Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 107|
Heft 19|
14. Mai 2010 351M E D I Z I N
nicht einmal erwähnt (1). Andere Beispiele sind die Algopareunie infolge von Narben, Verwachsungen, Entzündungen oder trophischen Störungen im Geni- talbereich, ebenso die Auswirkungen der (rituellen) Zirkumzision, die einen Einfluss auf die gelebte Se- xualität haben können (2).
In dem Artikel wird die Chance verpasst, auf kul- turelle Einflüsse von Migranten einzugehen. In Deutschland leben zurzeit circa 7 Millionen Auslän- der, also knapp 10 % der gesamten Bevölkerung. Un- strittig ist, dass eine Großzahl dieser Mitbürger wei- terhin ihre ursprüngliche Religion, Tradition und Kultur beibehalten. Der große Anteil praktiziert den muslimischen Glauben. Der Islam ist keine asketi- sche Religion; zeitlich begrenzte Ehen (mut’ah- Ehen), einige Formen der Polygamie und rasche Scheidungen sind zugelassen. Trotzdem werden auf- grund historischer und kultureller Traditionen Ehe- bruch und vorehelicher Geschlechtsverkehr musli- mischer Frauen oft schwer bestraft und beeinflussen die gemeinsame Sexualität (3). Sexualmedizinisch tätige Ärzte sollten deshalb gewisse Kenntnisse der gelebten „Sexualkultur“ besitzen.
Bedauerlicherweise findet im Zeitalter von AIDS die zunehmende Benutzung von Kondomen und de- ren Bedeutung auf die Sexualität keine Erwähnung.
Zu Recht wird die Wichtigkeit der Sexualanamne- se und Paarbetrachtung betont und kann dies zumin- dest teilweise theoretisch begründen. Der Artikel bietet jedoch kaum Hilfestellungen für die Praxis.
Insofern wundert die von den Autoren beklagte funk- tionszentrierte Betrachtungsweise in der täglichen Praxis nicht, da diese bei funktionellen Defiziten in über 60 % erfolgreich ist. Diese Effizienz ist für ei- nen primär paar- und anamnesezentrierten Therapie- ansatz noch zu beweisen.
DOI: 10.3238/arztebl.2010.0350c
LITERATUR
1. Klotz T, Mathers MJ, Sommer F: Induratio penis plastica – eine verschwiegene Erkrankung. Dtsch Arztebl 2007; 104: 263–7.
2. Mathers MJ, Schmitges J, Klotz T, Sommer F.: Einführung in die Diagnostik und Therapie der Ejaculatio praecox. Dtsch Arztebl 2007; 104: 3475–80.
3. Haeberle EJ: The Sex Atlas. The Seabury Press, New York, 1978.
4. Rösing D, Klebingat KJ, Berberich H, Bosinski H, Loewit K, Beier K: Sexual dysfunctions in men – Diagnosis and treatment from a sexological interdisciplinary perspective [Sexualstörungen des Mannes – Diagnostik und Therapie aus sexualmedizinisch-inter- disziplinärer Sicht]. Dtsch Arztebl Int 2009; 106(50): 821–8.
PD Dr. med. M.J. Mathers, FEBU Urologische Gemeinschaftspraxis Remscheid
Kooperationspraxis der Klinik für Urologie und Kinderurologie Helios-Klinikum
Wuppertal, Universität Witten/Herdecke Fastenrathstraße 1
42853 Remscheid E-Mail: irtima@t-online.de
Prof. Dr. med. T. Klotz, MPH
Klinik für Urologie, Andrologie und Kinderurologie Am Klinikum Weiden
Söllnerstraße 16 92637 Weiden
E-Mail: theodor.klotz@kliniken-nordoberpfalz.ag
Sexualität im Wandel
Der Übersichtsartikel lässt viele Fragen offen. Störun- gen der männlichen Fertilität – dient Sexualität denn nicht auch der Fortpflanzung? – werden beispielsweise nicht erwähnt. Wie wirkt sich bei Männern in den meisten muslimischen Ländern die Option, mehrere weibliche Partner haben zu dürfen, auf die Sexual- funktion aus? Ob Polygamie auch zu einer verbesser- ten Sexualfunktion beim Mann führt, könnte – auch wegen möglicher evolutionsgenetischer Vorteile – ein interessanter Aspekt sein (1).
Die Autoren fokussieren auf die „abendländisch- monogame“, heterosexuelle Paarbeziehung. Was „Liebe“
mit der Sexualfunktion des Mannes – vielleicht im Ge- gensatz zur weiblichen – zu tun hat, bleibt unklar. Was ist mit denjenigen Männern, die sich nicht in einer fes- ten Paarbeziehung befinden? Geht man davon aus, dass Männlichkeit als kulturelle Bewertung des Ge- schlechts eine soziale Konstruktion darstellt, die ge- sellschaftlichen Veränderungsprozessen unterliegt (2), liegt die Vermutung nahe, dass die männliche Sexuali- tät nicht mit postmodernen Vorstellungen von Männ- lichkeit korrespondiert. Dies stellt eine mögliche Ursa- che für männliche Sexualstörungen dar, die keiner Paartherapie, sondern vielmehr einer Distanzierung von klischeehaften Geschlechtstypologien bedarf. Der Versuch mit einem anderen Partner – vielleicht sogar als „ex iuvantibus“ Therapieversuch bestimmter Sexual - störungen – wird nicht erwähnt. Neue Alternativen, die Sexualität anders erfahrbar macht beziehungsweise ei- nigen Männern sogar erst ermöglicht (zum Beispiel
„Cybersex“), werden eher marginal diskutiert.
Die Bedeutung der Erotik für die intakte Sexual- funktion wird zudem kaum thematisiert. Das Geheim- nis jener Paare, die viele Jahre erregend miteinander sexuell verkehren – was ohne die Integrität der männ- lichen Sexualfunktion nicht funktionieren dürfte – liegt offenbar darin, dass sie durch eine milde perverse Inszenierung wirksam aufeinander bezogen und mitei- nander verbunden sind (3).
DOI: 10.3238/arztebl.2010.0351 LITERATUR
1. Hammer MF, Mendez FL, Cox MP, Woerner AE, Wall JD: Sex-bia- sed evolutionary forces shape genomic patterns of human diver- sity. PLoS Genet 2008; 26: e1000202.
2. Conell R: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. 3rd edtion. Opladen: VS Verlag für Sozialwissen- schaften 1999.
3. Sigusch V: Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion. 1st edition. Campus Verlag 2005.
4. Rösing D, Klebingat KJ, Berberich H, Bosinski H, Loewit K, Beier K: Sexual dysfunctions in men – Diagnosis and treatment from a sexological interdisciplinary perspective [Sexualstörungen des Mannes – Diagnostik und Therapie aus sexualmedizinisch-inter- disziplinärer Sicht]. Dtsch Arztebl Int 2009; 106(50): 821–28.
Dr. med. Dr. rer. nat. Michael G. Haufs Hoher Heckenweg 147, 48147 Münster
Christian Gruhn
Königstraße 12, 48143 Münster Dr. rer. soc. Pamela Wehling Stühmerweg 4, 48147 Münster