KINDERZAHNMEDIZIN
Jan Kühnisch (Hrsg.)
KINDERZAHNMEDIZIN
iv
Impressum
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Lektorat,HerstellungundReproduktionen:
QuintessenzVerlags-GmbH,Berlin ISBN:978-3-86867-502-3
Printed in Croatia
v
Vorwort
LiebeLeserinnenundLeser,
die Kinderzahnmedizin ist eine Disziplin mit vielen unter- schiedlichenFacetten,dieallemehroderwenigerzuei- ner erfolgreichen Patientenbetreuung beitragen. In der täglichen Arbeit des Kinderzahnarztes steht das Problem derfrühkindlichenKariesweitimVordergrunddesInter- esses,daesnachwievorzudenhäufigstenGründender
Vorstellung eines Kindes in der zahnärztlichen Praxis zählt und unter Umständen mit einem umfangreichen Therapiebedarf einhergeht. Aus zahnärztlicher Sicht er- fordert dies eine altersgerechte Patientenführung, die
konsequente Umsetzung präventiver Maßnahmen im
professionellen wie auch häuslichen Umfeld, die mög- lichstoptimaleWahlrestaurativerMaßnahmensowiedie
oftmals notwendige Indikationsstellung zu sedierenden oder anästhesierenden Verfahren. Daher gibt das vorlie- gendeBuchdiesenAspektenausreichendRaumundbe- antwortet eine Vielzahl von Fragen aus dem Themen- komplex der frühkindlichen Karies, was in dieser Form
als Alleinstellungsmerkmal des Fachbuches zu bewerten ist.
Neben den aktuellen Aspekten des Kariesmanage- mentswidmensichweitereBeiträgedenStrukturstörun- gen der Zähne. Hier steht aktuell die klinische Problematik der Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH) im Vor- dergrunddesInteresses,daeinerseitsdieÄtiologiedie- ses vergleichsweisen neuen zahnärztlichen Phänomens nach wie vor ungeklärt ist und anderseits durchaus
Unsicherheiten in der Zahnärzteschaft bei der Therapie hypomineralisierter Zähne bestehen. Darüber hinaus
runden Abhandlungen zu der vergleichsweise jungen Materialgruppe der bioaktiven endodontischen MTA-
Zemente,zumBruxismusbeiKindernundJugendlichen,
zur Notfalltherapie bei odontogenen Infektionen und Abszedierungen sowie zur Betreuung von Kindern und
Jugendlichen mit Behinderungen und zusätzlichem Un- terstützungsbedarf das Spektrum an Beiträgen in dem
vorliegendenBuchab.
An dieser Stelle gilt mein herzlichster Dank allen Auto- renundKoautoren,welcheihreBeiträgeoftnachPraxis- endeundinmühevollerArbeitzusammengestellthaben.
Diesisthochanzurechnen,daeineschreibendeTätigkeit
nicht unbedingt zu den Kernkompetenzen des Zahnarz- tes zählt. Umgekehrt ist gerade das Wissen aus der kli- nisch-praktischenTätigkeitderGrundsteinfürdasvorlie- gendeBuch!GleichermaßengiltmeinDankdemTeam
vom Quintessenz-Verlag, das in gewohnt akribischer
WeisealleManuskriptelektoriertunddieBeiträgeprodu- zierthat.IchwünscheallenKolleginnenundKollegenso- wie Studierenden der Zahnmedizin viel Freude mit dem Buchundhoffe,dassdiesneueImpulseimPraxisalltag
setzenkann!
MitkollegialenGrüßen JanKühnisch
vi
KINDERZAHNMEDIZIN
Herausgeber
Jan Kühnisch Prof. Dr. med. dent.
E-Mail:jkuehn@dent.med.uni-muenchen.de PoliklinikfürZahnerhaltungundParodontologie KlinikumderLudwig-Maximilians-UniversitätMünchen Goethestraße70,80336München
Autoren
Anna Ackermann Dr. med. dent.
Rudolf-Diesel-Straße18,86825BadWörishofen
Kerstin Aurin ZÄ
PoliklinikfürZahnerhaltungskunde,Universitätsklinikum
Heidelberg,ImNeuenheimerFeld400,69120Heidelberg Katrin Bekes
Prof.Dr.med.dent.,MME
Fachbereich Kinderzahnheilkunde
UniversitätszahnklinikWien,MedizinischeUniversität
Wien,Sensengasse2a,1090Wien,Österreich Katharina Bücher
Dr. med. dent.
PoliklinikfürZahnerhaltungundParodontologie KlinikumderLudwig-Maximilians-UniversitätMünchen Goethestraße70,80336München
Rafaela Coray Dr. med. dent.
KieferorthopädieamSteinenring58,4051Basel,Schweiz
Valeria Diener med.dent.M.S.
KlinikfürKieferorthopädieundKinderzahnmedizin ZentrumfürZahnmedizinderUniversitätZürich,
Plattenstrasse11,8032Zürich,Schweiz Jacqueline Esch
Dr. med. dent.
BaierbrunnerStraße87,81379München
Roland Frankenberger
Prof.Dr.med.dent.,Prof.h.c.,FADM,FICD,FPFA AbteilungfürZahnerhaltungskunde,Medizinisches
ZentrumfürZahn-,Mund-undKieferheilkunde,
Philipps-UniversitätMarburgundUniversitätsklinikum
GießenundMarburgGmbH–StandortMarburg,Georg- Voigt-Straße3,35039Marburg
Torsten Glas Dr. med. dent.
ZahnzentrumLeipzig,StraßeamPark2,04209Leipzig
Roswitha Heinrich-Weltzien Prof. Dr. med. dent.
PoliklinikfürKieferorthopädie-SektionPräventive
Zahnheilkunde und Kinderzahnheilkunde ZentrumfürZahn-,Mund-undKieferheilkunde
UniversitätsklinikumJena,Bachstraße18,07743Jena Reinhard Hickel
Prof. Dr. med. dent.
PoliklinikfürZahnerhaltungundParodontologie KlinikumderLudwig-Maximilians-UniversitätMünchen Goethestraße70,80336München
Christian Hirsch
Prof.Dr.med.dent.,M.Sc.
PoliklinikfürKinderzahnheilkundeundPrimärprophylaxe UniversitätszahnmedizinLeipzig,Liebigstraße12,
04103Leipzig Andreas Keßler Dr. med. dent.
PoliklinikfürZahnerhaltungundParodontologie KlinikumderLudwig-Maximilians-UniversitätMünchen Goethestraße70,80336München
Norbert Krämer Prof. Dr. med. dent.
PoliklinikfürKinderzahnheilkunde,Medizinisches
ZentrumfürZahn-,Mund-undKieferheilkunde,Justus- Liebig-UniversitätGießen,Schlangenzahl14,35392Gießen Karl-Friedrich Krey
Prof.Dr.med.dent.,MME
PoliklinikfürKieferorthopädie,Universitätsmedizin
Greifswald,Fleischmannstraße42-44,17475Greifswald
vii Autoren
Daniela Mach Dr. med. dent.
PoliklinikfürZahnerhaltungundParodontologie KlinikumderLudwig-Maximilians-UniversitätMünchen Goethestraße70,80336München
Jürgen Manhart Prof. Dr. med. dent.
PoliklinikfürZahnerhaltungundParodontologie KlinikumderLudwig-Maximilians-UniversitätMünchen Goethestraße70,80336München
Frederic Meyer Dr. rer. nat.
WissenschaftlicheAbteilung,Dr.KurtWolffGmbH&Co.
KG,Johanneswerkstraße34-36,33611Bielefeld Sven Otto
PDDr.med.,Dr.med.dent.
KlinikfürMund-,Kiefer-undGesichtschirurgie,
KlinikumderLudwig-Maximilians-UniversitätMünchen,
Goethestraße70,80336München Jan Pfisterer
Dr. med.
PoliklinikfürZahnerhaltungundParodontologie KlinikumderLudwig-Maximilians-UniversitätMünchen Goethestraße70,80336München
Sebastian Rüder Dr. med.
KlinikundPoliklinikfürAnästhesiologieundIntensiv- therapie,UniversitätsklinikumCarlGustavCarusDresden,
Fetscherstraße74,01307Dresden Helen Schill
ZÄ
PoliklinikfürZahnerhaltungundParodontologie KlinikumderLudwig-Maximilians-UniversitätMünchen Goethestraße70,80336München
Richard Steffen Dr. med. dent.
KlinikfürKieferorthopädieundKinderzahnmedizin UniversitäresZentrumfürZahnmedizinBasel Mattenstrasse40,4058Basel,Schweiz
Eirini Stratigaki
D.D.S.,MDentSci,MPaedDentRCS(Eng)
KlinikfürKieferorthopädieundKinderzahnmedizin UniversitäresZentrumfürZahnmedizinBasel Mattenstrasse40,4058Basel,Schweiz Helena Sztajer
Dr. rer. nat.
MikrobielleKommunikation
Helmholtz-ZentrumfürInfektionsforschung,
Inhoffenstraße7,38124Braunschweig Hubertus van Waes
Dr. med. dent.
KlinikfürKieferorthopädieundKinderzahnmedizin ZentrumfürZahnmedizinderUniversitätZürich,
Plattenstrasse11,8032Zürich,Schweiz Gabriele Viergutz
Dr. med.
BereichKinderzahnheilkunde,Poliklinikfür
Zahnerhaltung,UniversitätsklinikumCarlGustavCarus
Dresden,Fetscherstraße74,01307Dresden Yvonne Wagner
Priv.-Doz. Dr. med. dent.
SektionfürPräventiveZahnheilkundeund
Kinderzahnheilkunde,PoliklinikfürKieferorthopädie,
ZentrumfürZahn-,Mund-undKieferheilkunde
UniversitätsklinikumJena,Bachstraße18,07743Jena Julia Winter
Dr.med.dent.,M.Sc.
Prof.Dr.med.dent.,Prof.h.c.,FADM,FICD,FPFA AbteilungfürZahnerhaltungskunde
MedizinischesZentrumfürZahn-,Mund-und
Kieferheilkunde,Philipps-UniversitätMarburgund
UniversitätsklinikumGießenundMarburgGmbH–
StandortMarburg,Georg-Voigt-Straße3,35039Marburg
viii
Frühkindliche Karies – Klinik, Ätiologie und Epidemiologie 1
Katrin BekesFrühkindliche Karies – Folgen der Nichtbehandlung 7
Roswitha Heinrich-Weltzien, Jan Kühnisch
Mikrobiologie der frühkindlichen Karies 15
Frederic Meyer, Helena Sztajer
Wirksame Ansätze zur Prävention der frühkindlichen Karies 21
Yvonne WagnerTherapie der frühkindlichen Karies in Sedierung oder Allgemein anästhesie 29
Gabriele Viergutz, Sebastian RüderÜberlegungen zu einem zeitgemäßen Kariesmanagement am Milchzahn 35
Jan Kühnisch, Roswitha Heinrich-Weltzien, Katrin Bekes, Roland Frankenberger,Norbert Krämer, Katharina Bücher, Reinhard Hickel
Die endodontische Therapie des Milchzahnes 47
Jan Kühnisch, Roswitha Heinrich-Weltzien
Mineraltrioxidaggregat und bioaktive Zementein der Kinderzahn medizin 57
Richard Steffen, Rafaela Coray, Eirini StratigakGrenzen und Möglichkeiten direkter Restaurationen im Milchgebiss unter besonderer
Berücksichtigung des Kindes mit frühkindlicher Karies 69
Julia Winter, Roland FrankenbergerKonfektionierte Kronen in der Kinderzahnmedizin 77
Katharina Bücher, Jan Pfisterer, Helen Schill, Reinhard Hickel, Jan Kühnisch
Inhalt
ix Inhalt
Schmerz- und Notfallbehandlung in der Kinderzahnheilkunde 85
KatharinaBücher,JanPfisterer,RoswithaHeinrich-Weltzien,JanKühnischEndodontische Abszesse im Milchgebiss 95
JanKühnisch,SvenOtto,KatharinaBücher,JanPfisterer,ReinhardHickel,
RoswithaHeinrich-Weltzien
Lückenkontrolle nach vorzeitigem Milchzahnverlust – Strategien zur Vermeidung
eines sekundären Platzmangels 103
AnnaAckermann,JacquelineEsch
Vorzeitiger Milchzahnverlust und seine Folgen für die Gebissentwicklung aus
kieferorthopädischer Sicht 111
Karl-Friedrich Krey
Angststörungen und Zahnbehandlungsphobien 121
Torsten Glas
Behaviour Management in der Kinderzahnmedizin: Mehr als Tell – Show – Do! 131
RichardSteffen,ValeriaDienerStrukturstörungen des Zahnschmelzes und des Dentins
Teil 1: Grundlagen, Terminologie, Diagnostik und Klassifikation 139
JanKühnisch,DanielaMach,KatharinaBücher,HubertusvanWaes,ReinhardHickel,RoswithaHeinrich-Weltzien
Strukturstörungen des Zahnschmelzes und des Dentins
Teil 2: Klinisches Erscheinungsbild 149
JanKühnisch,DanielaMach,KatharinaBücher,JürgenManhart,ReinhardHickel,
RoswithaHeinrich-Weltzien
x Inhalt
Therapie der Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation 163
JanKühnisch,AndreasKeßler,KatharinaBücher,JanPfisterer,KerstinAurin,ReinhardHickel,
RoswithaHeinrich-Weltzien
Therapie der Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation – funktioniert die Adhäsivtechnik? 173
RoswithaHeinrich-Weltzien,JanKühnischEinzeitige CAD/CAM-Seitenzahn restauration bei einem 8-Jährigen mit
Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation 183
JanPfisterer,AndreasKeßler,JanKühnischBruxismus im Kindes- und Jugendalter 193
Christian Hirsch
Schwerpunkte bei der Behandlung von Patienten mit Behinderungen
und chronischen Erkrankungen 199
KatharinaBücher,JanKühnisch,ReinhardHickel,RoswithaHeinrich-Weltzien
1
Frühkindliche Karies –
Klinik, Ätiologie und Epidemiologie
Katrin Bekes
Einleitung
Die Mundgesundheit bildet neben der allgemeinen Ge- sundheiteinenwichtigenEckpfeilerfürdieungehinderte
Entwicklung eines Kindes und kann durch Störungen
bzw.Erkrankungennegativbeeinflusstwerden3,35. So lei- denKindermitKariesnichtnurhäufigeranZahnschmer- zen,Ess-undSprachproblemensowieSchmelzbildungs-
und Zahnstellungsstörungen, sondern zeigen darüber
hinauseinerhöhtesKariesrisikoimbleibendenGebiss3. EinebesondersschwereFormderKariesstelltdiefrüh- kindliche Karies („early childhood caries“, ECC) dar. Sie
zähltzudenhäufigstenKrankheitenimKindesalter,be- ginntschonkurznachDurchbruchdererstenMilchzähne
und ist durch eine besondere Ausprägung der Glattflä- chenkaries mit schnell fortschreitenden Läsionen sowie frühzeitiger Beteiligung der Pulpa gekennzeichnet33 (Abb. 1).AuchinDeutschlandmussdieECCunverändert
als ein ernsthaftes und ungelöstes Problem eingestuft
werden,obwohlhierinderBreitederzahnmedizinischen
Versorgung insgesamt ein hohes Niveau erreicht wird.
Nomenklatur, Definition und Klassifikation
Schon 1862 berichtete der amerikanische Arzt Abraham
Jacobi24überdasklinischeBildderKariesimfrühenKin- desalter,dieerbeieinemseinereigenenKinderbeobachtet
hatte.70JahrespäterwiesBeltrami5auf„schwarzeZähne
beiKleinkindern“(„lesdentsnoiresdestout-petits“)hinund
machte so erneut auf diese Problematik aufmerksam. Im englischen Sprachraum stellte Fass191962fest:„Nothing
is so shocking to a dentist as the examina tion of a child patientsufferingfromrampantcaries.“Dabeiverwendete
erdenBegriff„nursingbottlemouth“,umdasKrankheits-
bildzubeschreiben,undrücktebereitsdenhäufigenKon- sumkariogenerGetränkeausSaugerflaschenindenBlick.
Insbesondere in der englischsprachigen Literatur lässt sich eineVielzahlweitererTerminizurBeschreibungderfrüh- kindlichenKariessowieihrerdiagnostischenKriterienfin- den. Dazu zählen „baby bottle tooth decay“, „baby bottle
syndrome“,„nursingcaries“,„nursingbottledentalcaries“,
„milkbottlecaries“,„earlychildhooddentaldecay“,„bottle
mouthcaries“und„cariesoftheincisors“1,8,15,18,23,30,38. Im deutschsprachigen Schrifttum tauchen die Begriffe
„Zuckerteekaries“oder„Flaschenkaries“auf40,41.
Eswirddeutlich,dassdiemeistendieserBezeichnun- gen explizit auf den exzessiven Gebrauch der Babyfla- sche bzw. auf das verlängerte Stillen fokussieren. Für
eineeinheitlicheBeschreibungdesKrankheitsbildeswur- de1994aufeinemvondenCentersforDiseaseControl
andPreventiongefördertenWorkshopderAusdruck„ear- ly childhood caries“ vorgeschlagen, der die vielfältigen
AspektederErkrankung(d.h.sozioökonomische,verhal- tensbedingteundpsychosozialeFaktoren)besserreflektie- ren und ihr eine breitere Bedeutung zugestehen sollte,
Abb. 1 AusgeprägtefrühkindlicheKariesaufgrunddes
exzessiven Genusses von Fruchtsäften im Fläschchen
2
KINDERZAHNMEDIZIN
ECCalsdasVorliegenvonmindestenseinerkariösenLä- sion(mitoderohneKavitation)bzw.einerwegenKaries
fehlendenodergefülltenZahnflächeimMilchgebissei- nesbis71MonatealtenKindes3.EineschwereFormder
frühkindlichenKaries,die„severeearlychildhoodcaries“
(S-ECC), wird diagnostiziert, wenn Kleinkinder unter
3 JahrenmindestenseineGlattflächenkariesaufweisen.
Bei3-bis5-JährigenstelltmandieseDiagnoseinAbhän- gigkeitvomdmfs-WertderoberenMilchfrontzähnebzw.
desGesamtgebisses.3-Jährigemitmehralsvier,4-Jäh- rigemitmehralsfünfund5-Jährigemitmehralssechs
kariösenZahnflächenfallenindieseKategorie3. An der numerischenEinteilungwurdekritisiert,dasssiedasVer- teilungsmusternichtberücksichtige3.
Klinisches Bild
Das klinische Bild der ECC kann in unterschiedliche
Schweregradeeingeteiltwerden,welchesichvorwiegend
amBefallsmusterorientieren.ImerstenStadiumweisen
dieZähnenurkreidigweißeAreale(leichteDemineralisati- onen)auf.ImweiterenVerlaufkommteszurallmählichen
ZerstörungderZahnhartsubstanz28.ZuBeginnerkranken
dieGlattflächenderoberenInzisivi.ErsteVeränderungen
sindbeibetroffenenKindernoftschonamEndedes1. Le- bensjahres zu beobachten. Entsprechend der Durch- bruchsfolgederMilchzähnewerdenim2.und3.Lebens- jahrauchdieMolarenundEckzähneinvolviert.Dieoberen
Inzisivisindjedochbevorzugtbetroffen,dennsiewerden
aufgrund der Lage des Saugers direkt mit den kariogenen Getränkenumspült.ÜberdiesfehltandenoberenInzisivi
dieschützendeWirkungdesSpeichels,dasichindiesem
Bereich keine Speicheldrüsen befinden. Die Unterkiefer- zähnesindanfänglichnochdurchdieüberlagerndeZunge
unddieSpeichelproduktiongeschützt39. anstattdiealleinigeUrsacheinunangemessenenErnäh-
rungsmethoden zu sehen26. Im deutschsprachigen RaumistderBegriffmit„frühkindlicheKaries“zuüber- setzen. Dieser Terminus hat bis heute Bestand, wurde
jedochinderLiteraturteilweisemitderBegründungkriti- siert, dass er weder die Aggressivität der Erkrankung
noch das Alter der betroffenen Kinder angemessen be- rücksichtige13,23. So gibt es beispielsweise zwei weitere Begriffe, die auf der „Early Childhood Conference“ am
National Health Institute (USA) geprägt wurden: „ram- pantinfant“und„earlychildhooddentaldecay“37.
BeiderfrühkindlichenKarieserfolgtklassischerweise
nach Wyne42eineUnterteilungindreiTypen,welcheder
Diagnosefindungzugrundegelegtwerdenkann.Einede- taillierteBeschreibungderKriterienfindetsichinTabelle1.
Die Abbildungen 2 bis 4 zeigen das klinische Erschei- nungsbild der unterschiedlichen Schweregrade.
AbweichendvonderKlassifikationnachWynehatsich
heuteallgemeindieDefinitionderAmericanAcademyof
Pediatric Dentistry durchgesetzt. Diese beschreibt die
Abb. 2 CharakteristischesErscheinungsbildeiner
frühkindlichenKariesvomTypInachWyne42: isolierte kariöseLäsionenandenMolarenund/oderdenInzisivi
ECC-Typ I ECC-Typ II ECC-Typ III
Form mild bis moderat moderat bis schwer schwer
Kriterien isoliertekariöseLäsionenanMolaren
und/oder Inzisivi Oberkiefer:vestibuläreund/oderorale
LäsionenanGlattflächenderInzisivi,
altersabhängigauchanMolaren
kariöseLäsionenannahezuallen
Zähnen,auchuntereInzisivibetroffen Ursache mangelhafteMundhygiene,kariogene
Ernährung insbesondere Flaschenabusus mit
zuckerhaltigen Getränken mangelhafteMundhygiene,hochgradig
kariogeneErnährung
Alter 2. bis 5. Lebensjahr aberstemMilchzahn 3.bis5.Lebensjahr
Tab. 1 EinteilungderECCnachWyne42
3 Bekes FrühkindlicheKaries–Klinik,ÄtiologieundEpidemiologie
Abb. 3a bis d KlinischesBildeinerfrühkindlichenKariesvomTypII42:KariesläsionenandenGlattflächenderInzisivi
sowiedenMolarenimOber-undUnterkiefer(aundb).DieUnterkieferfrontzähnesindkariesfrei.BeimzweitenPatienten
(cundd)sinddiezweitenMilchmolarennochnichteruptiert,aberdieübrigenZähnezeigenbereitsstarkekariöse
Destruktionenbzw.massivePlaqueauflagerungen c
a
d b
Abb. 4a bis d FrühkindlicheKariesvomTypIIIbeieinem4-jährigen(aundb)bzw.einem3-jährigenPatienten(cund d)42. AnallenZähnen(sowohlOber-alsauchUnterkiefer)findensichkariöseLäsionen
c a
d b
4
KINDERZAHNMEDIZIN
nichtnuraufKindermiteinemniedrigensozioökonomi- schen Status beschränkt zu sein11,31. So zeigen beispiels- weisejüngsteDatenausAustralien,dassmehrals50 %
der6-jährigenKinderMilchzahnkariesaufweisen10. Auch in verschiedenen anderen Teilen der Welt werden hohe Zahlenverzeichnet,dievon36 %inGriechenland34über
45,8 %inBrasilien21,51,9 %inIndien27und64,7 inIsrael32 biszu89,2 %inKatar2 reichen.
Ätiologie
Wie bei jeder andere Kariesform ist auch das Ur- sachengeschehenderfrühkindlichenKariesmultifaktoriell
bedingt und die Folge aus einem zeitlich bestimmten Zu- sammenspiel von kariogenen Mikroorganismen mit fer- mentierbaren Kohlenhydraten auf der kariesanfälligen Zahnoberfläche(Wirt).ZudemgibtesbeiderEntstehung
der frühkindlichen Karies eine Vielzahl von zusätzlichen
Risikofaktoren. So können ein niedriger sozioökonomi- scherStatus,einMigrationshintergrundderFamilien,ein
unzureichendes Gesundheitswissen und eine niedrige SchulbildungbeiderEntstehungeineunterstützendeRolle
spielen7.
Wirt (Milchzahn)
Milchzähneweisenmakro-undmikrostrukturelleBeson- derheiten auf, die nicht vernachlässigt werden dürfen.
Die Zähne der ersten Dentition sind kleiner und zeigen im Vergleich zu den permanenten Zähnen eine geringere Schmelz- und Dentindicke25. Ihr Schmelzmantel ist dabei ankeinerStelledickerals1mm36.Darüberhinaussind
Milchzahnschmelz und -dentin aufgrund eines vermin- derten Calcium- und Phosphatgehaltes geringer minerali- siert als die Zahn hartsubstanzen der bleibenden Dentiti- on14.DiesebeidenCharakteristikabegründenauchdas
schnellereVoranschreitenderKariesimMilchgebiss.
Mikroorganismen
Streptococcus mutans und Streptococcus sobrinus gel- tenalsdiewichtigstenkariogenenMikroorganismen9,da
sievielevirulenteEigenschaftenbesitzen,welchedieKa- riogenität des Biofilms bestimmen. Neben ihrer Fähig- keit,auskohlenhydrathaltigenNahrungsresteninsbeson- dere Milchsäure zu bilden, produzieren sie auch
extrazelluläre Polysaccharide, die das weitere Plaque- wachstum ermöglichen7. So konnten Untersuchungen zeigen,dassStreptococcusmutansbeiKindernmitECC
Epidemiologie
Die frühkindliche Karies betrifft Kinder auf der ganzen
Welt und zählt nicht nur in Deutschland, sondern auch
internationalzudenhäufigstenchronischenErkrankun- genimKleinkind-undVorschulalter.Siekommtfünfmal
öfteralsAsthmaundsiebenmalöfteralsHeuschnupfen
vor. Die aktuellsten Daten17belegen,dassinDeutschland
im Durchschnitt nach wie vor bei jedem zweiten Kind im Alter von 6 Jahren eine Karieserkrankung vorliegt. Die
„cariesdecline“scheintdamitfürDeutschlandimMilch- gebisszustagnieren.NahezudieHälftederBundeslän- der zeigte im Vergleich zur letzten Erhebung aus dem
Jahr200916keineweitereReduktiondesKariesaufkom- mens oder sogar einen leichten Anstieg. Der Sanierungs- grad in dieser Altersklasse ist weiterhin ungenügend,
denn43 %derkariösenMilchzähnesindnichtversorgt.
ErstmalswurdenindenletztenepidemiologischenBe- gleituntersuchungenauch3-jährigeKindererfasst.Dazu
liegen aus zehn Bundesländern bzw. Landesarbeits- gemeinschaftenDatenvor,dieentwederimRahmender
Gesundheitsberichterstattung des Öffentlichen Gesund- heitsdienstes oder als Untersuchungen in gezogenen Stichprobengeneriertwurden.Mitknapp100.000unter- suchtenKindernausverschiedenenRegionenDeutsch- lands konnte dabei ein annähernd repräsentatives Bild
gezeichnet werden. Der durchschnittliche dmft-Wert be- trägtdemzufolge0,48.13,7 %der3-Jährigenweisenbe- reits kariöse Zähne auf. Im Durchschnitt zeigen diese
Kinder3,57betroffeneZähne,wasinsolcheinemjungen
Alter kaum ambulant behandelbar ist. Daher nimmt in dieser Gruppe die d-Komponente, die unbehandelte
Defektkaries, mit 73 % den größten Anteil am Karies- geschehen ein. Entsprechend ist der Sanierungsgrad
sehrniedrigundliegtbei26,1 %.
Zur weltweiten Prävalenz liegen heterogene Angaben vor.DiegroßeVarianzbasiertaufunterschiedlichenEin- flussfaktoren wie Kultur, Ethnizität, sozioökonomischer
Status,Lebensstil,ErnährungsmusterundMundhygiene
sowie differierenden regionalen Einflüssen4. Einer kürz- lichveröffentlichtenÜbersichtsarbeitzufolgebeträgtdie
PrävalenzderECCzwischen1und12 %inIndustrienati- onen12 und ca. 70 % in Entwicklungsländern sowie bei
benachteiligten Bevölkerungsgruppen entwickelter Län- der4.DieweltweiteInzidenzderECCwirdmit1,76Milliar- den (95 %-Konfidenzintervall: 1,26 bis 2,39 Milliarden)
beziffert20. Interessanterweise scheint die ECC jedoch
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Lancet2017;390:1211-1259.
30 % der kultivierbaren Plaqueflora regelmäßig über- schritt,währenddieseKeimebeiKindernmitvernachläs- sigbarerbisgarkeinerKariesaktivitätwenigerals0,1 %
derPlaquefloraausmachten29.
Ernährung
Neben der frühzeitigen Primärinfektion durch Mutans-
Streptokokken spielt die unkontrollierte Substrat zufuhr ausderNuckelflaschemitsüßenGetränkeneinetragen- deRollebeiderEntstehungderECC.Alspotenziellzahn- schädigende Produkte sind hierbei vor allem gesüßte
Tees sowie zucker- und säurehaltige Säfte zu nennen.
Zudem erfolgt die Flaschengabe oft nicht aufgrund von Durstbzw.Hunger,sondernausLangeweileoderUnlust
in Ermüdungsphasen, als Einschlafhilfe, in nächtlichen
Wachphasen und als Zwischenmahlzeit. Das hat eine Langzeitbenetzung der Milchzähne mit zahnschädigen- den Getränken zur Folge. Eine übermäßige Aufnahme
dieserGetränkebegünstigtebensodenAnstiegdero.g.
SäureproduzierendenMikroorganismenaufeinpatholo- gisches Niveau. Die permanente Säureproduktion an der Zahnoberfläche führt dann zur Demineralisation und
schließlich zur Kavitation6,22.
Fazit
DiefrühkindlicheKariesstellteinernsthaftesProblemdar,
dasauchinDeutschlandnichtanAktualitäteingebüßthat.
SiedominiertmiteinerzumTeilmassivenGebisszerstö- rungdasGesamtkariesaufkommen,istmultifaktoriellbe- dingt und die Folge einer unkon trollierten Substratzufuhr in Kombination mit einer mangelhaften Mundhygiene
beim Kleinkind.
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47
Die endodontische Therapie des Milchzahnes
Jan Kühnisch, Roswitha Heinrich-Weltzien
Kariesbefall und Folgen der unbe- handelten Karies im Milchgebiss
KariesisttrotzderjahrelangenVerfügbarkeitevidenzba- sierter Präventionsmaßnahmen weltweit die häufigste
chronische Erkrankung im Kindesalter und geht für die
BetroffenenoftmiteinerdeutlichenBeeinträchtigungder
Lebensqualität einher10,11. Eine besondere Herausforde- rungstelltdabeidiefrühkindlicheKariesdar.Daserforder- liche Therapiespektrum reicht hier von konservierenden einschließlich endodontischer Maßnahmen bis hin zur
Notwendigkeit von Zahnentfernungen. Gerade im Fall profunder kariöser Läsionen ist die Entscheidungsfin- dung oftmals nicht einfach und bedarf eines strukturier- tenVorgehens.Erschwerendkommthinzu,dasswesent- liche Entscheidungen ausschließlich anhand klinischer
Parametergetroffenwerdenkönnenundergänzendepul- padiagnostische Verfahren nicht zur Verfügung stehen.
Dieswärejedochwünschenswert,daDentinläsionenam
Milchzahn selbst mit einer moderaten Ausdehnung be- reits den Charakter profunder kariöser Läsionen haben.
Der Grund hierfür liegt in der geringen Schmelz-Dentin-
Dicke und dem weitlumigen Pulpakavum, was zu einer
frühenMitbeteiligungderMilchzahnpulpaführt.Nichtzu
vernachlässigenistdarüberhinausbeiderfrühkindlichen
Karies die rasche Kariesprogression, welche der Milch- zahnpulpanurwenigChancenfüreineadäquateReizant- wort lässt.
Notwendigkeit der Milchzahn- behandlung
DassdieErhaltungderMilchzähnebiszurphysiologi- schenExfoliationfüreinestörungsfreieGebissentwick- lungdesKindesvongroßerBedeutungist,stehtaußer
Frage10. Die Behandlung kariöser Milchzähne beugt
Zahnstellungsanomalien, Strukturstörungen an den
bleibenden Zähnen, sprach- und kaufunktionellen Stö- rungen, ästhetischen Beeinträchtigungen als Folge ei- nes vorzeitigen Milchzahnverlustes sowie einer Ver- schlechterung der Allgemeingesundheit und der mundbezogenen Lebensqualität vor10,17. Darüber hin- aus besteht eine direkte Beziehung zwischen dem
KariesbefallimMilch-undimbleibendenGebiss28. Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht der Tatsache,
dasseineVielzahlderMilchzahndefekteprofundekariö- seLäsionensind,solltederZahnarztdiefürdenkariö- senMilchzahnindiziertenBehandlungsverfahrensicher
und kompetent beherrschen.
Aktuellwirderneutdiskutiert,dasskariöseMilchzäh- neauchohneBehandlungundSchmerzsymptomatikbei
vielen Kindern exfolieren19,24. Dieser Standpunkt ist je- dochkritischzubeurteilen,dadieausschließlicheFokus- sierung auf die Schmerzproble matik alle anderen Folgen derNichtbehandlung,wiez.B.denfehlendenSchutzdes
Pulpa-Dentin-SystemsmitderMöglichkeitderAusbildung
(ir)reversibler Pulpitiden, den Fortbestand des erhöhten
Kariesrisikos,dieEntwicklungeinesEngstandesunddie
Beeinträchtigung der Lebensqualität der Kinder, unbe- rücksichtigt lässt10. Das zeitgemäße Therapieziel sollte dahersein,FormundFunktionerkrankterMilchzähnebis
zuderenphysiologischerExfoliationwiederherzustellen
und sie damit zu erhalten, um möglichen Kariesfolgen
wirksamvorzubeugen.DamitjedochspätereMisserfol- ge effektiv vermieden werden, ist jede zahnbezogene
Therapieentscheidung kritisch unter Berücksichtigung
von Indikationen und Kontra indikationen zu stellen.
48
KINDERZAHNMEDIZIN
Die klinische Untersuchung sollte indikationsgerecht durchdieröntgenologischeDiagnostikergänztwerden.
BissflügelröntgenaufnahmenlieferndazuInformationen
über vorhandene kariöse Läsionen an Approximal- und
Okklusalflächen,Sekundärkaries,dieFüllungsqualitätund
vorallemdieKariesprogressioninRelationzurPulpa.Da
die parodontalen Strukturen bei dieser Aufnahmetechnik inderRegelnichtmitabgebildetwerden,bedarfesdes
gezieltenEinsatzesdesEinzelzahnfilms,umfurkaleund
apikale Entzündungen, interne Resorptionen bzw. den
Stand der physiologischen Wurzelresorption valide ein- schätzenzukönnen.
DieGrenzefürendodontischeBehandlungsverfahren
wird aufgrund der abnehmenden Reparationsleistung
derMilchzahnpulpamitfortschreitenderphysiologischer
Wurzelresorption bei etwa einem Drittel der Wurzellänge gezogen4,37. Für Milchfrontzähne liegt sie im Alter von
etwa4bis5JahrenundfürMilcheckzähnesowieMilch- molaren zwischen dem 8. und 10. Lebensjahr. Bei der
Indikation zahnerhaltender Behandlungsmaßnahmen
bzw.derExtraktionvon Milchzähnen sind zudem allge- meinmedizinische und individuelle Gesichtspunkte zu berücksichtigen.
Indikationen und Kontraindikationen zur Milchzahnendodontie
NebenderzahnbezogenenDiagnose(Tab.1)beeinflus- sendasAlter,derStandderGebissentwicklung,derAllge- meinzustand und der Ausprägungsgrad der frühkindli- chen Karies in der Dentition des Kindes maß geblich die Entscheidungsfindung zur Zahnerhaltung oder -extrak- tion.IstdiegrundsätzlicheErhaltungsfähigkeitgegeben,
geltenalsweiterewichtigeVoraussetzungenfürdieAn- wendungallervitalerhaltendenVerfahrenderMilchzahn- endodontie die klinische Symptomlosigkeit und die nega- tive Schmerzanamnese des betreffenden Zahnes.
Allerdingsistanzumerken,dassdieserklinischeZustand
bereitsmiteinerreversiblenoder–seltener–auchirre- versiblenPulpitisassoziiertseinkann(Abb.1abisq)und
somit eine gewisse diagnostische Un sicherheit bedingt.
Aufbissbeschwerden,Perkussionsempfindlichkeiten,api- kale Druckdolenzen, Fistelbildungen und erhöhte Zahn- beweglichkeiten sind Zeichen einer avitalen Pul pa und/
oder apikalen Parodontitis und damit sichere klinische PrädiktorenfüreineKontraindikationvitalerhaltenderend- odontischer Therapieverfahren3,26,33,37.
Indikationen Kontraindikationen
Allgemein • Klinischsymptomloser,erhaltungsfähigerund
restaurierbarerMilchzahn
• Gute Prognose
• Symptomatischerbzw.avitalerMilchzahn
• Nicht erhaltungsfähiger bzw. nicht restaurierbarer Milchzahn
• MilchzahnunmittelbarvorExfoliation Caries-profunda-
Therapie • KariösbedingteKavitationamMilchzahn
(Synonyme:Cariesprofunda,pulpanaheKaries)
• Positive Vitalität • CariesprofundamitPulpabeteiligung(schimmernde
Pulpa,PulpaeröffnungimkariösenDentin)
• IrreversiblePulpitis(nichtstillbareBlutung) Direkte
Überkappung • Caries profunda mit Pulpabeteiligung im karies freien Dentin
• Komplizierte Kronenfraktur
• Positive Vitalität
Pulpotomie • CariesprofundamitPulpabeteiligung(schimmernde
Pulpa,PulpaeröffnungimkariösenDentin)
• Komplizierte Kronenfraktur
• Positive Vitalität
• IrreversiblePulpitis(nichtstillbareBlutung)
• Akute bzw. chronische Parodontitis
• Apikale,furkaleParodontitis
• InterneResorptionen Wurzelkanal-
füllung • Caries profunda mit Pulpabeteiligung
• Komplizierte Kronenfraktur
• Irreversible Pulpitis
• InfiziertesPulpakavumeinschließlichPulpanekrose
• Akute bzw. chronische Parodontitis
• Apikale,furkaleParodontitis
• InterneoderexterneResorptionen
• Nicht abgeschlossenes Wurzelwachstum Tab. 1 ÜbersichtüberIndikationenundKontraindikationenfürdierelevantenTherapieverfahrenamMilchzahn
49 Kühnisch,Heinrich-Weltzien DieendodontischeTherapiedesMilchzahnes
j g d
k h e
l i f
a b c
Abb. 1a bis l PulpanaheCariesprofundamitirreversiblerPulpitisaneinemunterenzweitenMilchmolaren.Dieklinisch- röntgenologischeUntersuchungergabeinepulpanaheCariesprofunda(aundb).ImAnschlussandieGestaltungder
Umrisskavität(c)wurdedieselektiveKariesexkavationzuerstinderPeripheriederKavitätdurchgeführt(d).Amperi- pherenKavitätenbodenzeigtesichnochkariösesDentin,weshalbnachMatrizenanlage(e)dieKariesexkavationmit
Handinstrumentenfortgesetztwurde(f).ImZugederKariesexkavationimperipherenDentinerfolgtedieakzidentelle
EröffnungderPulpaimkariösenDentin(g).DamitwurdedieIndikationzurPulpotomiegestellt.NachAbtragdes
PulpakammerdachsundAmputationderKronenpulpa(hbisj)erfolgtedieBlutstillungmiteinemtrockenenundeinem
mitEisen-III-SulfatgetränktenWattepellet(kundl).
50
KINDERZAHNMEDIZIN
charakterisierte man Karies als einen dynamischen Pro- zess, der durch Säure produzierende Mikroorganismen
imBiofilminitiiertund/oderunterhaltenwird25. Die Aktivi- täteinerkariösenLäsion,d.h.dieWahrscheinlichkeit,dass
diese weiter fortschreitet oder stagniert, ist wesentlich
durch die metabolische Aktivität des Biofilms determi- niert.FrequenzundHäufigkeitdesZuckerkonsums,die
täglicheMundhygieneunddieFluoridverfügbarkeitsind
vomPatientenbeeinflussbareFaktoren,welchedieAkti- vität des Biofilms erhöhen oder erniedrigen können25. AustherapeutischerSichtunterstreichtEdwinaKiddzum
einendieBedeutungdesBiofilmsinderKavität,dessen
EntfernungwichtigeristalsKariesvollständigbisinskari- esfreie Dentin zu exkavieren. Zum anderen betont die Au- torindieRolle,dieeindichterKavitätenverschlussfürden
Schutz des Dentins vor einer erneuten mikrobiologischen Kolonisation spielt.
IndenvergangenenJahrenwurdenunterschiedlichs- teVorschlägezumManagementprofunderkariöserDen- tinläsionen unterbreitet. Das Spektrum der Empfehlun- Zur Einschätzung der Prognose des Endodonts im
MilchgebisshabensicheinersystematischenÜbersichts- arbeitzufolgefünfKriterienalsüberlegenerwiesen42: 1.Schmerzen,
2. EntzündungenderparodontalenStrukturen, 3.pathologischeZahnbeweglichkeiten, 4. pathologischeRadioluzenzenund 5. pathologische Wurzelresorptionen.
Diese Kernkriterien dienen sowohl in der klinischen Pra- xis als auch in wissenschaftlichen Untersuchungen als wichtigeAnhaltspunkte,umdieErfolgs-und/oderMiss- erfolgsraten endodontischer Behandlungsmaßnahmen
imMilchgebissbeurteilenzukönnen.
Caries-profunda-Therapie
ImJahr2004wurdemitderPublikationvonKiddsBei- trag„How‚clean‘mustacavitybebeforerestoration?“23 eineneueÄrainderKariologieeingeleitet.InderFolge
Abb. 1m bis q PulpanaheCariesprofundamitirreversiblerPulpitisaneinemunterenzweitenMilchmolaren.Danach
dererstenBlutstillungandermesialenPulpakeineBlutstillungerreichtwerdenkonnte(m),wurdenimAnschlussan
einegeringfügigeNachamputationdieSchrittederBlutstillungwiederholt(nundo).Auchhierkamesnichtzueinem
vollständigenBehandlungserfolg(p),weshalbdieDiagnoseeinerirreversiblenPulpitisgestelltundderZahnextrahiert
wurde(q)
p q
m n o
51 Kühnisch,Heinrich-Weltzien DieendodontischeTherapiedesMilchzahnes
BeiLetzterenwurdekeinkariösesDentinexkaviert,son- derndieKavitationenandenMilchmolarenwurdenledig- lich durch Beseitigung überhängender Schmelzanteile
für die mechanische Plaqueentfernung zugänglich ge- macht14.NachUnterrichtungderElternundKinderinei- ner bukkolin gualen Zahnputztechnik erfolgte die Applika- tiondesFluoridlacksDuraphat(Fa.CPGABA,Hamburg)
indieKavität.ÜbervergleichbareklinischeErfolgsraten
(~90 %)wurdeauchnacheinerkonservativenbzw.ultra- konservativen Kariesexkavation bei profunden Milch- zahnläsionen berichtet12,30. Eine Kosten-Wirksamkeits- Analyseergab,dassdieHall-Technikkostengünstigerals
die konventionelle Kariesexkava tion ist und dass das kon- ventionelle Vorgehen weniger gut abschnitt41. Weiterhin stelltendieAutorenfest,dassdiePulpotomieanMilchmo- laren beim Risiko einer Pulpaexpositionerfolgreichsein
kann, jedoch aufwendiger und mit zusätzlichen Kosten
verbunden ist.
ImmerwiederwirddieFragenachdemEndpunktder
Kariesexkavationgestellt,wobeihierbisindieGegenwart
unterschiedlicheEndpunktevorgeschlagenwerden.Un- abhängig von der Kariesaktivität scheint der weitgehend trockene,inderRegelverfärbteKavitätenbodenmiteiner
festen bis ledrigen Dentinkonsistenz ein akzeptabler kli- nischer Kompromiss zu sein26.UmdenEndpunktobjekti- vierenzukönnen,wirdderEinsatzvonInstrumentenoder
Geräten diskutiert, die eine selbstlimitierende oder
fluoreszenzunterstützteKariesexkavationermöglichen15. Dazu zählen beispielsweise Polymerbohrer (P1, Komet
Dental, Fa. Brasseler, Lemgo), deren Härte sich an der
von erweichtem, nicht infiziertem, aber remineralisier- barem Dentin orientiert. Für das Vorgehen der fluores- zenzunterstützten Karieserkennung und -entfernung
(„fluorescence-aided caries excavation“, FACE) sind die
Systeme SIROInspect (Fa. Dentsply Sirona, Bensheim)
und Facelight (Fa. W&H, Laufen) auf dem Dentalmarkt
verfügbar.BeideSystemesetzenaufdieVisualisierung
derfluoreszierendenPorphyrinverbindungendesbakteri- ellinfiziertenDentinsunddamitaufdieDifferenzierung
zwischenkariösemundkariesfreiemDentin.Darüberhi- nausermöglichtdieVerwendungvonHandexkavatoren
gerade im Milchgebiss eine substanz- und pulpascho- nende Exkavation6. Für die definitive Restauration und
die Inaktivierung des kariösen Prozesses ist entschei- dend,dassderKavitätenrandzirkuläreine(adhäsive)Fül- lungstherapie erlaubt15. Dabei stellt die selektive Karies- exkavation das zu favorisierende Vorgehen dar. Die Wahl genreichtheuteeinerseitsvonderNon-Exkavationbishin
zur vollständigen Kariesentfernung und andererseits von derNon-RestaurationbishinzuradhäsivenFüllungsthera- pie. Während beispielsweise die Hall-Technik20,21 gänzlich aufdieKariesexkavationunddieBiofilmentfernungver- zichtet,folgenandereAnsätzedenvonKidd23 formulier- ten restriktiveren Empfehlungen. Unabhängig davon be- einflussenweitereAspektedenklinischrelevantenSchritt
derExkavation.DaderSchutzdesPulpa-Dentin-Komple- xesnurmiteinerdichtenRestaurationmöglichist,besteht
Einigkeit darüber, die Kavitätenperipherie kariesfrei zu
gestalten.MitdiesemselektivenVorgehen–Herstellung
der Kariesfreiheit in der Kavitätenperipherie und unvoll- ständigeKariesexkavationinPulpanähe–kristallisierte
sichindenvergangenenJahreneinpraxisnaherKompro- miss heraus26.DasBelassenvonweitgehendtrockenem,
verfärbtem und/oder ledrigem Dentin über der symp- tomlosen vitalen, nicht exponierten Pulpa wird heute
mehrheitlichbefürwortet,dadasVorgehenmiteinerAr- retierungbzw.ChronifizierungdeskariösenProzessesein- hergeht36,40. Zudem kann auf diese Weise auch die Gefahr einer Pulpafrei legung reduziert werden36,40.MitderRück- besinnung auf ein restriktives Kariesmanagement folgt mannachfast300JahrenerneutdenEmpfehlungenvon
Fauchard9demSpiritusRectorder„coiffagenatural“.Der
wesentliche Unterschied besteht heute jedoch darin,
dass die zur Verfügung stehenden Materialien einen
dichtenKavitätenverschlussermöglichen,derbeidiesem
Therapieansatz eine Conditio sine qua non ist. Wie be- reitszuvorausgeführt,hatsichauchhiereinSpektrum
unterschiedlicherBehandlungsoptionenherausgebildet.
EinBeispielfüreineabweichendeVorgehensweiseist
die Hall-Technik20,21,41. Die von Nora Hall inaugurierte TechnikfürMilchmolarenmiteinerDentinkariesbasiertauf
derKenntnisdermikrobiellenKeimreduktion,diebeider
schrittweisen Kariestherapie beobach tet wurde21. Die Hall-Technik zielt auf die Inaktivierung einer Dentinkaries ohneKariesexkavationdurchEingliederungeinerkonfek- tionierten Stahlkrone ab20,21. In Deutschland wird die Hall-Technik vor allem von der Arbeitsgruppe um Splieth an der Universität Greifswald praktiziert und untersucht38. Nach einer 1-jährigen Beobachtungsdauer ermittelten
dieAutoreneinesignifikanthöhereErfolgsratefürmitder
Hall-Technik behandelte Milchmolaren im Vergleich zu
Milchmolaren,dienachkonventionellervollständigerKari- esexkavation mit einem Kompomer restauriert wurden,
sowiefürnochnon-restaurativversorgteMilchmolaren.
52
KINDERZAHNMEDIZIN
Direkte Überkappung
DieIndikationzurdirektenÜberkappungkannunterVer- weis auf die heute zu favorisierende unvollständige bzw.
selektiveKariesexkavationzurückhaltenddiskutiertwer- den26,37.DerGrundhierfürliegtdarin,dasseinepunktför- mige Freilegung der Pulpa im kariesfreien Dentin nahezu nicht mehr stattfindet und sich allenfalls im kariösen
Dentin beobachten lässt. In letzterer Situation ist eine Überkappung der Pulpaperforation im kariösen Dentin
kontraindiziert3,18 und das Vorgehen der Vitalamputation in Erwägung zu ziehen. Wenn die Indikation zur Pul- paüberkappung besteht, werden heute bioaktive end- odontische Zemente wie z. B. Mineraltrioxidaggregat
(MTA)oderBiodentine(Fa.Septodont,Niederkassel)ver- wendet3,7.FürdenErfolgderBehandlungistdarüberhinaus
einedichteRestaurationdesZahnhartsubstanzdefektes
entscheidend.
Pulpotomie
Trotz Hinwendung zu einer unvollständigen bzw. selekti- ven Kariesentfernung zur Vermeidung der Pulpa freilegung bei einer Caries profunda stellt die Pulpotomie noch im- mereinerelevanteBehandlungsmaßnahmeimMilchge- bissdar.DasVerfahrenistbeieinerExpositionderklinisch
symptomlosen Pulpa (= reversible Pulpitis) im kariösen
Dentin indiziert und zielt auf die Vitalerhaltung der radiku- lärenPulpamitderAusbildungeinerHartgewebsbrücke
zwischen Pulpa und Wundverband ab. Die Pulpo tomie an ZähnenmiteinerirreversiblenPulpitis,diedurcheinepo- sitive Schmerzanamnese und eine schwer oder nicht still- bareBlutungcharakterisiertist(vgl.Abb.1abisq),geht
mit niedrigeren Erfolgsraten einher und sollte deshalb
nichtinBetrachtgezogenwerden26. Aus klinischer Sicht empfiehltessich,nebenderkorrektenIndikationsstellung
drei relevante klinische Arbeitsschritte einzuhalten, um
denErfolgderPulpotomiezusichern:
1.Atraumatische Amputation der koronalen Pulpa. Nach Schaffung der Zugangskavität und vollständigem Ab- tragdesPulpakammerdachswerdenfürdieAmputati- on der Kronenpulpa bevorzugt rotierende Diamant- schleifer eingesetzt. Diese sind aber im Bereich der
FurkationmitVorsichtzuverwenden,umkeineHartge- websdefekte zu verursachen.
2. Blutstillung.DafürhatsichEisen-III-Sulfatklinischbe- währt.Zielistes,dieinderRegelauftretendeBlutung
des definitiven Füllungsmaterials für den Kavitätenver- schluss am Milchzahn orientiert sich an der Kavitä- tengrößebzw.-lage.WährendbeiKlasse-I-und-II-Kavitä- tensowieFrontzahnläsionendieadhäsiveRestauration
bevorzugt wird5, sind konfektionierte Stahlkronen an
großflächigenKavitätenmitundohneHöckerverlustean
den Milchmolaren das Therapiemittel der Wahl. Stahl- kronen zeichnen sich bei einer Liegedauer von bis zu 5 JahrendurcheinehoheErfolgsrate(>90 %)aus39.
EsbestehteinallgemeinerKonsensdarüber,dassaus
klinischer, mikrobiologischer und pulpahistologischer
SichtinsbesondereamMilchzahndereinzeitigenKaries- exkavationderVorzuggegenübereinemzweizeitigenoder
schrittweisen Vorgehen zu geben ist17. So konnte unab- hängig vom zur Abdeckung des Kavitätenbodens verwen- detenMaterialundderZeitbiszurWiedereröffnungder
Kavität stets eine Arretierung der Restkaries bei einem
dichtenKavitätenverschlussbeobachtetwerden.DieRest- karieszeichnetsichdurcheinedunkelbrauneVerfärbung,
ErhärtungundAustrocknungdesDentinsaus.Morpholo- gischgehtdieChronifizierungderDentinläsionmiteiner
Reizdentinbildung und Dentinsklerosierung einher, was
wiederumzueinerReduktionderPermeabilitätdesRest- dentins führt. Mikrobiologisch verläuft der Chronifizie- rungsprozessmiteinerdrastischenReduktionderKeim- besiedlunginderkariösenLäsion.UnterBerücksichtigung
derKenntnis,dassderkariöseProzessdurchdenBiofilm
unterhaltenwird,istesausbiologischerSichtverständlich,
dassderRestbesiedlungdesKavitätenbodensbeieinem
dichten Kavitätenverschluss weniger Bedeutung zu- kommt22.EinegeringeRestbesiedlungdeskariösverän- dertenDentinsvon101bis102Keimen(CFU/ml)wirdvon
der Pulpa gut toleriert und mit reparativen Leistungen be- antwortet16,22.Darüberhinauskannauchbeiderrigorosen
Kariesexkavation bis ins gesunde Dentin kein keimfreier Kavitätenboden erzielt werden41. Auf grund der klinischen Vorzüge einer einzeitigen Vorgehensweise gerade am
Milchzahnbzw.imKindesaltersolltesichdieschrittweise
ExkavationnurnochaufAusnahmefällebeschränken.
Als Fazit kann aus dem aktuellen Schrifttum eine Fa- vorisierung der Caries-profunda-Therapie im endodonti- schenBehandlungsspektrumvonMilchzähnenabgeleitet
werden. Damit hat sich bei Vorliegen einer klinisch symp- tomlosen Pulpa eine deutliche Verschie bung von der Pul- potomie zum pulpaerhaltenden Vorgehen vollzogen.
Dennoch haben die Pulpotomie und die Wurzelkanalbe- handlungihreklinischeBerechtigung.