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Gibt es weiße Flecken in der Translationsprozessforschung?

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Gibt es weiße Flecken in der Translationsprozessforschung?

Das dynamische Netzwerkmodell

Extended translatorial cognition and action als Rahmenmodell für die

Translationsprozessforschung

Diplomarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades einer Magistra der Philosophie an der Karl-Franzens-Universität Graz

vorgelegt von

Viktoria Horn

am Institut für Theoretische und Angewandte Translationswissenschaft Begutachterin: Univ.-Prof. Dr. phil. habil. Hanna Risku

Graz, 2014

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Abstract

Seit etwa 35 Jahren beschäftigen sich TranslationswissenschaftlerInnen mit kognitiven Übersetzungsprozessen – in dieser Zeit erblickten viele von der Kognitionswissenschaft beeinflusste Modelle und Ansätze das Licht der Welt. Eines der neuesten Modelle, das durch den Ansatz der Situated embedded cognition stark beeinflusst wurde, ist das dynamische Netzwerkmodell Extended translatorial cognition and action von Risku, Windhager und Apfelthaler (2013), welches eine neue Blickrichtung auf die Übersetzungsprozesse ermöglicht. Zudem soll es der Translationsprozessforschung als Rahmen dienen und mögliche Forschungsdefizite aufzeigen können. Diese beiden Eigenschaften des Modells werden in der vorliegenden Arbeit mittels Inhaltsanalyse von 148 empirischen Untersuchungen, welche in den letzten 15 Jahren im Bereich der Translationsprozessforschung publiziert wurden, untersucht. Die statistische Auswertung ergab, dass die Modellkategorien „Soziales Netzwerk“, „Umwelt“ und „Zeit“ signifikant weniger untersucht wurden als „Kognition“, „Handlung“ und „Artefakte“. Alle Untersuchungen ließen sich den Kategorien des Modells zuordnen, wodurch die Hypothese unterstützt wird, dass das Modell als Rahmenmodell für die Translationsprozessforschung der letzten 15 Jahre verwendet werden kann.

In the past 35 years, translation studies/research has seen many models and approaches influenced by cognitive science. One of the latest models, which was especially influenced by the approach of Situated Embedded Cognition, is the dynamic network model of Extended translatorial cognition and action by Risku, Windhager and Apfelthaler (2013).

This model enables a new perspective on translation processes and, moreover, may serve as a framework for translation process research and may be used to point out potentially under-researched areas. In the present thesis, content analysis is used to research the aforementioned characteristics of the model. The sample consists of 148 empirical studies which were published within the framework of translation process research during the last 15 years. Statistical analysis of the data shows that three categories of the model, namely social network, environment and time, are significantly less researched than the other categories cognition, action and artifacts. Each empirical study could be categorised into one of the categories of the model, which strengthens the hypothesis that the model serves as a framework for the translation process research conducted in the past 15 years.

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Inhaltsverzeichnis

EINFÜHRUNG ... 5

1 DIE ENTWICKLUNG DER TRANSLATIONSPROZESSFORSCHUNG ... 9

1.1 DIE COMPUTERMETAPHER ...9

1.2 DIE COMPUTERMETAPHER IN DER TRANSLATIONSWISSENSCHAFT ... 10

1.2.1 Maschinelle Übersetzung ... 11

1.2.2 Übersetzung als Folge von Code-Switching-Operationen bei Wilss ... 11

1.2.3 Übersetzen als Informationsverarbeitung von Kiraly 1995 ... 12

1.3 DIE GEHIRNMETAPHER ... 14

1.4 DIE GEHIRNMETAPHER IN DER TRANSLATIONSWISSENSCHAFT ... 16

1.4.1 Scenes-and-Frames-Semantik ... 16

1.4.2 Konstruktives Übersetzen von Hönig ... 18

1.4.3 Kreatives Übersetzen von Kußmaul ... 20

1.5 DIE ÖKOSYSTEMMETAPHER ... 23

1.6 DIE ÖKOSYSTEMMETAPHER IN DER TRANSLATIONSWISSENSCHAFT: SITUATED EMBEDDEDCOGNITION VON RISKU ... 26

2 DAS DYNAMISCHE NETZWERKMODELL EXTENDED TRANSLATORIAL COGNITION AND ACTION ALS GRUNDLAGE FÜR DIE UNTERSUCHUNG DES FORSCHUNGSSTANDES DER TRANSLATIONSPROZESSFORSCHUNG ... 30

2.1 DIE ENTSTEHUNG DES DYNAMISCHEN NETZWERKMODELLS EXTENDED TRANSLATORIAL COGNITION AND ACTION ... 30

2.1.1 Der Ansatz der Extended, embodied cognition als theoretische Grundlage für das Modell Extended translatorial cognition and action ... 31

2.1.2 Das dynamische Netzwerkmodell von Schweizer als Modellgrundlage für Extended translatorial cognition and action ... 31

2.1.3 Erstellen eines Überblickmodells auf Grundlage von Schweizers dynamischem Netzwerkmodell ... 33

2.1.4 Integration des Ansatzes Extended, embodied cognition in das Überblicksmodell .. 34

2.2 DAS DYNAMISCHE NETZWERKMODELL EXTENDED TRANSLATORIAL COGNITION AND ACTION ... 35

2.2.1 Kognition (C) ... 37

2.2.2 Handlung (A)... 37

2.2.3 Soziales Netzwerk (S) ... 38

2.2.4 Artefakte (Ar) ... 38

2.2.5 Umwelt (E) ... 38

2.2.6 Time (T) ... 39

2.3 EIGENSCHAFTEN DES DYNAMISCHEN NETZWERKMODELLS EXTENDED TRANSLATORIAL COGNITION AND ACTION ... 39

3 FRAGESTELLUNGEN UND HYPOTHESEN ... 41

4 METHODE ... 43

4.1 INHALTSANALYSE ... 43

4.2 OPERATIONALISIERUNG DER FAKTOREN DES MODELLS ... 43

4.2.1 Kognition ... 44

4.2.2 Handlung ... 45

4.2.3 Soziales Netzwerk ... 46

4.2.4 Artefakte ... 46

4.2.5 Umwelt ... 47

4.2.6 Zeit ... 47

4.2.7 Die Kategorie „Sonstiges“ ... 48

4.3 MATERIAL:CODIERBUCH ... 48

4.3.1 Die erste Version des Codierbuches ... 49

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4.3.2 Testdurchlauf mit der ersten Version des Codierbuches ... 52

4.3.3 Zweite und endgültige Version des Codierbuches ... 53

4.4 SAMPLE:ANALYSIERTE ARTIKEL ... 56

4.5 DURCHFÜHRUNG DER UNTERSUCHUNG ... 60

5 ERGEBNISSE ... 62

5.1 HYPOTHESE 1:ES GIBT KEINE FORSCHUNGSDEFIZITE IN DER TRANSLATIONSPROZESSFORSCHUNG ... 62

5.2 HYPOTHESE 2:DIE UNTERSUCHUNGEN LASSEN SICH INS MODELL EINORDNEN ... 64

5.3 WEITERE ERGEBNISSE ... 65

6 DISKUSSION ... 73

6.1 WEIßE FLECKEN IN DER TRANSLATIONSPROZESSFORSCHUNG ... 73

6.2 EIN RAHMENMODELL FÜR DIE TRANSLATIONSPROZESSFORSCHUNG? ... 73

6.3 DISKUSSION DER WEITEREN ERGEBNISSE ... 74

6.4 EINSCHRÄNKUNGEN DER VORLIEGENDEN UNTERSUCHUNG ... 77

7 ZUSAMMENFASSUNG ... 80

LITERATUR ... 81

ANHANG ... 85

ANHANG 1:CODIERBUCH,1.VERSION ... 85

ANHANG 2:CODIERBUCH,2.VERSION ... 86

ANHANG 3:LISTE DER KATEGORIEN FÜR ZEITSCHRIFTEN UND SAMMELBÄNDE ... 87

ANHANG 4:ÜBERBLICK ÜBER DAS SAMPLE REIHUNG NACH ALPHABET ... 88

ANHANG 5:ÜBERBLICK ÜBER DAS SAMPLE REIHUNG NACH CODE ... 102

ANHANG 6:ROHDATEN DER INHALTSANALYSE... 114

ANHANG 7:ROHDATEN UND KATEGORISIERUNG DER OFFENEN KATEGORIEN... 120

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Einführung

In den letzten Jahren verzeichnete der von der Kognitionswissenschaft beeinflusste Zweig der Translationswissenschaft, die Translationsprozessforschung, einen Aufschwung;

immer mehr WissenschaftlerInnen beschäftigen sich mit der Frage, was im Kopf von ÜbersetzerInnen vorgeht:

Forty years after the first works on the mental processes involved in translation and interpreting were published, the cognitive sciences seem at last to be gaining acceptance in translation studies, especially among empirical researchers.1 (Muñoz 2010a:145)

Am Anfang, in den 1970er- und 1980er-Jahren, standen in erster Linie die SimultandolmetscherInnen und deren kognitiven Prozesse beim Dolmetschen im Mittelpunkt des Interesses. Vor allem die Fähigkeit, mehrere Aufgaben wie Hören, Sprechen und Verarbeiten gleichzeitig zu bewältigen, weckte bei Neurophysiologen und Neuropsychologen besonderes Interesse (vgl. Prunč 2007:189). Wenige Jahre später hielten kognitionswissenschaftliche Ansätze in der Translationswissenschaft Einzug:

The past 25 years of process-oriented research in translation have shown that there are many ways to understand the cognitive processes going on during translation. And yet, much is left open for further research. (Lee-Jahnke 2005:370)

Wie Lee-Jahnke schreibt, kann man die kognitiven Prozesse beim Übersetzen auf vielfältige Art interpretieren. Dass der kognitiven Translationsprozessforschung ein integratives, allumfassendes Modell fehle, wurde von verschiedenen WissenschaftlerInnen in den letzten Jahren immer wieder kritisiert (z. B. Muñoz 2010a, 2010b;

Neunzig/Tanquerio 2010). Chesterman ortet einen neuen Zweig der Translationswissenschaft, den er „Translator Studies“ nennen würde:

Translator Studies covers research which focuses primarily and explicitly on the agents involved in translation, for instance on their activities or attitudes, their interaction with their social and technical environment, or their history and influence. (Chesterman 2009:20)

Auch Hansen (2010) forderte eine integrative Beschreibung von Übersetzungsprozessen2, da das Übersetzen ein komplexer Prozess ist, der sich durch das Ändern bloß eines Aspekts

1 Muñoz bezieht sich auf Ingrid Kurz’ (ehem. Pinter) Doktorarbeit Der Einfluss der Übung und Konzentration auf simultanes Sprechen und Hören von 1969 an der Universität Wien (vgl. Muñoz 2010a:156).

2 Hansen bemerkt, dass die empirischen Untersuchungen in der Translationsprozessforschung

„naturwissenschaftlicher“ werden und damit validere, exaktere und besser „reproduzierbare“ Ergebnisse

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(andere/r ÜbersetzerIn, anderer Text, andere Situation) deutlich ändern kann (vgl. Hansen 2010:209). Muñoz (2010b:178f.) stellt fest, dass der Translationsprozessforschung ein übergreifendes, strukturierendes Modell fehlt; er fordert, dass die „cognitive translatology“

ihren Fokus auf die Interaktion zwischen ÜbersetzerInnen und ihrer Umwelt legen sollte.

Übersetzungsprozesse, so Muñoz, können auf drei Ebenen verstanden werden: erstens der

„eigentliche“ Übersetzungsprozess, d. h. die Operationen, die beim Übersetzen eine Rolle spielen; zweitens die weiteren Aufgaben während des Übersetzens, wie Lesen, Schreiben, Nutzen von Informationsressourcen, Bedienen von Computern etc.; und drittens kann der Übersetzungsprozess als Zeitspanne gesehen werden, die beginnt, sobald der/die AuftraggeberIn mit dem/der ÜbersetzerIn in Kontakt tritt, und endet, sobald die Übersetzung bei dem/der AuftraggeberIn ankommt oder sobald der/die ÜbersetzerIn für seine/ihre Leistung bezahlt wird (ibid.).

Auch Risku, Windhager und Apfelthaler orten ein fehlendes Rahmenmodell:

[The] diversity of topics, methods and studies has resulted in a multitude of findings offering a slew of insights into the translatorial cognition puzzle. However, the pieces of the puzzle seem to lack a common framework of reference. (Risku/Windhager/Apfelthaler 2013:152)

Das dynamische Netzwerkmodell Extended translatorial cognition and action, das Risku, Windhager und Apfelthaler daraufhin vorstellen, kann der Translationsprozessforschung – der bisherigen und der zukünftigen – einen Rahmen sowie der empirischen Forschung einen Kontext bieten und die Ergebnisse der Translationsprozessforschung in einem umfassenden Modell vereinen (vgl. ibid.:153). Außerdem könnten mit dem Modell mögliche Forschungsdefizite ermittelt werden, wobei Risku, Windhager und Apfelthaler diese in den situativen und Umweltfaktoren des Übersetzungsprozesses vermuten (vgl.

ibid.:175).

Das Modell von Risku, Windhager und Apfelthaler (2013) stellt einen neuen Ansatz in der Translationsprozessforschung dar, mit dem quasi vom eigentlichen Übersetzungsprozess, vom Gehirn der ÜbersetzerInnen, herausgezoomt wird und der Einfluss der weiteren Handlungen, Kooperationen, Artefakte und der Kommunikation auf den

liefern (vgl. Hansen 2010:204), was an sich nicht schlecht ist, allerdings ist das naturwissenschaftliche Gütekriterium Reproduktion in der Translationswissenschaft nicht leicht zu erfüllen. Sie fordert daher eine integrative Beschreibung von Übersetzungsprozessen: „[i]ntegrative description is a means to control a complex empirical investigation using a variety of different kinds of methods and data“ (Hansen 2010:209), vor allem eine Kombination und Triangulation von qualitativen und quantitativen Methoden sowie der Ergebnisse von verschiedenen Untersuchungen. Das, so Hansen, „can add a needed and important rigor to translation studies“ (ibid.).

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Übersetzungsprozess mitberücksichtigt wird. Das Gehirn verliert somit den Alleinsitz der Kognition, gleichzeitig ist der Übersetzungsprozess nicht mehr nur auf das Gehirn beschränkt. Mit ihrem Modell werden außerdem die oben angeführten Forderungen von Muñoz (2010b:178f.) erfüllt.

Das relativ junge Modell von Risku, Windhager und Apfelthaler, insbesondere das Sekundärziel des Modells, der Translationsprozessforschung einen Rahmen zu bieten, steht im Mittelpunkt der vorliegenden Diplomarbeit. Da zwar bereits viele empirische Untersuchungen in verschiedenen Bereichen der Translationsprozessforschung durchgeführt wurden, diese aber noch nicht in einen größeren Rahmen eingebettet wurden, soll mit dieser Diplomarbeit eben dies erreicht werden: eine Kontextualisierung der bisherigen Forschung, wobei eventuell vorhandene „weiße Flecken“ aufgezeigt werden sollen. Mithilfe des Modells werden empirische Untersuchungen der letzten 15 Jahre, die explizit einen Beitrag zur kognitiven Translationswissenschaft bzw.

Translationsprozessforschung darstellen, inhaltsanalytisch untersucht und statistisch ausgewertet. Die Ergebnisse der Untersuchung könnten dann als Motivation für weitere Studien in den vernachlässigten Bereichen (sollte es diese geben) dienen.

Außerdem soll der Frage nachgegangen werden, wie gut sich die bisherigen empirischen Untersuchungen der Translationsprozessforschung den Faktoren des Modells von Risku, Windhager und Apfelthaler zuordnen lassen. Damit wird die Eigenschaft des Modells, als Rahmenmodell für die Translationsprozessforschung zu fungieren, an den bisher durchgeführten konkreten Untersuchungen getestet.

In der vorliegenden Arbeit wird in Kapitel 1 die Entwicklung der Translationsprozessforschung vorgestellt, um das Modell von Risku, Windhager und Apfelthaler, welches der Untersuchung dieser Arbeit als Grundlage dient, einordnen zu können. Die Entwicklung der Translationsprozessforschung ist stark von der Kognitionswissenschaft beeinflusst, daher werden erst die Paradigmen der Kognitionswissenschaft, dann deren Einfluss in der Translationswissenschaft sowie beispielhaft einige Modelle zu den jeweiligen Ansätzen vorgestellt. Kapitel 2 beschäftigt sich mit dem dynamischen Netzwerkmodell Extended Translatorial cognition and action, das die Grundlage für die Untersuchung der vorliegenden Diplomarbeit darstellt;

besprochen werden die Entwicklung des Modells, seine Faktoren und die Eigenschaften des Modells. In Kapitel 3 werden die Fragestellungen und Hypothesen der Untersuchung beschrieben, um in Kapitel 4 auf die Methode der Untersuchung einzugehen: Beschrieben

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werden die verwendete Art der Inhaltsanalyse, die Operationalisierung der Modellfaktoren, die Erstellung des Codierbuches für die Inhaltsanalyse, das Sample der analysierten empirischen Untersuchungen sowie die Durchführung. Die Ergebnisse der statistischen Auswertungen werden in Kapitel 5 dargestellt und in Kapitel 6 diskutiert. In Kapitel 6 wird außerdem auf verschiedene Einschränkungen der vorliegenden Untersuchung eingegangen, bevor die Diplomarbeit mit einer Zusammenfassung (Kapitel 7) abgeschlossen wird.

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1 Die Entwicklung der Translationsprozessforschung

Die Geschichte der Translationsprozessforschung ist eng mit der Kognitionswissenschaft verbunden, deren Paradigmen jene der Translationsprozessforschung stark beeinflussten (vgl. u. a. Muñoz 2010a; Prunč 2007:183ff.; Risku 2004:65-94; Risku 2010;

Risku/Windhager/Apfelthaler 2013). Die Entwicklung der Kognitionswissenschaft führt wie ein roter Faden durch die Translationsprozessforschung, weshalb im Folgenden jeweils erst die Paradigmen der Kognitionswissenschaft vorgestellt und daraufhin deren Einfluss auf die kognitionswissenschaftlichen Ansätze der Translationsprozessforschung besprochen werden. Für jeden Ansatz werden beispielhaft Modelle der Translationswissenschaft vorgestellt.

1.1 Die Computermetapher

Eines der ersten Modelle der Kognitionswissenschaft verwendet den Computer als Metapher für die Kognition; bekannt ist es auch als Informationsverarbeitungsparadigma.

In der Zeit, als die ersten Computer konstruiert und bekannt wurden, übernahm die Kognitionswissenschaft das Bild des Computers als Metapher für die Kognition: Der Computer funktioniert als offenes System, das mit der Umwelt interagiert – die Interaktion ist aber auf bestimmte Symbole eingeschränkt, die über die Tastatur eingegeben oder über Sensoren aufgenommen werden. Diese internen Symbole werden nach festgelegten Regeln sequentiell nacheinander bearbeitet bzw. mit verschiedenen Algorithmen berechnet, um ein Ergebnis zu bekommen (Strohner 1995:42f.). Kognition ist demnach „ein System, das auf der Grundlage der Symbolverarbeitung funktioniert“ (ibid.:43): Informationen werden aufgenommen, in interne Symbole umgewandelt, die dann mit verschiedenen mathematischen Operationen, wie Analogiebildung, logischer Deduktion und regelgeleitetem Schlussfolgern (vgl. Thagard 1999), verarbeitet werden. Sprache wird in diesem Modell als Kodierungs- und Dekodierungsprozess von klar abgegrenzten Informationseinheiten gesehen, wobei SenderIn und EmpfängerIn dieser Informationseinheiten keine Rolle spielen: Sie sind irrelevant und beliebig austauschbar (solange ihnen der gemeinsame Code bekannt ist) (vgl. Risku 2004:78).

Historisch gesehen stellt der Ansatz der Symbolverarbeitung eine Antwort auf den Behaviorismus dar, der die Prozesse zwischen Wahrnehmung (Stimulus) und dem resultierenden Verhalten daraus (Response) als Black Box ansah und als unzugänglich

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sowie wissenschaftlich nicht erforschbar postulierte. Das Verdienst der Vertreter der Computermetapher war es, diese Black Box erstmals zu öffnen. Jedoch ließ auch Kritik nicht lang auf sich warten: Im Ansatz der Symbolverarbeitung werden Emotionen, die Bedeutung des Bewusstseins und der physischen Umwelt für das menschliche Denken vernachlässigt, außerdem ist der Geist ein dynamisches System (vgl. Thagard 1999:174).

Thagard bemerkt zudem, dass Denken nicht ausschließlich im Kopf stattfindet:

CRUM [Computational-representational understanding of mind] scheint Denken auf Computerverfahren zu beschränken, die im Geist stattfinden, und ignoriert dabei die Tatsache, daß nahezu alles, was Menschen tun, vielschichtige und andauernde Interaktion mit der Außenwelt einschließt. (Thagard 1999:196)

Das Computermodell war dennoch sehr erfolgreich, da einerseits Modelle zur Informationsverarbeitung relativ einfach mathematisch aufgebaut und mit Experimenten getestet werden konnten und andererseits menschliche Informationsverarbeitungsprozesse relativ einfach mit Computerprogrammen simuliert werden konnten.

Die Computermetapher wurde in anderen Disziplinen übernommen und adaptiert; im folgenden Abschnitt wird deren Einfluss in der Translationswissenschaft betrachtet.

1.2 Die Computermetapher in der Translationswissenschaft

Die Computermetapher, auch als Ansatz der Symbolmanipulation bekannt, beeinflusste die Übersetzungstheorie der 1960er-Jahre: Kodierungs- und Dekodierungsprozesse, Signale (Codes) und Regeln standen im Mittelpunkt. Dementsprechend wurden Kommunikation und Translation als Vergleich von Signalen untersucht (vgl. Risku 2004:78f.).

Beispielsweise wurden Sprachstrukturen verschiedener Sprachen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Ausgangs- und Zieltext sowie dekontextualisierte sprachliche Korpora mit quantitativen Methoden analysiert. Der Übersetzungsprozess selbst stand nur insofern im Mittelpunkt des Interesses, „als sichtbar wird, inwieweit die Übersetzenden die optimale Strategie verfolgen und die richtige Übersetzung finden“ (Risku 2004:79).

Im Folgenden wird der Einfluss der Computermetapher in der Translationswissenschaft anhand von drei Ansätzen vorgestellt.

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1.2.1 Maschinelle Übersetzung

Der Ansatz der Symbolmanipulation trug wesentlich zur Entwicklung der Maschinellen Übersetzung bei (vgl. Risku/Windhager/Apfelthaler 2013:155). Man hoffte, in der Sprache Elemente zu finden, die mittels einfacher Regelsysteme durch äquivalente Elemente in einer anderen Sprache ersetzt werden könnten. Zu dieser Zeit wurde angenommen, dass es eine Art übersprachliche Begriffswelt, ein tertium comparationis, gibt, und folglich zwischen den Sprachen eine Art Symmetrie herrschen müsse. Deswegen ging man davon aus, dass man nur noch die Mehrdeutigkeit lösen sowie die einzelnen Elemente isolieren müsse, bevor die Maschinelle Übersetzung ihren endgültigen Siegeszug antreten würde.

Bald folgten jedoch erste Rückschläge, da zwischen den Sprachen keine Symmetrie herrscht (vgl. Prunč 2007:31, ibid.:344). Zunächst hoffte man, dieses Problem durch

„entsprechend ausgefeilte und komplexere Regelsysteme“ zu lösen (Prunč 2007:31). Doch auch diese komplexeren Regelsysteme konnten bisher nicht den erwünschten Erfolg liefern, was menschliche ÜbersetzerInnen in den meisten Fällen unersetzlich macht.

1.2.2 Übersetzung als Folge von Code-Switching-Operationen bei Wilss

Für Wolfram Wilss ist Translation ein Spezialfall bedeutungsbezogener Informationsverarbeitung (vgl. Wilss 1996:104) bzw. „eine linguistische Informationsverarbeitung, die aus einer Folge von code-switching-Operationen besteht“

(Prunč 2007:72; Hervorhebung im Original). Demnach sei es die Aufgabe der Translationswissenschaft, diese code-switching-Operationen und kognitiven Strategien zu untersuchen und anschließend für die Didaktik und die Anwendung in der Praxis zu optimieren (vgl. ibid.).

Laut Wilss bilden Wissen und Erfahrung die Basis für die Informationsverarbeitungs- prozesse; sie sind die Voraussetzung für situationsadäquate Übersetzungsprozesse und für deren Evaluierung (vgl. Wilss 1996:37).

Den Übersetzungsprozess beschreibt Wilss als aus drei Schritten bestehend: Zuerst wird der Ausgangstext lexikalisch, phraseologisch, syntaktisch und pragmatisch verarbeitet, dann wird er lexikalisch, phraseologisch, syntaktisch und pragmatisch in das Zieltext- Umfeld transferiert, wobei der Übersetzer funktionelle Äquivalenz von Ausgangs- und Zieltext berücksichtigen und erreichen muss, und schließlich wird die Übersetzung mehr oder weniger genau evaluiert, wobei dieser letzte Schritt der schwierigste ist. Der Übersetzungsprozess umfasst somit die Verarbeitung und Transformation von

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Textsegmenten bzw. Übersetzungseinheiten, beginnend bei der Analyse des Ausgangstexts vor dem eigentlichen Übersetzen bis zu Evaluationsverfahren nach dem Übersetzen (vgl.

ibid.:124ff.). Der eigentliche Übersetzungsprozess, also der Transfer von Ausgangstext zu Zieltext, bleibt für Wilss eine Black Box, für die wir nur wenige Einflüsse herauskristallisieren können, darunter die angeborene Begabung und die Erfahrung als lebenslanger Lernprozess von ÜbersetzerInnen. Es liege in der Natur von komplexen menschlichen Tätigkeiten, wie das Übersetzen eine ist, dass die Informations- verarbeitungsprozesse, die beim Übersetzen ablaufen, nicht genau getrennt und beschrieben werden können, so Wilss (ibid.:127).

1.2.3 Übersetzen als Informationsverarbeitung von Kiraly 1995

Kiraly stellt 1995 in seinem Buch Pathways to Translation ein Übersetzungsmodell vor, das auf dem Informationsverarbeitungsparadigma basierte (und von dem er sich wenige Jahre später abwenden sollte). Er geht von der Annahme aus, dass Übersetzen sowohl ein interner, kognitiver Prozess als auch ein externes, soziales Phänomen ist, und „[that] it would be possible to identify cognitive strategies as if they were fixed routines, artifacts of the mind that could be extracted, dissected and perhaps even distributed to translators-in- training“ (Kiraly 2000:1f.).

In Kiralys Modell (siehe Abbildung 1) nimmt der/die ÜbersetzerIn die Rolle des/der unabhängigen kognitiven Informationsverarbeiters/in ein, der/die Informationen von verschiedenen Quellen abruft, beispielsweise vom Langzeitgedächtnis oder anderen externen Ressourcen, im Einklang mit seinen/ihren Übersetzungsstrategien. Die Übersetzungsstrategien sind dabei Entwürfe bzw. Pläne für kognitive Problemlösungsstrategien. Die Informationen werden beim Übersetzen in zwei Zentren verarbeitet, im kontrollierten und im unkontrollierten. Im unkontrollierten Verarbeitungszentrum, das weitgehend unbewusst arbeitet, befinden sich Intuitionen, die durch abgerufene Informationen entstehen; dort entstehen intuitiv vorläufige Übersetzungselemente und werden Übersetzungsprobleme identifiziert, die dann strategisch und bewusst(er) im kontrollierten Verarbeitungszentrum verarbeitet werden.

Diesen Prozess beeinflusst das Selbstkonzept des/der Übersetzers/in, das im Hintergrund steht. Dieses translatorische Selbstkonzept ist die Identität, welche der/die ÜbersetzerIn durch Lernen und Erfahrungen mit Übersetzungsaktivitäten sowie durch sein/ihr Verständnis von sich selbst als translatorischem/r InformationsverarbeiterIn aufbaut (vgl.

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Kiraly 2000:3). Außerdem nimmt Kiraly an, dass das translatorische Selbstkonzept vom Kontext der Translationssituation (im Gegensatz zum Kontext des Ausgangstexts und jenem des Zieltexts) bestimmt wird, und gemeinsam mit dem Kontext der Translationssituation den/die ÜbersetzerIn durch den Übersetzungsprozess geleitet (vgl.

Kiraly 1995:54):

As a part of the translator’s self-concept, the translation monitor may factor communicative and social variables into translation processing and tell the translator when he or she cannot handle a particular translation task, when to look terms up in a reference work, and when to depend on strategy, rather than intuition, in solving particular translation problems. (Ibid.)

Abbildung 1: Kiralys Modell stellt die Prozesse, welche beim Übersetzen im „Translator’s Menta [sic!]

Space“ ablaufen, schematisch dar (Kiraly 2000:2).

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In Kiralys Modell entscheidet der/die ÜbersetzerIn, ob der AT wörtlich übersetzt wird oder freier, ob bestimmte Elemente weggelassen oder hinzugefügt werden – diese Entscheidungen werden jedoch von der Konstellation der drei Kontexte (des AT, des ZT und jenem des Übersetzers bzw. der Übersetzerin) geleitet (vgl. Kiraly 1995:57). Um die kognitiven Prozesse, die beim Übersetzen ablaufen, zu untersuchen, müsste man den Fokus darauf legen, „how translation-relevant knowledge is stored and accessed during translation production“ (Kiraly 1995:63).

Von Kiralys Modell lässt sich „a transmissionist approach to the teaching of knowledge and skills“ (Kiraly 2000:3) ableiten sowie das Lehren der richtigen Strategien, um korrekte Übersetzungen anzufertigen (vgl. ibid.). Von diesem präskriptiven Ansatz sowie seinem gesamten Modell wandte sich Kiraly jedoch wenige Jahre später gänzlich ab:

Since completing that earlier work, my understanding has evolved to a point where I see this cognitive science approach to translation processes as epistemologically incompatible with a social process perspective. The former rests on the assumption that meaning and knowledge are products of the individual mind – replicable, transferable, independent of social interaction and essentially static – while the latter assumes that they are dynamic intersubjective processes. (Kiraly 2000:2)

Echte Expertise, so Kiraly nun (2000:3), könne man nur durch authentische Situationen, kollaborative Wissensvermittlung und persönliche Erfahrung entwickeln. Er entwickelte ein sozialkonstruktivistisches Übersetzungsmodell, auf welches in dieser Arbeit nicht näher eingegangen wird, da Kiraly selbst es als nicht vereinbar mit den kognitionswissenschaftlichen Ansätzen bezeichnet. Muñoz ist da allerdings anderer Meinung: „Ironically, Kiraly focused on some of the major criticisms of the classical paradigm which motivated the development of several second generation cognitive frameworks“ (Muñoz 2010a:154). Zu diesen gehören beispielsweise die Ansätze der verteilten und situierten Kognition (vgl. dazu Abschnitt 1.5), sind jedoch „not incompatible but rather complementary to social constructivism“ (Muñoz 2010a:154).

1.3 Die Gehirnmetapher

In den 1980er-Jahren fand eine grundlegende Neuorientierung in der Kognitionswissenschaft statt: Die neuronalen Netzwerke des Gehirns bildeten nun die Metapher für den Konnektionismus, der den Verknüpfungen zwischen einfachen, neuronenähnlichen Strukturen eine entscheidende Rolle zuweist (vgl. Thagard 1999:138).

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Konnektionistische Netzwerke bestehen aus Knoten und Verbindungen (Kanten), wobei sich die Aktivierung über diese Verbindungen von Knoten zu Knoten ausbreitet. Daraus resultiert eine gleichzeitige Aktivierung von vielen Knoten, wodurch die Informationsverarbeitung nicht mehr seriell abläuft (wie bei der Computermetapher), sondern parallel möglich ist (vgl. Strohner 1995:48ff.). Neuronale Netzwerke sind nicht statisch, sondern verändern sich je nachdem, welche Informationen verarbeitet werden und wie oft, da die jeweiligen Verbindungen über die Synapsen der Neuronen dann stärker werden; das neuronale Netzwerk passt sich an. In diesem Zusammenhang spricht man auch von der Plastizität des Gehirns (vgl. Muñoz 2010b:170; Neville/Sur 2009:89).

Der Konnektionismus findet durch die parallele Informationsverarbeitung Erklärungen für viele psychologische Prozesse, welche die VertreterInnen der Computermetapher nicht liefern konnten, wie beispielsweise Aspekte der Entscheidungsfindung und der Bedeutungsbildung beim Verstehen von Sprache (vgl. Thagard 1999:161).

Die Modelle der Computermetapher wurden mit konnektionistischem Einfluss weiterentwickelt: Zum Beispiel werden bei einigen aktuellen Modellen von Analogien konnektionistische Methoden verwendet (vgl. Thagard 1999:120), und das Wesen der Konzepte erfuhr „einen Aufschwung, als Wissenschaftler Konzepte wie ‚Frame‘, ‚Schema‘

und ‚Skript‘ einführten, um die neue Sichtweise von Konzepten zu verdeutlichen“

(Thagard 1999:80f.). Diese Begriffe werden uns auch in der Translationswissenschaft begegnen (siehe auch Abschnitt 1.4.1).

Durch die großen Fortschritte des Konnektionismus, der den Sitz der kognitiven Prozesse im Gehirn ortete, begannen viele KognitionsforscherInnen, das Gehirn im Rahmen der Neurowissenschaft intensiv zu erforschen, denn „man müßte nur möglichst viel über das menschliche Gehirn wissen, damit auch klar würde, wie die Kognition funktioniert“

(Strohner 1995:51). Strohner schließt sich hierdurch der Kritik am Konnektionismus an:

Kognition als Leistung bleibt auf das Individuum und die dynamischen Prozesse des menschlichen Gehirns beschränkt und wird als relativ isoliert gesehen (vgl. Risku 2010:97).

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1.4 Die Gehirnmetapher in der Translationswissenschaft

In der Translationswissenschaft fanden die Ideen und Möglichkeiten des Konnektionismus sofort Anklang, denn „[v]orhersagbares und einheitliches Verhalten ist im übersetzerischen Kontext nicht möglich und auch nicht erstrebenswert“ (Risku 2004:79). Durch die konnektionistischen Systeme konnten erstmals kontextuelle Phänomene modelliert und simuliert werden, wodurch auch in der Translationswissenschaft eine Neuorientierung hin zu den kulturellen und kontextuellen Aspekten der Translation angeregt wurde. Kreativität, Kontextualität, individuelle Erfahrung und situative Bedingungen wurden nun betont (vgl.

ibid.; Risku 2010:97). Das Ziel von translatorischer Tätigkeit war nicht mehr die möglichst getreue Reproduktion des Ausgangstextes wie unter dem Ansatz der Symbolmanipulation, sondern die „Schaffung der Möglichkeit der Bedeutungsrekonstruktion“ (Risku 2004:79).

Übersetzungskompetenz wurde als Beherrschung oder Berücksichtigung dieser Faktoren ausgelegt. Dem Konnektionismus ist es zu verdanken, dass biologische und neurologische Aspekte in der Translationswissenschaft thematisiert und der Fokus auf Selbstorganisation, Kreativität und situiertes Lernen gelegt wurde (vgl. Risku/Windhager/Apfelthaler 2013:156). Zu den Ansätzen und Modellen, die aus dem konnektionistischen Einfluss hervorgingen, gehören unter anderem die Scenes-and-Frames-Semantik (vgl. Abschnitt 1.4.1), das Konstruktive Übersetzen von Hönig (Abschnitt 1.4.2) und das Kreative Übersetzen von Kußmaul (Abschnitt 1.4.3). Diese werden im Folgenden kurz vorgestellt.

1.4.1 Scenes-and-Frames-Semantik

Fillmores Scenes-and-Frames-Semantik (1977) fand über Vannerem und Snell-Hornby (1986) sowie Vermeer und Witte (1990) ihren Eingang in die Translationswissenschaft.

Die Theorie geht davon aus, dass jeder Mensch über kulturell geprägte Scenes, das sind mentale Bilder, verfügt, die mit Frames, einer sprachlichen Kodierung, verknüpft sind.

Fillmore definiert Scene folgendermaßen:

I intend to use the word scene [...] in a maximally general sense, to include not only visual scenes but familiar kinds of interpersonal transactions, standard scenarios, familiar layouts, institutional structures, enactive experiences, body image; and, in general, any kind of coherent segment, large or small, of human beliefs, actions, experiences, or imaginings.

(Fillmore 1977:63)

Außerdem sind Scenes, so Vermeer und Witte (1990:58), kulturspezifisch und haben innerhalb einer Kultur einen bestimmten Stellenwert.

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Frames sind sprachliche Kodierungen, die als solche keinen Sinn haben, sondern diesen erst dadurch bekommen, indem die verknüpfte Scene sozusagen als Bild den Rahmen füllt, wobei die Scene Teil einer erlebten Situation sein kann oder durch den vorhergehenden Text aktiviert wurde. Die Frames geben somit den Rahmen für das Material, das aus dem Gedächtnis abgerufen wird, vor. Jeder Scene ist ein Frame zugeordnet, wobei ein Frame seine jeweilige Scene und umgekehrt eine Scene ihren jeweils zugeordneten Frame aktiviert (vgl. Fillmore 1977:64). Außerdem kann eine Scene andere, ähnliche Scenes und ein Frame im Gedächtnis auch andere Frames aktivieren – wenn im linguistischen Material eine Ähnlichkeit vorliegt (vgl. ibid.:63).

Prunč (2007:186) führt für kulturtypische Scenes und Frames ein Beispiel an: Mit dem Frame „Ober“ verknüpfen ÖsterreicherInnen die Scene eines vornehmen Restaurants oder Cafés, mit dem Frame „Kellner“ jene eines Landgasthauses. Der Frame „Oberin“

hingegen aktiviert die Scene einer Klostervorsteherin.

Für das Übersetzen bedeutet die Scenes-and-Frames-Semantik, dass Textverständnis und -produktion schon vor dem Lesen des Ausgangstexts beginnen, denn diese „setzen bereits mit unseren Erwartungen an den Text und seinen Inhalt ein, ausgelöst durch das aktivierte Verständnis der vorliegenden Situation“ (Risku 2004:70). Zudem kann es passieren, dass sich die Scene des Autors und jene des Rezipienten nicht decken: Das Verstehen eines Textes kann „beträchtlich vom subjektiven Erfahrungshintergrund des Lesers abhängen [...]; dies erklärt auch, warum derselbe Text auf verschiedene Weise interpretiert werden kann“ (Vannerem/Snell-Hornby 1986:186). Scenes sind außerdem kulturspezifisch, und in verschiedenen Kulturen sind oft unterschiedliche Frames mit unterschiedlichen Scenes verknüpft, was bei der Übersetzung ein Problem darstellen kann.

Der/die ÜbersetzerIn muss sich dann bei der Übersetzung des Frames mit den Scenes in der Ausgangs- und Zielkultur befassen und die Entscheidung unter Einbeziehung des Skopos der Übersetzung treffen (vgl. Prunč 2007:187).

Teile der Scenes-and-Frames-Semantik sind in vielen weiteren Translationsmodellen zu finden, wie beispielsweise bei Hönig (siehe Abschnitt 1.4.2) und Kußmaul (siehe Abschnitt 1.4.3). Manchmal erscheint sie mit anderen Begriffen, die sich nur im Detail unterscheiden: Statt Scene werden zum Beispiel die Begriffe Schema und Script verwendet (vgl. Kußmaul 1995:13f.).

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1.4.2 Konstruktives Übersetzen von Hönig

Hans Hönig gesellte sich in die Reihe jener TranslationswissenschaftlerInnen, die den Ansatz der Symbolmanipulation ablehnten und sich dem Konnektionismus verschrieben (vgl. Hönig 1995a, 1995b): Die Stärke eines Computers sei es, identische Handlungen zu produzieren – aber „Menschen und menschliche Gehirne können keine identischen Handlungen produzieren“ (Hönig 1995b:225). Daher sind ÜbersetzerInnen nicht, wie beim Ansatz der Symbolmanipulation, beliebig austauschbar, denn schon beim Verstehen eines Textes läuft ein „subjektiv-integrativer Prozeß“ (ibid.:219) ab, das Übersetzen ist dann ein

„ein individuell-kreativer Prozeß“ (ibid.:219f.) und somit von ÜbersetzerIn zu ÜbersetzerIn verschieden. Hönig erstellt daher ein konnektionistisches Modell des Übersetzungsprozesses, in dem er „das durch Erfahrung und Sozialisation erworbene und deshalb kulturspezifisch vorgeprägte Weltwissen und seine Manifestationen im konkreten Akt des Übersetzens“ (Prunč 2007:198) zusammenfasst.

In seinem Modell (siehe Abbildung 2) unterscheidet Hönig zwischen der realen Kommunikation, in dieser befinden sich Ausgangs- und Zieltext in ihrem Wirkungskreis, bei den Rezipienten, und der mentalen Realität des/der Übersetzers/in, in die der Ausgangstext beim Lesenvorgang des/der Übersetzers/in eintritt und die er erst nach dem Übersetzungsprozess als fertiger Zieltext wieder verlässt. Außerdem wird zwischen einem kontrollierten Arbeitsraum und einem unkontrollierten Arbeitsraum unterschieden.

Im kontrollierten Arbeitsraum werden Mikrostrategien für die Übersetzung angewendet – das sind Regeln, Strategien oder Gesetzmäßigkeiten, die uneingeschränkte Gültigkeit beanspruchen und deshalb unreflektiert und ohne Makrostrategie angewandt eine Fehlerquelle darstellen. Im unkontrollierten Arbeitsraum befinden sich Schemata und Frames, die schon beim Lesen des AT aktiviert werden (vgl. Hönig 1995a:50). Die Daten, die sich im unkontrollierten Arbeitsraum befinden, entstehen und organisieren sich durch Strukturen und Vernetzungen, die nicht kontrollierbar sind. Zwar ist der/die ÜbersetzerIn selbst „durch die Identität seines [bzw. ihres] Ichs“ (Hönig 1995a:58) für die Selektion und Organisation dieser Daten verantwortlich, kann diese Prozesse aber weder steuern, beschreiben oder ausschalten, und ist sich nur der Existenz von Prozessen bewusst, aber nicht deren Inhalte. Bei Verstehensvorgängen laufen vor allem diese unkontrollierten Prozesse ab (vgl. ibid.).

(19)

Abbildung 2: Hönigs Modell des Konstruktiven Übersetzens (Hönig 1995a:51).

Der Übersetzungsprozess läuft in Hönigs Modell (siehe Abbildung 2) folgendermaßen ab (vgl. Hönig 1995a:55f.): Der/die ÜbersetzerIn erfasst den AT in der realen Kommunikation. Für die Übersetzung wird er in die mentale Realität des/der Übersetzers/in projiziert, er bindet nun mehr mentale Kapazität als beim bloßen Durchlesen. Dieser projizierte AT wird dann zum „Objekt der mentalen Verarbeitungsprozesse“ (ibid.:55), der unkontrollierte Arbeitsraum beeinflusst das Verstehen des Textes durch Schemata und Frames, die beim Lesen aktiviert werden, und bereits beim Verstehen des AT baut der Übersetzer unwillkürliche Erwartungsstrukturen

(20)

an den prospektiven ZT auf. Der „qualifizierte Übersetzer“ (ibid.) erarbeitet sich nun eine übersetzerische Makrostrategie, entweder durch seine Berufserfahrung automatisch oder bewusst durch beispielsweise eine übersetzungsrelevante Textanalyse. Erst jetzt sollte die eigentliche Übersetzungsphase beginnen, denn alle weiteren mentalen Prozesse im unkontrollierten und kontrollierten Arbeitsraum werden von der Makrostrategie gesteuert.

In dieser Phase wird der unkontrollierte Arbeitsraum um die Assoziationskompetenz (diese entspricht weitgehend der postulierten angeborenen Übersetzungskompetenz) erweitert.

Nun wird die Übersetzung, der Produkt-ZT, erstellt, wobei Übersetzungen auf mehrere Arten entstehen können: 1. als sprachlicher Reflex aus dem ersten Kontakt des AT mit dem unkoordinierten Arbeitsraum, 2. als automatisierte Assoziation aus dem unkontrollierten Arbeitsraum, nachdem eine Makrostrategie erarbeitet wurde, 3. als Ergebnis einer Mikrostrategie aus dem kontrollierten Arbeitsraum, das vom bewussten Monitoring akzeptiert wird, oder 4. als Ergebnis des Zusammenspiels von unkontrolliertem und kontrolliertem Arbeitsraum, wobei entweder das bewusste Monitoring oder intuitive, automatisierte Prozesse das letzte Wort haben können. Der Produkt-ZT wird bei makroskopisch gelenkten Prozessen immer wieder an der prospektiven ZT-Form überprüft, dann in geeigneter Form fixiert und an den Auftraggeber übermittelt, wodurch die Übersetzung die mentale Realität verlässt und Teil der realen Kommunikation wird.

An Hönigs Modell kritisiert Prunč (2007:190), dass „die mentale Realität des Übersetzers nicht von der Realität der Kommunikation zu trennen ist, sondern während des gesamten Prozesses mit dieser interagiert“, weshalb er Hönigs Modell modifiziert, indem er die mentale Realität des/der Übersetzers/in in die reale Kommunikation bzw. Welt einbettet.

1.4.3 Kreatives Übersetzen von Kußmaul

Anders als Hönig, der in seinem Modell den Übersetzungsprozess von der Auftragserteilung bis zur Abgabe des Zieltexts beschreibt, beschäftigt sich Kußmaul mit dem Übersetzungsprozess an sich bzw. mit der Kreativität beim Übersetzen. Kreativität, so Kußmaul, sei zwar von verschiedenen TranslationswissenschaftlerInnen bereits erwähnt worden, aber nie wirklich tiefgehend aufgearbeitet worden (vgl. Kußmaul 2000:9f.).

Kußmaul geht davon aus, dass Übersetzen „eine in hohem Maße kreative Tätigkeit“

(ibid.:9) ist und dass es verschiedene Arten der Kreativität gibt, wobei bei manchen Übersetzungsaufgaben mehr davon notwendig ist als bei anderen (vgl. ibid.:11).

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Die Kreativitätsforschung beschreibt kreative Leistung als Produkt, das aus einer Problemerkenntnis bzw. aus einer Unzufriedenheit mit einer Situation entsteht; „etwas Neues wird als notwendig empfunden“ (ibid.:17). Damit ein kreatives Produkt auch als solches bezeichnet wird, muss es außerdem angemessen sein, also bestimmten Vorgaben und Maßstäben gerecht werden, und akzeptiert werden, d. h. „mit bestimmten Erwartungen, Werten und Einstellungen einer Gruppe“ (ibid.) übereinstimmen. Wer also kreativ ist, „schafft nicht ohne Einschränkungen“ (ibid.).

Einschränkungen bzw. Zwänge sind ein Merkmal des Übersetzens: Sei es durch den Ausgangstext, den Übersetzungsauftrag, die Textform oder die Rezipienten. Nur in den seltensten Fällen können sprachliche Elemente aus dem AT direkt übersetzt und in den ZT übertragen werden, meistens müssen Änderungen vorgenommen werden – und sei es nur auf der grammatikalischen Ebene, weil eine Struktur in der Zielsprache nicht existiert.

ÜbersetzerInnen schaffen also fast immer etwas Neues, sind also fast immer kreativ, wobei man die Kreativität graduell abstufen muss (vgl. Kußmaul 2000:21ff.).

Kreativität in Übersetzungen definiert Kußmaul folgendermaßen:

Eine kreative Übersetzung entsteht aufgrund einer obligatorischen Veränderung des Ausgangstexts, und sie stellt etwas mehr oder weniger Neues dar, das zu einer bestimmten Zeit und in einer (Sub-)Kultur von Experten (= von Vertretern eines Paradigmas) im Hinblick auf einen bestimmten Verwendungszweck als mehr oder weniger angemessen akzeptiert wird. (Ibid.:31)

In der Kreativitätsforschung werden vier Phasen unterschieden: Präparation, Inkubation, Illumination und Evaluation, wobei kreative Ideen in der zweiten und dritten Phase entstehen. Diese Phasen, die 1913 von Poincaré beschrieben wurden (vgl. Kußmaul 1995:40), dienen Kußmaul als Ausgangspunkt für sein Modell des kreativen Übersetzens (siehe Abbildung 3).

In der Präparationsphase laufen die kognitiven Prozesse bewusst ab, Wissen wird gesammelt, Probleme werden erkannt und analysiert (vgl. Kußmaul 2000:60). Beim Übersetzen scheint diese mit der Verstehensphase des Ausgangstexts übereinzustimmen, bei der Textanalyse und Textinterpretation eine große Rolle spielen und die Funktion des Zieltexts festgelegt wird (vgl. Kußmaul 1995:40). Kußmaul spricht an dieser Stelle auch von kreativem Verstehen (vgl. ibid.:41), denn das Verstehen ist nicht nur ein passiver, rezeptiver Prozess, sondern auch ein produktiver. Der Vorgang des Verstehens ist ein Zusammenspiel zwischen Bottom-up- und Top-down-Prozessen. Als Bottom-up-Prozesse

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werden jene Prozesse bezeichnet, die ablaufen, wenn wir Stimuli wahrnehmen, beispielsweise Wörter hören oder lesen. Top-down-Prozesse hingegen sind jene Prozesse, die ablaufen, wenn wir etwas aus dem Gedächtnis abrufen (vgl. Kußmaul 2009:319).

Sprachliches Bottom-up-Material aktiviert Inhalte im Gedächtnis, die sprachlich nicht ausformuliert sind, woraufhin Top-down-Prozesse das aktivierte Wissen umsetzen und neuformulieren. Dieses Neuformulieren bezeichnet Kußmaul als Voraussetzung für kreative Übersetzungen: „Durch Top-down-Prozesse erhält die Kreativität ihre Chance.

Wir setzen das in unserem Gedächtnis Aktivierte in Worte um“ (Kußmaul 2000:67).

Bottom-up-Prozesse erzeugen alleine nichts Neues, Ausgangspunkt für Neues sind daher die Top-down-Prozesse.

In der Inkubations- und Illuminationsphase – Kußmaul fasst diese beiden Phasen zusammen, weil sie sehr eng zusammenhängen und fast nicht trennbar sind (vgl. Kußmaul 2000:79) – wird das Wissen kombiniert und reorganisiert. Die Prozesse verlaufen dabei weitgehend assoziativ und unbewusst. In dieser Phase können wegen des Drucks, eine gute, kreative Lösung zu finden, Blockaden auftreten. Diese Blockaden können mit individuellen Ablenkungsaktivitäten überwunden werden – beispielsweise mit einem Gang zum Kühlschrank, einem Spaziergang etc. Durch die Ablenkung steht die Lösung nicht mehr im Mittelpunkt, der Lösungsdruck verschwindet und das Bewusstsein legt seinen Fokus auf etwas anderes, während das Gehirn an der Lösung weiterarbeitet und sie uns

„wie aus dem Nichts“ nach kurzer Zeit präsentiert (vgl. ibid.:70-73).

Die Evaluationsphase ist eng mit der Illuminationsphase verknüpft, denn die gefundenen Ideen müssen sofort auf ihre Angemessenheit überprüft werden (vgl. ibid.:77).

Generell gehen die Phasen ineinander über und sind schwer zu trennen, außerdem läuft der Prozess meist nicht linear ab, sondern ist durch Vor- und Rückgriffe, gedankliche Schleifen und das mehrmalige Durchlaufen von Phasen gekennzeichnet (vgl. Kußmaul 2000:76). Sein Modell gestaltet Kußmaul deswegen auch nicht linear, sondern mit geschwungenen Pfeilen, die für eben diese Schleifen und Abkürzungen stehen (siehe Abbildung 3). Die geraden Pfeile stehen für den erwarteten Verlauf des Prozesses. In der Vorbereitungsphase (Präparation) können Verstehensprozesse schon die Übersetzung hervorbringen (durch einen geschwungenen Pfeil dargestellt), ein Vorgriff auf die Evaluation in der Inkubations-/Illuminationsphase bewahrt vor dem Verlust von guten Ideen. Ist die Evaluation einer Idee nicht erfolgreich, führt die Schleife zurück in die Inkubations-/Illuminationsphase oder sogar in die Präparation (vgl. Kußmaul 2000:79f.).

(23)

Abbildung 3: Die Interaktion der vier Phasen der Kreativität in Kußmauls Modell (Kußmaul 2000:79).

Kußmaul (2000:10, 59) geht davon aus, dass jeder kreativ denken kann, denn kreatives Denken ist etwas ganz Normales, das im menschlichen Gehirn als Denkprozess angelegt ist. Diese Denkprozesse müsste man nur erkennen und in Gang setzen: „[w]enn wir wissen, wie sie vor sich gehen, haben wir die Chance, sie bewußt herbeizuführen“

(Kußmaul 2000:59). Übersetzen ist dementsprechend „not only a skill but also a problem- solving process“ (Kußmaul 1995:9).

1.5 Die Ökosystemmetapher

Die Ökosystemmetapher (Strohner 1995), die in den 1990er-Jahren Eingang in die Kognitionswissenschaft fand, kann als Antwort auf die Kritik am Konnektionismus, der Einfluss von Situationen und Kontexten würde für das menschliche Problemlösen und Lernen unterschätzt (vgl. Thagard 1999:198), gesehen werden. Das Gehirn verliert nun den alleinigen Sitz der Kognition. Die Ökosystemmetapher basiert auf dem Bild, dass Lebewesen mit ihrer Umwelt ein System bilden und von diesem nicht einfach getrennt werden können, ohne schwerwiegende Folgen wie Funktionsuntüchtigkeit bei Maschinen oder bei Lebewesen das Ende ihrer Existenz zu verursachen. Für die Kognition bedeutet die Ökosystemmetapher,

[...] daß Kognition aus dem charakteristischen Verhältnis zwischen dem Lebewesen und dessen Umwelt resultiert. Nicht das Gehirn allein bestimmt die Kognition, sondern das Gehirn in Interaktion mit seiner Umwelt. (Strohner 1995:54)

Strohner beschreibt mit dem Ökosystemansatz ein umfangreiches und komplettes Modell, das andere WissenschaftlerInnen wie Thagard (1999) oder Friedenberg und Silverman (2012) in verschiedene Ansätze differenzieren. Im Folgenden werden drei dieser Ansätze, die verteilte Kognition, dynamische Systeme und die situierte Kognition, kurz vorgestellt.

(24)

Die verteilte Kognition ist unabdingbar für die Kooperation, bei der mehrere Individuen zusammenarbeiten und durch kontinuierliche Kommunikation ein bestimmtes, gemeinsames Ziel erreichen sollen. Thagard verwendet die Bezeichnung „‚verteilte‘

Kognition, um damit auszudrücken, daß sie nicht nur im Geist des Individuums stattfindet, sondern durch die Kooperation von vielen Individuen zustandekommt“ (Thagard 1999:205). Beispielsweise muss ein Team eine gemeinsame Repräsentation von Aufgabe und Ziel entwickeln, „damit verschiedene Teile des Projektes gut zusammenarbeiten“

(ibid.). Strohner (1995:140ff.) beschreibt, dass das handelnde System (in unserem Fall ein Individuum) ein internes kognitives Modell über ein zu behandelndes System braucht, dann in diesem kognitiven Modell einen Soll-Zustand erzeugt und in der Folge einen Plan entwirft, um diesen Soll-Zustand zu erreichen. Wenn mehrere Individuen,

„Handlungssysteme“ (Strohner 1995:141), an diesem Prozess beteiligt sind, wie beispielsweise bei einer Teamarbeit, dann wird ein Prozess der „Aushandlung“ (ibid.) durchgeführt, der die beteiligten Handlungssysteme aufeinander abstimmt:

Indem menschliches Handeln in Aushandlungsvorgänge integriert wird, wandelt sich die Analyse kognitiver Prozesse zu einer Analyse kommunikativer und damit sozialer Vorgänge. (Ibid.)

Die individuelle Situationsbewältigung wird dadurch zu einem kooperativen Problemlösen erweitert (vgl. ibid.:142).

Das Modell der dynamischen Systeme bringt die Zeitkomponente ins Spiel und berücksichtigt außerdem den Einfluss der Umwelt (vgl. Friedenberg/Silverman 2012:443;

Risku/Windhager/Apfelthaler 2013:156). Der Faktor Zeit ist die Voraussetzung für Veränderungen im System, die geschehen, „wenn sein Zustand zt1 zum Zeitpunkt t in einen Zustand zt+1 zum Zeitpunkt t+1 übergeht. [...] Eine Sequenz aufeinanderfolgender Zustände eines Systems ist ein Prozeß“ (Strohner 1995:127; Hervorhebung im Original). Thagard definiert ein dynamisches System als

[...] ein System, dessen Änderungen über die Zeit als ein Set von Gleichungen dargestellt werden können, die zeigen, wie die derzeitigen Werte der Variablen mathematisch von vorherigen Werten dieser Variablen abhängen. (Thagard 1999:213)

Kognition wird somit als dynamisches System dargestellt, das durch nichtlineare mathematische Gleichungen, „as a looping cyclical process between brain, body and world“ (Friedenberg/Silverman 2012:443), beschrieben werden kann. Friedenberg und Silverman hinterfragen sogar, ob man denselben Gedanken zwei Mal haben oder exakt die

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gleiche Emotion zwei Mal erleben kann, denn „[t]he mind is dynamic, not static. It is in a constant state of flux“ (ibid.).

Für die situierte Kognition (engl. Situated Cognition) ist die jeweilige momentane Umwelt, also die „Information plus Situation“ (Strohner 1995:56), fundamental. Die Information wird mit der jeweiligen Situation, ihrem Kontext, verknüpft und dient so als Basis für die Sinnbildung. Denn „Sinn entsteht erst in der Situation, als Interpretation einer einmaligen Kombination situativer Hinweise“ (Risku 2004:86f.). Strohner spricht von einem dualen Verhältnis von Umwelt und Lebewesen: Durch das Zusammenspiel dieser beiden können bei beiden „verhaltensrelevante Ereignisse“ (Strohner 1995:57) eingegrenzt werden. Die Kognition, die dabei entsteht, ist nicht nur eine interne Repräsentation, sondern gleichzeitig eine Veränderung der Beziehung des Lebewesen zur Umwelt. Die mentalen Prozesse sind somit nicht nur innere Ereignisse, sondern können als Wahrnehmungen, Wissen, Meinungen und Gefühle über die Umwelt beschrieben werden (vgl. Strohner 1995:57ff.). Im Ansatz der situierten Kognition wird deutlich unterschieden zwischen den Handlungen der Lebewesen und ihren Erklärungen für diese Handlungen.

Für diese Erklärungen spielen Schemata und Konzepte eine Rolle, jedoch nur „als vage Pläne oder als nachträglich erstellte Erklärungen“ (Risku 2004:87). Durch ihre Hilfe können die situativen Ressourcen genützt und die Situation sinnvoll interpretiert werden.

Diese Schemata und Konzepte können nur im Kontext einer bestimmten Situation abgerufen werden bzw. entstehen dann erst, da sich die Information erst aus der Situation, also dem Zusammenwirken von Lebewesen und Umwelt, ergibt.

Die Ökosystemmetapher geht somit davon aus, dass Lebewesen mit ihrer Umwelt ein komplexes System bilden, in dem Informationen situationsabhängig sind, sich das System über die Zeit ändert und durch Kommunikation auch Kognition über ein Individuum hinausgehen kann. Durch die Ökosystemmetapher lassen sich beispielsweise dank Situiertheit die Situationsbewältigung und dank verteilter Kognition das kooperative Problemlösen kognitiv erklären (vgl. Strohner 1995:64, 185). Von den empirischen Forschungsmethoden fordert die Ökosystemmetapher ökologische Validität, d. h. dass

„Labor- und Feldforschung aufeinander bezogen werden“ (ibid.:64).

Die Ökosystemmetapher fand durch Hanna Risku Eingang in die Translationswissenschaft, worüber Muñoz schreibt:

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[I]t is […] common for translatologists slowly to adopt current cognitive perspectives, and a few researchers are leading this conceptual change. For example, Risku (1998) rejected the classical cognitive paradigm and gave a detailed description of the dynamics of the translation process, thereby illustrating the complexity of developing CT [cognitive translatology]. […] However, many other contributions do not fulfill the conditions […], namely coherence with what is generally assumed to be true in cognitive science, and psychological realism based on empirical research. (Muñoz 2010a:154)

Riskus Konzept der Situated Embedded Cognition (Risku 2004) wird im folgenden Abschnitt vorgestellt.

1.6 Die Ökosystemmetapher in der Translationswissenschaft: Situated Embedded Cognition von Risku

Für die Translationswissenschaft bedeutet die Ökosystemmetapher, dass der Übersetzungsprozess erweitert wird: Stand bisher der Übersetzer/die Übersetzerin bzw.

dessen/deren Gehirn im Fokus der kognitiven Translationswissenschaft, so wird mit diesem Modell quasi „herausgezoomt“: Nicht mehr das Gehirn des Übersetzers/der Übersetzerin allein steht im Mittelpunkt des Interesses, vielmehr gewinnen einige andere, z. T. wenig beachtete Bereiche an Bedeutung. Die kognitiven Prozesse beim Übersetzen, die bisher auf den Übersetzer/die Übersetzerin beschränkt waren, überschreiten nun

[d]urch Integration von global vernetzten Artefakten wie dem Internet in die kognitive Welt der Translatoren und die Ausweitung der Beziehungsnetze in die Raumlosigkeit der virtuell-realen digitalen Kommunikation [...] den physischen Lebensraum der Translatoren.

(Prunč 2007:198f.)

Der Übersetzungsprozess lässt sich nun nicht mehr durch einen typischen Verlauf darstellen, da das Übersetzen eine kreative, situative und flexible Tätigkeit ist (vgl. Risku 2004:79); folglich ist Übersetzen keine Reproduktion, „sondern Neukreation in einem zielsituativen Kontext, wobei die Translatoren nicht eine gelernte Übersetzungsmethode einsetzen, sondern deren Anwendbarkeit stets aufs Neue überprüfen“ (Risku 2004:75).

Besondere Bedeutung gewinnen nun Situation bzw. Umwelt, Artefakte und Kooperation (wie in Prunčs Zitat oben schon anklingt), welche Hanna Risku in ihrem Konzept der Situated Embedded Cognition in den Mittelpunkt rückt, denn „[m]enschliche Kognition wird erst erklärbar durch die Wechselwirkungen zwischen Gehirn, Körper und Artefakten sowie mit anderen Individuen“ (Risku 2004:73). Im Folgenden werden die Komponenten der Situated Embedded Cognition vorgestellt.

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Die Situation bzw. Umwelt hat einen besonderen Stellenwert als Grundlage für Sinnbildung und folglich Handlungsfähigkeit, denn Sinn, Wissen und Information entstehen erst durch die Interaktion mit der momentanen Umwelt bzw. mit der konkreten Situation (vgl. Risku 2004:77ff.). Dementsprechend ist intelligentes Handeln bzw.

erfolgreiches Problemlösen „situatives Handeln in einem komplexen physischen Umfeld und in einer sozialen Situation“ (ibid.:72). Mit dem Wissen, das aus der Interaktion mit einer konkreten Situation entsteht, entwickelt sich in dieser Situation die Fähigkeit, Probleme zu lösen. Als Beispiel hierfür nennt Risku, dass dieser Vorgang erklären kann, wie jemand im Stande ist, großartige Übersetzungen anzufertigen, jedoch „an Situationen der Alltagskommunikation scheitert“ (ibid.:77). Außerdem hat der Begriff der Situation auch eine zeitliche Komponente: „Als Prozess ist Kognition von vorherigen und aktuellen Handlungen, internen Zuständen und äußeren Umständen abhängig“ (ibid.:86).

Nun könnte man meinen, dass der/die kognitiv Handelnde passiv ist und von der Umwelt beeinflusst wird – dieser jedoch beeinflusst auch die Umwelt, beispielsweise indem er/sie

„sich ein Gerüst von Instrumenten (Artefakten) baut, um seine kognitive Last zu verkleinern“ (Risku 2004:89). Artefakte sind Hilfsmittel und Instrumente, die uns kognitive Last abnehmen, indem wir Wissen an sie delegieren, und die uns dadurch kognitiv ökonomischer arbeiten lassen. Wir sind umgeben von Artefakten und abhängig von ihnen, und uns ihrer zum Teil wenig oder gar nicht bewusst (vgl. ibid.:90). Zu den Artefakten gehören nicht nur offensichtliche Instrumente, wie Kalender, der bekannte Knoten im Taschentuch oder Computerprogramme, sondern „[a]lles, was uns im Alltag als

„Orientierungshilfe“ dient, [...] wie etwa auch die Illusion abgegrenzter Handlungen und Intentionen“ (ibid.:90). Artefakte können viele Erscheinungsformen haben: Der Müllsack vor der Haustüre erinnert uns daran, dass wir ihn hinuntertragen müssen; die Einkaufsliste hilft uns im Geschäft, nichts zu vergessen; ein CAT-Programm erinnert uns daran, wie wir ein ähnliches oder gleiches Textsegment bereits übersetzt haben; bei Gesprächen verwenden wir verschiedene Diskursformen, wie Small-Talk, Bewerbungsgespräch oder wissenschaftliche Diskussion (vgl. auch ibid.). Artefakte können kulturell bzw.

politisch/gesellschaftlich geprägt sein, „wenn sie als Teil einer kooperativen Handlung erfahren werden“ (ibid.:96), sie tragen jedoch nicht automatisch eine bestimmte Interpretation oder Handlungsweise in sich, denn sie sind Zeichen und haben als solche Spielraum für verschiedene Interpretationen (vgl. ibid.). Risku fordert daher, dass nicht nur die kognitiven Prozesse beim Übersetzen, die im Gehirn ablaufen, untersucht werden

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sollen, sondern dass diese Prozesse ergänzt werden müssen durch das, „was in den Händen/im Computer/auf dem Arbeitstisch/in der Sprache/in den Dialogen von Übersetzenden vorgeht“ (ibid.:91).

Die Kooperation ist ein weiterer wichtiger Punkt in Riskus Konzept, denn die ÜbersetzerInnen, die allein und von der restlichen Welt abgeschottet arbeiten, gehören zum Großteil der Vergangenheit an. ÜbersetzerInnen arbeiten nicht nur zusammen, wenn ein größeres Projekt aufgeteilt wird, sondern sie tauschen sich auch über verschiedene Medien aus, unterstützen sich gegenseitig oder suchen Rat bei ExpertInnen. Zur Kooperation zählt also die Kommunikation mit dem/der AuftraggeberIn (Rückfragen des/der ÜbersetzerIn, weitere Wünsche oder Aufträge von Seiten des Auftraggebers/der Auftraggeberin), die Kommunikation mit KollegInnen oder ExpertInnen und all jenen, die am Übersetzungsprozess beteiligt sind (vgl. Risku 2004:91f.). Risku ist überzeugt, dass

„Kooperation der Schlüssel zur Bewältigung der Komplexität translatorischer Textgestaltung ist“ (ibid.:92). Dies erklärt sie damit, dass wir in Kommunikationssituationen erfolgreich sind, weil wir ständig Hypothesen im Interpretationsprozess bilden, Missverständnisse erkennen und beseitigen können und für den Prozess der Kohärenzbildung verschiedene situative Hinweise heranziehen. Dabei spielt die Unsicherheit eine große Rolle:

Unsicherheit ist also etwas, mit dem wir leben und mit dem wir umgehen können; mehr noch, wir benötigen Unsicherheit für komplexes intelligentes Handeln und profitieren keineswegs von einer Abschaffung der Ambivalenz. (Ibid.)

Bei einer normalen Übersetzung unterliegen die ÜbersetzerInnen einem „Mangel an situativen Hinweisen“ (ibid.), sie haben keinen Zugriff auf die Verwendungssituation von AT und ZT. Daher ist es unerlässlich,

mit den übrigen an der Situation Beteiligten, im Minimalfall mit dem Auftraggeber/Kunden, aber auch mit anderen erfahrenen Personen, zu kooperieren. Der Auftraggeber wird zum Kooperationspartner. (Ibid.)

Der Übersetzende arbeitet somit nicht mehr isoliert von der Welt, sondern vernetzt und eingebunden in Kommunikation mit KollegInnen, ExpertInnen, AuftraggeberInnen etc.

Als Vorteil dieser während der Übersetzung ablaufenden Kooperationsprozesse und der verstärkten Einbindung der am Übersetzungsprozess Beteiligten „gewinnt der einzelne Übersetzer an Flexibilität, Kreativität und Verantwortung und vermeidet Realitätsverlust“

(Risku 2004:93).

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