DEUTSCHES
ÄRZTEBLATT DIE REPORTA E
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m Pflegeheim wird man um sechs Uhr abends ins Bett ge- steckt, hier aber bleibe ich oft bis Mitternacht auf. Und hier mache ich auch sonst, was ich will." So selbstbewußt, wie die 82jährige Else Kratzke das sagt, läßt sie keinen Zweifel aufkommen: Die pflegebe- dürftige alte Dame im Rollstuhl, die ihre Hände wegen chronischen Rheumas kaum noch gebrauchen kann, fühlt sich ganz wie zu Hause.Doch ihr „Zuhause" hat sie für wenige Wochen gewechselt. Um ih- rer Betreuerin, die sie in ihrer klei- nen Wohnung im Berliner Bezirk Spandau versorgt, einen Urlaub zu ermöglichen, zog Else Kratzke um.
Denn Angehörige, die sich ganztägig um sie kümmern könnten, hat sie nicht.
Während vielen Pflegefällen in solcher Lage nur der Weg in ein Heim oder ein Krankenhaus bleibt, mit allen psychischen Konsequen- zen, fand die Berlinerin nur wenige Straßen weiter eine Bleibe: in ei- ner speziell auf die Bedürfnisse der Kurzzeitpflege zugeschnittene
„Krankenwohnung".
Den Begriff „Krankenwohnung"
definiert Dr.-Ing. Christa Kliemke so: „Keine Einrichtung nur für Alte und Gebrechliche, sondern eben für alle, die bei Krankheit und Rekonva- leszenz Pflege rund um die Uhr be- nötigen", betont die Schöpferin des Konzepts „Krankenwohnung". Das Durchschnittsalter der Bewohner betrug in der Praxis freilich bisher über 70 Jahre. Am Institut für Kran- kenhausbau der Technischen Uni- versität Berlin beschäftigt sich Chri- sta Kliemke seit zwölf Jahren mit wohnungsnaher Gesundheitsversor- gung. Als Alternative zur oft von An- onymität bestimmten Pflege in den überlasteten Heimen und Kliniken entstand dabei das Konzept Kran- kenwohnung.
Eine Lücke schließen
Dieses Konzept sollte eine Lük- ke im Gesundheitssystem schließen, die durch neuere Untersuchungen erhärtet zu werden scheint: Fast ein Drittel aller Klinikpatienten benötigt demnach den dortigen medizinisch-
technischen Apparat eigentlich gar nicht, sondern kann sich lediglich nicht selbst versorgen. In Spandau fiel die Idee auf fruchtbaren Boden:
Ein Förderverein im Umfeld der evangelischen Kirche und eine Ar- beitsgemeinschaft aus Ärzten, Sozial- arbeitern, Stadträten, Theologen und Planern übernahmen die Aus- führung. Die Pilotphase des neuen Projekts begann 1984 in einer leer- stehenden Spandauer Pfarrerswoh- nung, mit drei Zimmern für maximal sechs Patienten.
Die Spandauer Wohnung — sie wurde zwischenzeitlich gegen einen
Nicht hilflos und nicht abgeschoben
„Krankenwohnungen"
entlasten Kliniken und häusliche Pfleger
auf zehn Betten eingerichteten Neu- bau eingetauscht — ist in jeder Hin- sicht behindertengerecht: zu errei- chen in einem für Rollstühle geeig- neten Lift, mit elektrischem Türöff- ner, breiten Fluren, umgebauten Toiletten und Badezimmern. Wohn- liche Teppiche und Tapeten, viel Holz, viele Zimmerpflanzen bestim- men die Atmosphäre. In drei Schich- ten versorgen zwei Krankenschwe- stern, drei Hauswirtschaftshelferin- nen und stundenweise Nachtwachen die Kranken. Hinter der Küchenthe- ke, die das gemeinschaftliche Eß- und Fernsehzimmer abschließt, wer- den täglich fünf Mahlzeiten nach in- dividuellem Wunsch frisch zuberei- tet. Besuchszeiten gibt es nicht, im Gegenteil: Angehörige sind willkom- mene Helfer und werden für die häusliche Pflege nach dem Aufent- halt „fortgebildet".
Denn die Tage in der Kranken- wohnung sind für die zahlreichen
Antragsteller (Wartezeiten bis zu ei- nem halben Jahr) genau gezählt. 48 Tage im Jahr sind das Maximum, da- von höchstens vier Wochen ohne Un- terbrechung. Zu den häufigsten Auf- nahmediagnosen zählen Diabetes mellitus, Krebserkrankungen, Mor- bus Parkinson, multiple Sklerose und rheumatische Erkrankungen. Bedin- gung für die Aufnahme: Die Rück- kehr nach Hause muß gesichert und der Patient darf geistig nicht zu ver- wirrt sein.
Während des Aufenthalts in der Krankenwohnung betreut der Haus- arzt seinen Patienten wie gewöhnlich weiter und verordnet Art und Um- fang der Pflege. Zweimal wöchent- lich kommt eine Krankengymnastin zur Bewegungstherapie in die Woh- nung.
Die aufwendige Versorgung hat ihren Preis. Der Pflegesatz mußte auf 120 DM täglich erhöht werden, weil der Berliner Senat seine Zu- schüsse von anfänglich 125 000 DM pro Jahr auf 59 000 DM reduzierte.
Die Kassen übernehmen keine Ko- sten, da die „Gewährung häuslicher Krankenpflege" nur im Haushalt des Versicherten oder seiner Familie vorgesehen ist. Das Argument des Trägervereins, die Krankenhäuser würden durch das Projekt erheblich entlastet, zog bisher nicht. Zuschüsse sind jedoch nach dem Bundessozial- hilfegesetz, durch das Landesversor- gungsamt oder das Bezirksamt mög- lich.
Krankenwohnungen nach dem Berliner Muster gibt es bisher nur an zwei weiteren Orten in der Bundes- republik: seit 1986 in Stuttgart und seit 1987 in Husum. In der deutschen Sozialgeschichte war man da schon einmal weiter, wie der „Kreuzzei- tung" von 1887 zu entnehmen ist:
„Uber Westfalen hat sich jetzt . . . ein ganzes Netz von kleinen ,Ge- meindepflegehäusern` gesponnen, die eine schöne, gewiß nachahmens- werte Neuerung sind. Sie wecken zu- nächst in den Gemeinden den Sinn für das allgemeine Wohl und für das Gefühl der gegenseitigen Verpflich- tung zu Hilfeleistungen, sind aber besonders eine Wohltat für viele ein- same Kranke, denen es im eigenen Hause an jeder Pflege fehlt."
Peter Tuch A-2332 (24) Dt. Ärztebl. 86, Heft 34/35, 28. August 1989