3 BV - den Kerngehalten
Körperliche Unversehrtheit
+ Art. 10 Abs. 3 BV
Geistige
Unversehrtheit
+ Art. 10 Abs. 3 BV
Bewegungsfreiheit
+ Art. 31 BV
+ Art. 10 Abs. 3 BV
«elementare Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung
FRAGE 2: GEGENSEITIGES VERHÄLTNIS
Echte und unechte Konkurrenz
Unechte Konkurrenz
Echte KonkurrenzEin staatlicher Akt berührt mehrere Grundrechte, deren Schutzbereiche sich
nicht überschneiden Ein staatlicher Akt berührt
mehrere Grundrechte, deren Schutzbereiche sich
überschneiden
Vorgehen bei Grundrechtskonkurrenz
Echte Grundrechtskonkurrenz
o Einzelprüfung der allenfalls tangierten Grundrechte, da diese nebeneinander gelten.
Unechte Grundrechtskonkurrenz
o Geprüft wird zuerst das speziellere Grundrecht.
o Der Schutz des allgemeinen Grundrechts ist subsidiär: Nur prüfen, wenn nicht alle Sachverhaltselemente durch speziellere Grundrechte gedeckt sind.
Bei der Überprüfung von Haftbedingungen
o Verhältnis von Art. 10 Abs. 2 zu Art. 10 Abs. 3 BV?
o Verhältnis von Art. 13 und Art. 10 Abs. 3 BV?
o Verhältnis von Art. 7 und Art. 10 Abs. 3 BV?
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Was ist «Folter»? – UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame,
unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe
Folter
o Vorsatz
o Zufügung schwerster körperlicher und/oder seelischer Schmerzen oder Leiden
o Zielgerichtetheit (Geständnis;
Bestrafung; Einschüchterung, etc.)
Erniedrigende Behandlung
o Das mit Eingriff in psychische oder physische Unversehrtheit verbundene Leiden besteht primär in der Herabsetzung
o Bewirkt (Todes-)Angst, Gefühle von Ohnmacht und Minderwertigkeit
Unmenschliche Behandlung
o Auffang-Tatbestand innerhalb von Art. 10 Abs. 3 BV: in Art und Ausgestaltung illegitime Strafen; intensives Leiden durch best.
Situation (z.B. Haft: über das hinausgehend, was mit Freiheitsentzug zwangsläufig verbunden ist)
o Menschenunwürdige Haftbedingungen, z.B. in überfüllten Anstalten mit übergelegten Zellen oder mit prekären sanitären
Verhältnissen(vgl. BGE 140 I 125 E.3.1–3.5)
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o Keine Einschränkung – Kerngehalt!
o Erreicht der Eingriff nicht die erforderliche Schwere:
− Art. 10 Abs. 2 BV / Art. 8 EMRK (Einschränkbar nach Art. 36 BV bzw. Art. 8 Ziff. 2 EMRK)
FRAGE 3: ARGUMENTE IN DER RECHTSSCHRIFT
Argumente in der Rechtsschrift
o Verletzung des Verbots grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung (Art. 10 Abs. 3 BV) aufgrund der Haftbedingungen
− Ziel: Darlegen, dass Haftbedingungen bei Gesamtbetrachtung unmenschlich sind und in der Gesamtbetrachtung die Beeinträchtigungen überschreiten, die mit einem Freiheitsentzug unausweichlich verbunden sind
o Hinweis:
− Nicht jede freiheitsbeschränkende Massnahme stellt eine Verletzung von Art. 10 Abs. 3 BV dar
− Gewisses Leiden und gewisse Beeinträchtigungen sind unumgänglich
− Einschränkung und Leiden muss weiter gehen als das, was unausweichlich mit einem Freiheitsentzug verbunden ist
− Gesamtbeurteilung der Haftbedingungen, inkl. Dauer des Zustandes
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Menschenwürdige Haftbedingungen: Wer setzt die Standards?
o Bundesverfassung, EMRK
− Grundrechte, Menschenrechte o Gesetze
− Insb. StPO, Kt. Strafvollzugsgesetze, Strafvollzugsverordnungen, Gefängnisreglemente, Richtlinien o (weitere) Staatsverträge
− UN Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (SR 0.105)
− Europäisches Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (SR 0.106)
o Entscheide des Bundesgerichts: i.c. insbesondere BGE 140 I 125, Haftbedingungen in Champs-Dollon o Entscheide internationaler Gerichte, insb. Praxis des EGMR
o Soft law-Dokumente internationaler Organisationen, insb. des Europarats
− Europarat, Empfehlung Rec(2006)2 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze (sog. «European Prison Rules»)
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Menschenwürdige Haftbedingungen: Kriterien
o Belegung: sechs statt drei Personen
− Richtwert: 4m2 pro Person o Ausstattung der Zelle
− Grundsatz: Separates Bett
− Matratze statt Bett?
o Klimatische Verhältnisse: Lange dauernde Hitzeperiode; doppelte Überbelegung
− Grundsatz: Belüftung (Frischluft oder genügende Lüftungsanlage)
o Möglichkeit der Bewegung an der frischen Luft: Zweimal eine Stunde pro Woche
− Bundesgericht: eine Stunde pro Tag (vgl. BGE 140 I 125) o Dauer des Zustands: mehrere Monate
− Bundesgericht: Drei Monate als Obergrenze für erschwerte Haftbedingungen (BGE 140 I 125)
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FRAGE 4: GEGENARGUMENTE DER BEHÖRDEN
Frage 4: Gegenargumente
o Ziel
− Darlegen, dass bei Gesamtbetrachtung die Haftbedingungen keinen besonders schweren
Eingriff darstellen und aufzeigen, dass der Rahmen dessen, was mit Freiheitsentzug unausweichlich verbunden ist, nicht überschritten ist
o Konkrete Argumente:
− X hatte nichts an hygienische Umständen in Zelle auszusetzen
− X machte rügte keine Verletzung der Privatsphäre
− Luftzufuhr ist im Rahmen dessen, was zu erwarten ist
− Hitzesommer als Extremsituation war für Verantwortliche nicht voraussehbar
− Überbelegung kann nicht bestritten werden, ist aber noch im Rahmen des Zulässigen o Gesamtwürdigung?
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FRAGE 5: ARGUMENTE DER ANGEHÖRIGEN VON Y
Frage 5: Staatlicher Schutz bei Lebensgefährdung
Staatliche Pflicht, das Leben des Einzelnen bei Gefährdung durch private Gewalt / objektive Gefahren zu schützen, falls
− eine konkrete und aktuelle Gefahr für das Lebensrecht (oder andere) Grundrechte einer bestimmten oder bestimmbaren Person besteht;
− die Behörden diese Gefahr kannten oder bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit kennen müssten;
− der Staat die Möglichkeit hat, vernünftige und zumutbare Schutzmassnahmen zu ergreifen Diesfalls entstehen
− Präventive Schutzpflichten, insb.
− Schutz einer Person in staatlichem Gewahrsam
− Schutz bei konkreter Lebensgefährdung durch Dritte / objektive Gefahren
− Reaktive Schutzpflichten, insb.
− Pflicht zur wirksamen Strafverfolgung
− Pflicht zur Aufklärung der Todesumstände
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