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Kreatives Übersetzen von Kußmaul

Anders als Hönig, der in seinem Modell den Übersetzungsprozess von der Auftragserteilung bis zur Abgabe des Zieltexts beschreibt, beschäftigt sich Kußmaul mit dem Übersetzungsprozess an sich bzw. mit der Kreativität beim Übersetzen. Kreativität, so Kußmaul, sei zwar von verschiedenen TranslationswissenschaftlerInnen bereits erwähnt worden, aber nie wirklich tiefgehend aufgearbeitet worden (vgl. Kußmaul 2000:9f.).

Kußmaul geht davon aus, dass Übersetzen „eine in hohem Maße kreative Tätigkeit“

(ibid.:9) ist und dass es verschiedene Arten der Kreativität gibt, wobei bei manchen Übersetzungsaufgaben mehr davon notwendig ist als bei anderen (vgl. ibid.:11).

Die Kreativitätsforschung beschreibt kreative Leistung als Produkt, das aus einer Problemerkenntnis bzw. aus einer Unzufriedenheit mit einer Situation entsteht; „etwas Neues wird als notwendig empfunden“ (ibid.:17). Damit ein kreatives Produkt auch als solches bezeichnet wird, muss es außerdem angemessen sein, also bestimmten Vorgaben und Maßstäben gerecht werden, und akzeptiert werden, d. h. „mit bestimmten Erwartungen, Werten und Einstellungen einer Gruppe“ (ibid.) übereinstimmen. Wer also kreativ ist, „schafft nicht ohne Einschränkungen“ (ibid.).

Einschränkungen bzw. Zwänge sind ein Merkmal des Übersetzens: Sei es durch den Ausgangstext, den Übersetzungsauftrag, die Textform oder die Rezipienten. Nur in den seltensten Fällen können sprachliche Elemente aus dem AT direkt übersetzt und in den ZT übertragen werden, meistens müssen Änderungen vorgenommen werden – und sei es nur auf der grammatikalischen Ebene, weil eine Struktur in der Zielsprache nicht existiert.

ÜbersetzerInnen schaffen also fast immer etwas Neues, sind also fast immer kreativ, wobei man die Kreativität graduell abstufen muss (vgl. Kußmaul 2000:21ff.).

Kreativität in Übersetzungen definiert Kußmaul folgendermaßen:

Eine kreative Übersetzung entsteht aufgrund einer obligatorischen Veränderung des Ausgangstexts, und sie stellt etwas mehr oder weniger Neues dar, das zu einer bestimmten Zeit und in einer (Sub-)Kultur von Experten (= von Vertretern eines Paradigmas) im Hinblick auf einen bestimmten Verwendungszweck als mehr oder weniger angemessen akzeptiert wird. (Ibid.:31)

In der Kreativitätsforschung werden vier Phasen unterschieden: Präparation, Inkubation, Illumination und Evaluation, wobei kreative Ideen in der zweiten und dritten Phase entstehen. Diese Phasen, die 1913 von Poincaré beschrieben wurden (vgl. Kußmaul 1995:40), dienen Kußmaul als Ausgangspunkt für sein Modell des kreativen Übersetzens (siehe Abbildung 3).

In der Präparationsphase laufen die kognitiven Prozesse bewusst ab, Wissen wird gesammelt, Probleme werden erkannt und analysiert (vgl. Kußmaul 2000:60). Beim Übersetzen scheint diese mit der Verstehensphase des Ausgangstexts übereinzustimmen, bei der Textanalyse und Textinterpretation eine große Rolle spielen und die Funktion des Zieltexts festgelegt wird (vgl. Kußmaul 1995:40). Kußmaul spricht an dieser Stelle auch von kreativem Verstehen (vgl. ibid.:41), denn das Verstehen ist nicht nur ein passiver, rezeptiver Prozess, sondern auch ein produktiver. Der Vorgang des Verstehens ist ein Zusammenspiel zwischen Bottom-up- und Top-down-Prozessen. Als Bottom-up-Prozesse

werden jene Prozesse bezeichnet, die ablaufen, wenn wir Stimuli wahrnehmen, beispielsweise Wörter hören oder lesen. Top-down-Prozesse hingegen sind jene Prozesse, die ablaufen, wenn wir etwas aus dem Gedächtnis abrufen (vgl. Kußmaul 2009:319).

Sprachliches Bottom-up-Material aktiviert Inhalte im Gedächtnis, die sprachlich nicht ausformuliert sind, woraufhin Top-down-Prozesse das aktivierte Wissen umsetzen und neuformulieren. Dieses Neuformulieren bezeichnet Kußmaul als Voraussetzung für kreative Übersetzungen: „Durch Top-down-Prozesse erhält die Kreativität ihre Chance.

Wir setzen das in unserem Gedächtnis Aktivierte in Worte um“ (Kußmaul 2000:67).

Bottom-up-Prozesse erzeugen alleine nichts Neues, Ausgangspunkt für Neues sind daher die Top-down-Prozesse.

In der Inkubations- und Illuminationsphase – Kußmaul fasst diese beiden Phasen zusammen, weil sie sehr eng zusammenhängen und fast nicht trennbar sind (vgl. Kußmaul 2000:79) – wird das Wissen kombiniert und reorganisiert. Die Prozesse verlaufen dabei weitgehend assoziativ und unbewusst. In dieser Phase können wegen des Drucks, eine gute, kreative Lösung zu finden, Blockaden auftreten. Diese Blockaden können mit individuellen Ablenkungsaktivitäten überwunden werden – beispielsweise mit einem Gang zum Kühlschrank, einem Spaziergang etc. Durch die Ablenkung steht die Lösung nicht mehr im Mittelpunkt, der Lösungsdruck verschwindet und das Bewusstsein legt seinen Fokus auf etwas anderes, während das Gehirn an der Lösung weiterarbeitet und sie uns

„wie aus dem Nichts“ nach kurzer Zeit präsentiert (vgl. ibid.:70-73).

Die Evaluationsphase ist eng mit der Illuminationsphase verknüpft, denn die gefundenen Ideen müssen sofort auf ihre Angemessenheit überprüft werden (vgl. ibid.:77).

Generell gehen die Phasen ineinander über und sind schwer zu trennen, außerdem läuft der Prozess meist nicht linear ab, sondern ist durch Vor- und Rückgriffe, gedankliche Schleifen und das mehrmalige Durchlaufen von Phasen gekennzeichnet (vgl. Kußmaul 2000:76). Sein Modell gestaltet Kußmaul deswegen auch nicht linear, sondern mit geschwungenen Pfeilen, die für eben diese Schleifen und Abkürzungen stehen (siehe Abbildung 3). Die geraden Pfeile stehen für den erwarteten Verlauf des Prozesses. In der Vorbereitungsphase (Präparation) können Verstehensprozesse schon die Übersetzung hervorbringen (durch einen geschwungenen Pfeil dargestellt), ein Vorgriff auf die Evaluation in der Inkubations-/Illuminationsphase bewahrt vor dem Verlust von guten Ideen. Ist die Evaluation einer Idee nicht erfolgreich, führt die Schleife zurück in die Inkubations-/Illuminationsphase oder sogar in die Präparation (vgl. Kußmaul 2000:79f.).

Abbildung 3: Die Interaktion der vier Phasen der Kreativität in Kußmauls Modell (Kußmaul 2000:79).

Kußmaul (2000:10, 59) geht davon aus, dass jeder kreativ denken kann, denn kreatives Denken ist etwas ganz Normales, das im menschlichen Gehirn als Denkprozess angelegt ist. Diese Denkprozesse müsste man nur erkennen und in Gang setzen: „[w]enn wir wissen, wie sie vor sich gehen, haben wir die Chance, sie bewußt herbeizuführen“

(Kußmaul 2000:59). Übersetzen ist dementsprechend „not only a skill but also a problem-solving process“ (Kußmaul 1995:9).