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Pädagogik und Medizin im situativen Handeln

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Academic year: 2022

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Pädagogik und Medizin im situativen Handeln

von der Bedeutung sozialpädagogischer Tätigkeit in einer Kinderarztpraxis

Masterarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts

vorgelegt von

Nicole NEUKIRCHNER, BA 01210153

Am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft Begutachterin: Frau Univ.-Prof.in Dr.in Johanna Hopfner

Graz, 2018

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Erklärung

Erklärung

Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen nicht benutzt und die den benutzten Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als als solche kenntlich gemacht habe.

Nicole Neukirchner, BA

Graz, 2018

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Danksagung

Danksagung

Mein aufrichtiger Dank richtet sich an:

Meinen Mann und meine fünf Kinder,

für die Geduld und das Vertrauen bzw. den Glauben an mich!

Frau Univ.-Prof.in Dr.in Johanna Hopfner, für die großartige Betreuung und tolle Unterstützung!

Meine Interviewpartner/innen, für die Zeit und Ehrlichkeit!

Und auch die Kinder,

welche mich in meinen Gedanken inspirierten!

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Kurzfassung

Kurzfassung

Seit Generationen wird erforscht, wie die beiden Disziplinen Pädagogik und Medizin im Zusammenhang stehen. Man erkannte bereits in der Zeit des ersten Weltkrieges, dass die Pädagogik von großer Bedeutung in der medizinischen Arbeit ist. In dieser Arbeit soll die Zusammenarbeit von Pädagogik und Medizin im situativen Handeln – von der Bedeutung sozialpädagogischer Tätigkeit in einer Kinderarztpraxis näher veranschau- licht werden. Gerade in der Arbeit mit Kleinkindern ist die Pädagogik auch für einen Mediziner wichtig. Ziel dieser Forschungsarbeit ist es, herauszufinden, wie Kleinkinder in einer Kinderarztpraxis mit herausfordernden Situationen umgehen, welche Faktoren Einfluss auf das Verhalten von Kleinkindern in Bezug auf einen Besuch beim Kinder- arzt nehmen sowie welche pädagogischen Maßnahmen Kinder in solchen Situationen unterstützen, um besser damit umgehen zu können. Es wurde ein Experteninterview mit einem Kinderfacharzt geführt, das klärt, wie dieser zur Pädagogik steht, und ebenso All- tagssituationen und Praxisbeispiele aufzeigt, die es erlauben, Antworten auf For-

schungsfragen zu geben. Ebenso wurden für eine umfassende Perspektive ergänzend dazu sechs Mütter interviewt, welche regelmäßig in diese Kinderarztpraxis gehen, aus welchem Grund auch immer. Aus diesen ExpertInneninterviews konnten im Vergleich zu Fallbeispielen und Theorie Antworten zu den Forschungsfragen entnommen werden.

Unter anderem zeigte sich aus den Ergebnissen, dass Mütter gute Erfahrungen mit Pä- dagogik haben bzw. den guten Umgang mit dem eigenen Kind als wichtig in der medi- zinischen Arbeit sehen. Kinder reagieren unterschiedlich auf belastende Situationen, wobei sich aber Mütter und Kinderarzt einig sind, ist, dass Mütter ihr eigenes Verhalten auf Kinder übertragen. Als Einflüsse auf das Verhalten in bestimmten Situationen im Alltag einer Kinderarztpraxis werden äußere wie auch innere Faktoren benannt. In Be- zug auf Unterstützungsmaßnahmen konnte aus Ideen von Kindern ein Ausmalbild für diese Ordination entwickelt werden, welches dort jetzt auch aufliegt.

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Abstract

Abstract

For generations, it has been tried to find out how the two disciplines of pedagogy and medicine are related. It was already recognized during the time bevor the first war starts that pedagogy is of great importance in medical work. In this thesis pedagogy and me- dicine in situational action – of the importance of socio-pedagogical activity in a pediat- rician practice will be illustrated in more detail. Especially in the work with toddlers, pedagogy is also important for a physician. In this work, the coopertion of pedagogy and medicine in a pediatrician practice will be illustrated. The aim of this research is it to find out how toddlers in a pediatric practice deal with challenging situations, what factors influence the behavior of toddlers in their consultation, as well as what kind of pedagogical measures support and help children in such situations to be able to go. An expert interview was conducted with a pediatrician on how he is related to pedagogy, as well as everyday situations and practical examples in order to find answers to the rese- arch questions. Likewise, six mothers were interviewed, who regularly consult this pe- diatric practice for whatever reason. From these expert interviews answers to the rese- arch questions could be taken in comparison to case studies and theory. Among other things, the results showed that mothers have good pedagogical experience and that good parenting is important in their medical work. Children react differently to stressful situa- tions, but the all interviewees agree in that, that mothers transfer their own behavior to children. As influences on behavior in certain situations in a pediatric practice, external as well as internal factors can be identified. As supporting measure, a coloring picture was developed with the aid of children`s ideas. The mentioned picture now used in the ordination.

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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Erklärung ... 2

Danksagung ... 3

Kurzfassung ... 4

Abstract ... 5

Inhaltsverzeichnis ... 6

1. Zusammenspiel Pädagogik und Medizin ... 9

1.2 Gesundheit – Krankheit – Erziehung, Pädagogik versus Medizin ... 10

1.3 Die Bedeutung der Beziehung Arzt – Eltern – Kind ... 19

1.3.1 Kommunikation ... 21

1.3.2 Vertrauen ... 23

1.3.3 Die therapeutische Beziehung nach Dirk Zimmer ... 25

2. Institution Kinderarztpraxis ... 26

2.1 Die Ordination ... 26

2.2 Das Team ... 27

2.2.1 Der Kinderfacharzt ... 27

2.2.2 Die Ordinationsassistentinnen ... 28

2.2.3 Der Beruf „Ordinationsassistent/-in“ ... 28

3. Situationsorientierter Ansatz in der Arbeit mit Kleinkindern ... 30

3.1 Bedeutende Eckdaten des Situationsorientierten Ansatzes ... 35

3.1.1 Berücksichtigung der Kinderrechte ... 35

3.1.2 Berücksichtigung von Personenqualität durch Bindung ... 36

3.1.3 Berücksichtigung der Vergangenheit und Befreiung aus der Angst ... 37

3.1.4 Berücksichtigung der Gefühle und Werte in ihrer Bedeutung ... 38

3.1.5 Die besondere Bedeutung der Gegenwart ... 39

3.1.6 Partizipation und der Aufbau von Selbstwert ... 40

3.1.7 Fachlichkeit ... 40

3.2 Ausdrucksformen im situativen Ansatz ... 41

3.2.1 Emotion ... 42

3.2.2 Körpersprache ... 43

3.2.3 Verhalten ... 43

4. Das Forschungsdesign ... 45

4.1 Die Experteninterviews ... 45

5. Die Erhebung ... 47

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Inhaltsverzeichnis

5.1 Methodisches Vorgehen für qualitative Datenerhebung ... 47

5.2 Qualitatives Interview ... 47

5.3 Das Experteninterview ... 48

5.4 Interviewleitfäden ... 48

5.4.1 Interviewleitfaden Kinderarzt ... 49

5.4.2 Interviewleitfaden Mütter... 50

6. Auswertung ... 52

6.1 Transkription der Interviews ... 52

6.1.1 Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring ... 52

6.1.2 MAXQDA – Software für die qualitative Datenanalyse ... 53

7. Ergebnisse ... 55

7.1 Werdegang ... 55

7.2 Erfahrungen mit Pädagogik und dessen Bedeutung ... 55

7.3 Gründe für einen Kinderarztbesuch ... 56

7.4 Der Ablauf von Betreten der Ordination bis hin zur Behandlung ... 57

7.5 Positiv Aufgefallenes in Bezug auf den Umgang mit dem Kind ... 57

7.6 Negativ Aufgefallenes in Bezug auf den Umgang mit dem Kind und Probleme ... 58

7.7 Kleinkinder und deren Reaktionen in bestimmten Situationen ... 58

7.8. Kleinkinder und die äußeren Einflussfaktoren für ihren Umgang mit den Situationen in einer Kinderarztpraxis ... 59

7.8.1 Die Familie ... 59

7.8.2 Das Umfeld ... 61

7.8.3 Empathie ... 62

7.8.4 Ordinationsassistent/In und Arzt ... 63

7.9. Kleinkinder und die inneren Einflussfaktoren für ihren Umgang mit den Situationen in einer Kinderarztpraxis ... 64

7.9.1 Emotionen ... 64

7.9.2 Ressourcen und Vorerfahrungen ... 66

7.9.3 Neugier ... 67

7.9.4 Unbekanntes ... 68

7.10 Mögliche Unterstützungsmaßnahmen für Kinder in speziellen Situationen in einer Kinderarztpraxis ... 71

9. Resümee ... 73

Abbildungsverzeichnis ... 74

Abkürzungsverzeichnis ... 74

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Inhaltsverzeichnis

Literaturverzeichnis ... 75

Anhang A – Interview mit einem Kinderfacharzt ... 80

Anhang B – Interview mit einer Mutter, fünf Kinder ... 87

Anhang C – Interview mit einer Mutter, Zwillinge ... 91

Anhang D – Interview mit einer Mutter, ein Kind ... 94

Anhang E – Interview mit einer Mutter, ein Kind ... 97

Anhang F – Interview mit einer Mutter, ein Kind ... 101

Anhang G – Interview mit einer Mutter, ein Kind ... 104

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1. Zusammenspiel Pädagogik und Medizin

1. Zusammenspiel Pädagogik und Medizin

„Wir brauchen eine Theorie von Gesundheit und Gesundheitserziehung, die sowohl dem Begriff Gesund- heit als auch dem Begriff Erziehung gerecht wird, eine Gesamtschau alles dessen ermöglicht, was dazu von Bedeutung ist, die übliche Sichtweise einer krankheitsorientierten Gesundheitserziehung um genuin pädago- gische Gesichtspunkte erweitert und ergänzt, nicht nur Wissen vermittelt und/oder Verhalten modifiziert, sondern eine Sensibilisierung des Menschen für die eigene Befindlichkeit einschließt, auf innere Reifung und Verbesserung der Bewusstseinslage setzt und auf dieser Basis eine selbstmotivierende, eigenverantwortliche Kraft und Lebensweise entfaltet.“ (Sommer 1994, S. 33).

Seit Jahren versucht sich die Pädagogik als eine „vermittelnde Wissenschaft“, welche auf Grundlage pädagogischer Konzepte fachlich begründete Sachverhalte auswählt und zwischen Adressat und Empfänger in vielen Alltagssituationen zu vermitteln versucht.

Es wurde erkannt, dass es oft weniger ein Sachproblem gibt, als eher ein Vermittlungs- problem in Prävention und Gesundheitsförderung. Die Pädagogik als Handlungswissen- schaft lebt von der Vermittlung. Von Konrad Lorenz stammt der berühmt Spruch, wo- nach gesagt nicht gehört ist, gehört nicht verstanden, verstanden nicht einverstanden ist, einverstanden nicht behalten, behalten nicht angewandt sowie angewandt nicht beibe- halten ist. Schon lange ist bekannt, dass Inhalte aus vielen Fachgebieten in die Präventi- onsmaßnahmen fließen. Ein Medikament kann bei körperlichen Gebrechen oder allge- mein Krankheit unterstützen sich Schmerzfrei zu fühlen, nicht aber ganzheitlich die Seele heilen. Forschungsergebnisse zeigen allerdings seit Jahren, wie wichtig das Um- feld für die Gesundheit ist. Während humanbiologische Erkenntnisse wie zum Beispiel das Ernährungsverhalten und medizinische Erfordernisse, zum Beispiel zur Bewe- gungserziehung, schon früh berücksichtigt worden sind, finden heute zunehmend sozia- le und ökonomische Gesichtspunkte im Vermittlungsprozess Beachtung. Die Methoden sind vielfältig. Dem eigenen Wissen, die Erfahrung wird eine große Bedeutung zuge- messen. Durch ein großes Repertoire von Methoden und Medien wird es immer wichti- ger, sich einem Menschen genauer zuzuwenden. Das bedeutet, eine Person muss mit al- lem so angenommen werden wie die Person ist. Diese Person muss wahrgenommen werden können, ohne diese selbst zu gestalten. Jemanden „wahr zu nehmen“ und dessen Umfeld aufzunehmen. Im wahrsten Sinne des Wortes eine Vernetzung von Umweltver- halten, sozialen Bedingungen und persönlichen Einstellungen und Möglichkeiten zu

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1. Zusammenspiel Pädagogik und Medizin

verstehen. Die gesellschaftliche Situation nimmt immer mehr Einfluss auf unsere Le- bensweise, sodass ein komplexes System des Verhaltens resultiert. Für die Pädagogik bedeutet dies, es sich zur Aufgabe zu machen sich ständig weiterzuentwickeln. Aber blicken wir jetzt einmal Jahre zurück (vgl. Volker 2014, S. 71 ff.).

1.2 Gesundheit – Krankheit – Erziehung, Pädagogik versus Medizin

Der Umgang mit dem Begriff Gesundheit wurde in der Geschichte der Forschung im- mer wieder diskutiert. Unser heutiges Gesundheitswesen wird von drei Traditionslinien beeinflusst:

- der Diätik, welche in Griechenland entwickelt wurde und eine Erziehung zum

„ebenmäßigen Menschen“ umfasst. Diese Tradition wird als Bildungsbemühung wieder aufgegriffen.

- den Regeln der „gesunden Lebensführung“, welche sich seit dem Hochmittelal- ter entwickelten. Hierbei soll ein gottgefälliges Verhalten in unserem täglichen Leben vermittelt werden. Aufgrund der Nächstenliebe entstand soziale und me- dizinische Verantwortung Kranken gegenüber.

- der Medizin, welche zu einem wesentlich gesünderen und längeren Leben bei- tragen will. Jedoch kann sie bei den Zivilisationserkrankungen keine Ursachen- bekämpfung leisten.

„Wenn ein Fremder in eine Stadt kommt, so betrachtet er die Lage, die Winde, das Aufgehen der Sonne, die Gewässer, den Boden und die Art und Weise, in der die Einwohner leben und welchen Zielen sie nachei- fern – denn wenn du diese Kenntnisse hast, wirst du verstehen, welche Krankheiten für den Ort typisch sind sowie welche Ausprägungen verbreiteter Krankheiten du hier finden wirst.“ (Hippokrates, zitiert nach Kick- busch 1983, S. 7).

Im Hochmittelalter wurde Krankheit als Ausdruck des menschlichen Widerstands gegen den göttlichen Schöpfungsplan verstanden. Die moralische Verpflichtung, Kranken zu helfen, leitete man aus dem Gebot der Nächstenliebe ab. In den Klöstern entstand schließlich ein erstes Hospitalwesen. Die aristotelische Säftelehre gilt als theoretische

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1. Zusammenspiel Pädagogik und Medizin

Grundlage die medizinische Weiterentwicklung. Arzneien wurden nach der Vorstellung

„Gleiches heilt Gleiches“ entwickelt. Darunter zählten z. B. Extrakte, welche aus Lun- genkraut hergestellt wurden. Nach mehreren Pestepidemien stellte man fest, dass hierfür kein „Kraut“ gewachsen ist und nur eine Quarantäne der Krankheit entgegenwirken könne (vgl. Schneider 2014, S. 13 ff.).

In der Neuzeit entwickelten sich neue Überlegungen zur Gesundheitsvorsorge. Soziale Umstände spielten bereits eine Rolle. Man bemühte sich um Moral und Hygiene. Im 19.

Jahrhundert stehen nun auch Kneipps fünf Säulen der Gesundheitslehre im Raum. Heil- pflanzen stehen im Mittelpunkt seiner Therapie. Als wichtigste Säule seines Gesund- heitskonzepts hat Kneipp später allerdings seine Ordnungslehre bezeichnet, die in sei- nem christlichen Glauben verankert ist. Er beschreibt eine „innere Haltung“, welche der wichtigste Beitrag zum gesunden täglichen Leben sei. Man könne also behaupten, Ge- sundheit ist nicht nur ein Teil der Medizin, man wusste schon vor über 100 Jahren, dass unterschiedliche Disziplinen übergreifend arbeiten müssten, um Gesundheit zu definie- ren und zu erreichen. Um das begründen zu können, muss „Gesundheit“ aus verschie- denen Blickwinkeln betrachtet werden. Das bis heute gut begründete Gesundheitskon- zept der klassischen Medizin ist einfach: Alles, was nicht den Normwerten entspricht, deutet auf eine Krankheit hin. Innerhalb dieser Normwerte gibt der Patient als „gesund“.

So wird Gesundheit aus medizinischer, biologischer und psychosozialer Sicht auch un- terschiedlich definiert. Eine der wahrscheinlich bekanntesten Definitionen:

„Unter Gesundheit verstehen wir einen Zustand des vollkommenen körperlichen, seelischen und geistigen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechen“ (WHO 1948).

Die Medizin folgert physiologische Ergebnisse aus der Biologie des Menschen. In bio- logischer Sicht besteht „Gesundheit“ darin, dass sich der Organismus bei Störungen selbst wiederherstellen kann. Aus pädagogischer Sicht spielt auch das soziale Umfeld eine Rolle. Gesundheit „geschieht“ und zeigt sich in einem Verhalten in konkreten Situ- ationen. Verhalten kann sich entsprechend den Umständen und Lernmöglichkeiten än-

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1. Zusammenspiel Pädagogik und Medizin

dern, was die Gesundheitserziehung oder -förderung überhaupt erst ermöglicht. Man spricht auch vom Gesundheitsverhalten (vgl. Schneider 2014, S. 18 ff.).

Aus unterschiedlichen Sichtweisen kommen dem Begriff „Gesundheit“ auch unter- schiedliche Konzepte zugute. Unter anderem zählt dazu das medizinisch-organische Konzept. In der heutigen Medizin wird Gesundheit auch als „Abwesenheit“ von Krank- heit verstanden. Gesundheit bedeutet, einen „normalen“ Zustand zu erhalten, der durch Krankheit verloren gehen kann. Mediziner leiten dadurch auch eine lange Lebenserwar- tung ab. Gesundheitsförderung wird in Anspruch genommen, wenn ein gesundheitlicher Schaden behoben werden soll. Leidensdruck erscheint als wichtigste Motivation. Ein weiteres Konzept ist jenes, das Gesundheit als harmonischen Gleichgewichtszustand versteht. Gesundheit zeigt sich als Wohlbefinden, innerliche Ruhe, Entspannung. Kör- per und Psyche sind gleichberechtigte Dimensionen und müssen gepflegt werden. Eines der aus Sicht der Verfasserin wichtigsten Konzepte fasst Gesundheit als ein komplexes, mehrdimensionales Bedingungsgefüge. Mehrere Einflüsse sind miteinander vernetzt.

Unter anderem biologische, chemische und physikalische Umwelt, körperliche und psy- chische Prozesse, soziale Beziehungen wie Arbeitsbedingungen, Harmonie in der Fami- lie, soziale Verbindungen, Stressverarbeitungsmethoden und andere. Diese Arbeit er- forscht Medizin und Pädagogik in ihrem situativen Zusammenspiel und legt dem letzt- genannten Gesundheitskonzept entsprechend dar, dass es gerade wenn man Gesundheit spricht, unterschiedlicher Disziplinen bedarf. Schon während der Zeit des Holocaust nahm man die Medizin – vor allem den Beruf des Arztes – unter die Lupe. Zwischen menschlichem Berufsdasein und menschlicher Verbindlichkeit wird der Beruf des Arz- tes in einem gewissen Sinn ebenso als „symbolisch“ angesehen. Zum einen ist es die Aufgabe des Arzte, Vorsorge zu leisten und Gesundheit wiederherzustellen, zum ande- ren zeigt er den Weg des Wohlseins und unterstützt den Patienten, zwischen Natur, Kunst und seinem eigenem Rat zur Erfüllung zufriedenstellender Lebensweise (vgl.

Schneider 2014, S. 42 ff.).

Während der Zeit des Ersten Weltkrieges stehen Ärzte schon im Gespräch. Zum einen soll man für Gesundheit und medizinische Hilfe sorgen, zum anderen ist es ein Zwie- spalt der Ethik. Wer gibt vor, wem geholfen werden darf oder soll? Möglicherweise ei- nem gegnerischen Soldaten? Wie lange wird denn nun Hilfe gewährt? Wo liegen ethi- sche Grenzen? Oder auch: wie weit geht die medizinische Versorgung, wenn man auch

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1. Zusammenspiel Pädagogik und Medizin

Menschen mit Asylrecht beachtet? Als medizinische Fachkraft ist man doch dazu beauf- tragt, Hilfe zu leisten. In Kriegszeiten werden diese Fragen besonders heiß diskutiert.

Sie werden immer wieder in den Raum gestellt, schließlich fallen unter anderem auch Kosten für Therapien und Personal an. Es wird auch von einer Art des Mitfühlens oder auch Mitleidens gesprochen und dem Gefühl, dass Menschen auf eine Art und Weise al- le zusammengehören und aufeinander angewiesen sind. Schließlich ist ein Soldat im Krieg auch auf einen anderen angewiesen. Es ist wie die Moral des „Helfens“ oder auch ein gewisses Mitleid, welches schon Nietzsche schon vor Jahren erwähnt. Eine Verach- tung dieser Gefühle spreche keinesfalls von Mut, sondern eher von der Unfähigkeit, im eigenen Inneren Mitgefühl oder auch fürsorgliche Schwäche zuzulassen. Es geht also schon vor Jahren um das Bedürfnis eines Mitfühlens, um Verantwortung anderen Men- schen gegenüber oder auch um Menschlichkeit, in der Pädagogik und Medizin zusam- menwirken können (vgl. Köpke-Duttler 2013, S. 103 ff.).

Fraglich ist sicher auch, warum der Mediziner im Krieg nicht nur als Militärmediziner und nicht einfach als Mediziner gesehen werden kann? Freud kritisierte Ärzte, die durch Elektrotherapie aus dem Krieg in die Krankheit fliehende Soldaten in den Krieg zurück- schickten, damit sie dem Land dienen. Freud sah hier einen Konflikt zwischen der ärzt- lichen Humanität und dem Völkerrecht. Aus seiner Sicht medizinisch nicht vertretbar.

Er spricht von psychischer Gewalt und sieht den Arzt als einen rücksichtslosen Men- schen, der ohne Moralität Menschen zu „Marionetten“ des Krieges mache. Jahre danach stellte man sich die Frage, ob solch ein Militärarzt schlussendlich Helfer oder doch Of- fizier des Krieges sei, wenn er gegen die Menschenwürde arbeite. Es ginge um das Ge- winnen eines Krieges und nicht um Menschenachtung. Tote und Verletzte, welche in die Kriegsgeschichte eingingen, stellen die Frage nach Leben und Gesundheit in den Raum. Man könne den Militärarzt auch als Erzieher darstellen, da dieser mit seiner Hal- tung einen gewissen Beitrag zur Erziehung leisten würde indem man mit einem Befehl zur Gehorsamkeit reagieren würde (vgl. Köpke-Duttler 2013, S. 107 ff.).

Janusz Korczak – ein sehr gutes Beispiel – wird immer wieder herangezogen, um Ver- bindungen zwischen der Medizin und der Pädagogik zu analysieren. Als Arzt in den Arbeitervierteln von Warschau hat Korczak arme Menschen kostenlos oder nur für ei- nen symbolischen Beitrag behandelt und kleine sowie schwache Menschen auch als Er- zieher verteidigt. Reiche oder auch wohlhabende Leute lässt er hin dessen hohe Arztho-

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1. Zusammenspiel Pädagogik und Medizin

norare zahlen. Damit wollte er schon damals ein Zeichen setzen, dass Krankheiten nicht einfach so entstehen, sondern dass vor allem auch soziale Bedingungen ein großer Fak- tor in der Entstehung von Krankheiten sind. Mit diesem Vorgehen stellte er aber auch Kinder in den Vordergrund. Zur Achtung jedes einzelnen Kindes wollte er ein Leben in Wahrheit und Gerechtigkeit darstellen und entdeckte Kinder als eine unterdrückte und ungerecht behandelte Gesellschaftsschicht. Im Hinblick auf Fragen der Pädagogik be- trachtet Korczak es als einen der schlimmsten Fehler, die Pädagogik als Wissenschaft vom Kind und nicht als Wissenschaft vom Menschen zu denken. Der Arzt erwähnt im- mer wieder Beispiele aus dem Konzentrationslager, wie mit Gewalt, Kindern und Krankheit umgangen wird und stellt die Frage in den Raum, wo der Arzt sei, der Mensch ist. In Korczaks „narrativer Pädagogik“ spielen speziell Zuneigung, Mitgefühl, aktive Teilnahme und das Trösten der Kinder eine bedeutende Rolle, sie möchte zu ei- ner Erziehung in Gerechtigkeit anregen. Korczaks Sichtweise und Leben wird nach sei- nem Tod während des Holocaust schlussendlich verbreitet durchleuchtet. So sieht ihn der Moralphilosoph Lawrence Kohlberg als einen „Moralerzieher“. Seiner Ansicht nach sollte man als Erzieher am besten das lehren, was man selbst leben kann: die Forderung der Gerechtigkeit. Er zieht Verbindungen über die Erziehung zur Gerechtigkeit von Sokrates zu Martin Luther King, welche wie Korczak Gerechtigkeit gelebt haben. Hin- sichtlich Gerechtigkeit und Liebe lehnt Kohlberg schließlich jede moralisierende Erzie- hung ab (vgl. Köpke-Duttler 2013, S. 11 ff.).

Eine weitere nennenswerte Person ist Clara Grunwald, die „Nestorin“ der deutschen Montessori-Pädagogik, welche sich mit ihrem Ansatz „lerne, es selbst zu tun“ ebenso einen bedeutenden Namen gemacht hat. In ihrer Schrift „Montessori – Erziehung in Familie, Kinderhaus und Schule“ forderte Grunwald das Recht für Kinder, die bestmög- liche Erziehung und Pflege in den Jahren der Kindheit zu bekommen. Um sich gut ent- wickeln zu können, muss die Umgebung die beste Möglichkeit bieten, Gefühle der Hilfsbereitschaft und der Fürsorge für andere Menschen hervorzubringen. Wie sieht es nun aber aus, wenn z. B. die existenzielle Situation genau dieser Forderung nicht ent- sprechen kann? Ist es vielleicht eine Frage der Ethik, die sich hier stellt? Es wird von Menschen und ihrer Lebenswelt gesprochen. Menschen mit ihrer Bedürftigkeit sowie Verletzbarkeit. Diese Öffnung von ethischen Fragen ist für die Heilpädagogik, für die Pflege- und für die Rehabilitationswissenschaften sowie auch die Medizin von großer

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1. Zusammenspiel Pädagogik und Medizin

Bedeutung. In einer responsiven Ethik geht die antwortende Fürsorge der Gerechtigkeit voraus. Und ohne die Fürsorge, die allen Sozialbezügen innewohnt, wird die Verant- wortung für den Anderen nicht erreicht. Es könnte fast als Phänomen des „Mitleidens“

gesehen werden. Man könne sich auch die Frage stellen, ob durch Mitleid Empathie, Mitgefühl und Solidarität zum Verschwinden gebracht werden (vgl. Köpke-Duttler 2013, S. 15 ff.).

Der Mediziner Viktor von Weizsäcker sieht es so, dass ein Mensch von Grund auf als

„Ich eines Du, als Mensch eines Mitmenschen – in einem solidarischen Einander“ exis- tiert. Die Krankengeschichte ist immer zugleich eine ganze Lebensgeschichte. Es gibt die eine Seite, so wie auch die andere, welche unheilbar ist:

„Wenn Medizin nichts als Naturwissenschaft sein wird, so wird sie gar nicht sein! Denn Medizin steht nicht der Natur gegenüber, sondern dem Menschen gegenüber. Bleibe nicht dem sogenannten ganzen Menschen. Der Mensch ist gar kein Ganzes, denn er ist doch nichts, was fertig ist, er ist nur ein Werdender, ein Halber. Und er ist auch nicht ein Stück Natur, sondern er ist ein vom Geiste Betroffener“ (vgl. von Weizsäcker 1934, S. 81).

Es wurde ein Weg vom Kausalismus der Krankheitsursache zum Finalismus der menschlich-sozialen Eingliederung geschaffen. Dieser verändert nun das medizinische Denken. Von Weizsäcker hofft auf eine „allgemeine Krankheitslehre der Zukunft“, in der sich der gesunde Mensch einfach gestalten soll. Er zieht Verbindungen zwischen Medizin und Bildung, indem er in den Raum stellt, ein Arzt habe auch eine politische Pflicht. Nämlich jene, einen Kranken als Arbeitsunfähigen zu führen und zu beraten. Er greife auch in seine ökonomische und in seine soziale Existenz ein. Dieser Gedanke – der Verknüpfung des „Bilden“ mit dem „Helfen“ – spielt schlussendlich eine bedeu- tungsvolle Rolle für Pädagogen/-innen. Weizsäcker weckt nicht nur Begeisterung mit seiner Einstellung, sondern vermag auch Kritik wegen seiner fraglichen Solidarität ern- ten. Er stellt den Menschen als „Objekt“ dar und stellt den Geist der Menschenverach- tung dem Geist der Nächstenliebe gegenüber. Die Medizin wird seiner Meinung nach zu einer Gesundheitsfabrik, in der Gesundheit fabriziert wird wie eine Fertigware, die für den Käufer, welcher mit Geld bezahlt, frei verfügbar wäre, wenn nicht Wirtschaft, Staat und Wehrdienst seine Arbeitsfähigkeit verwenden (vgl. Köpke-Duttler 2013, S. 55 ff.).

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1. Zusammenspiel Pädagogik und Medizin

Viktor von Weizsäcker wird von vielen Menschen als eine Person anthropologischer Medizin angesehen. Mit seinem Versuch, sich von einer materiellen und einer naturwis- senschaftlichen Organmedizin abzuwenden, ist man auch auf psychische Faktoren auf- merksam geworden. Er zieht die Psychoanalyse von Freud heran und unterscheidet zwei Arten von Körper mit Seele verbindender oder psychosomatischer Medizin. Die eine möchte ein Zusammenhängen von Körper und Seele vorstellen, welche auch beide als eigenständige Punkte behandelt werden. Die andere, eine tiefenpsychologisch forschen- de, geht davon aus, dass Körper und Seele in einem ganzheitlichen Bilde vom Men- schen aufgehen werden. Von Weizsäcker ermutigte dazu, einen Blick in das Innere des Menschen zu tun und meinte, dass man das Leben nicht nur als Harmonie, Ganzheit, Gleichgewicht, Erfüllung erlebt, sondern als Unvollkommenes, Dissonanz, Desäquilib- riertes, Ergänzungsbedürftiges, als Leiden nämlich, welches man überwinden möchte, gleichwohl nicht kann, als Begegnung mit dem Tod (vgl. Köpcke-Duttler 2013, S. 67 ff.). Er sieht den Beruf des Arztes als „Eröffner“ des leidenden Menschen und stellt die

„Pathosophie“ in den Raum:

„Wenn ein Schritt vorwärts, den wir unbedenklich als Fortschritt bezeichnen, getan werden soll, dann ist es der, dass die Struktur nicht nur des Menschen, sondern der ganzen Welt die kreuzartige sei. Darum wagen wir es, diese Einsicht nicht nur als Medizinische Anthropologie, sondern kurzerhand als Pathosophie zu be- zeichnen. Und darum wird es auch gewagt, die Gesinnungsgemeinschaft nicht im Kreise der Berufsärzte al- lein, sondern vieler oder aller Berufe zu vermuten“ (Von Weizsäcker 1967, S. 266).

Es ist schwierig, diesem Gedanken zu folgen, wenn man bedenkt, dass ein Arzt das

„Ganze“ im Menschen hinnehmen muss. Ein Psychotherapeut z. B. darf nie Kritik üben an der Lebensweise eines Menschen. Er darf lediglich eine Empfehlung geben, eine Be- deutungsumkehr, einen Bedeutungswandel mit dem Patienten erzielen. Es ist die Um- kehr z. B. von Stärke in Schwäche, einer Schwächeren Person in eine Stärkere, die – wie schon damals auch Heraklit bedachte – auch die eigene Kraft und den Willen benö- tigt. Der Arzt „als Erzieher“ löst nun in seinem Tun und Leiden die Einseitigkeit auf.

Alles, was in sich stark ist, kann schwach werden und umgekehrt. Der neuzeitige Ge- gensatz zwischen physikalischem Objektivismus und transzendentalem Subjektivismus zeigt die Medizin in einer Krise, in dieser die Krise des Menschen und die „Erkrankung einer Lebenswelt“, einer Lebenswelt, in der der Beruf des Arztes eine Weise des Geld- erwerbs ist, mit dem Hintergedanken von Macht – Geld und Naturwissenschaft. Die na-

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1. Zusammenspiel Pädagogik und Medizin

turwissenschaftliche Medizin ist, was Marx den Kapitalismus nennt: Sie steht in der bürgerlichen Gesellschaft für Macht- sowie Geldordnung (vgl. Köpcke-Duttler 2013, S.

73 ff.).

Diese Gedankengänge lenken wieder weiter in eine andere Richtung. Was ist nun mit den Schwächsten oder ärmeren Menschen? Der Arzt stellt sich als Helfer der ganzen Menschheit dar, statt als Arzt für einen Hilfe suchenden Menschen. Medizin und Staats- leben begegnen sich auf einer Ebene, und ein Sozialversicherungssystem kam erstmals ins Gespräch. Mit einem Sozialversicherungssystem sollten vor allem arbeitende Men- schen im Gesundheitssystem mit Leistungen unterstützt werden. Karl Heinz Roth – ebenso Arzt – untersucht schließlich von Weizsäckers „anthropologische Medizin“. Er behauptet, von Weizsäcker habe nicht nur die Heilkunde um eine „sozial-medizinische Vernichtungsordnung“ erweitert, sondern auch Hand an sie gelegt. Roth spricht dabei von der Erhaltungslehre versus Vernichtungslehre. Ärmere Menschen wären nicht in der Lage sich Hilfe von Ärzten zu holen bzw. Therapien in Anspruch zu nehmen. In diesem Zusammenhang kommt von Weizsäcker auf den Gedanken zurück, dass die na- turwissenschaftliche alleinige Erkenntnis keine Grundlage des ärztlichen Handelns sein könne, bei diesem sei unablässig an die Bestimmung des Menschen zu denken – in der Liebe, im Dienst und im Glauben. Man spricht auch von einer ökonomischen Überfor- derung der Medizin, welche immer wieder kritisiert wird. Somit müsste der ganze „Me- dizinmarkt“ umdenken. Und dieser Grundgedanke keimt schlussendlich bereits im Stu- dium der Medizin. MedizinerInnen sind darauf gerichtet, die Gesundheit der Kranken wiederherzustellen, wobei der „Kranke“ schon mit Hoffnung auf ärztliche Kunst, mit- menschliche Anteilnahme und Zuwendung vom Arzt in das ärztliche Sprechzimmer kommt (vgl. Köpcke-Duttler 2013, S. 89 ff.).

Ärzte sollten sich mehr als Begleiter des Patienten auf der Suche nach bestmöglichen Lösungen verstehen – also der Arzt „als Coach“ (vgl. Albrecht 2016, o. S.). Für die Ent- stehung von Krankheiten spielen sowohl somatische als auch psychische Faktoren eine Rolle. Ist eine Krankheit nicht einfach erklärbar, versucht man die Beschwerden des Pa- tienten als funktionell, somatoform, psychosomatisch oder nicht spezifisch zu kategori- sieren. Und genau das zwingt die Medizin zu fachübergreifendem Denken. Subjektive Beschwerden – damit gemeint sind Schmerzen, welche jeder Mensch anders empfindet oder auch Erschöpfung, Müdigkeit etc. – führen oft zu unklaren Diagnosen. Es folgt die

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1. Zusammenspiel Pädagogik und Medizin

Unsicherheit des Patienten und somit auch keine adäquate Therapie. Wenn ein Arzt eine Diagnose stellt, bestehen immer noch Neben- oder Grunderkrankungen. Andererseits lassen sich weder das Ausmaß der Symptome noch die damit verbundenen Leiden her- leiten. Darunter zählen unter anderem Frust, Leid, Schmerz sowie psychosoziales und körperliches Unwohlsein des Patienten, was sich letztlich auf den beruflichen oder pri- vaten Lebensweg auswirkt. Zwischen den subjektiven Aspekten des Patienten und den objektivierbaren Faktoren eines Arztes wird es wohl immer ein Spannungsfeld geben, wobei die Entscheidung über eine Behandlung ethisch gesehen und auch verfassungs- rechtlich begründet nunmehr beim Patienten selbst liegt. In einer pädagogischen Zei- tung zitiert Albrecht nach dem Deutschen Ethikrat 2016, dass die Verantwortung, sich über Krankheitsbedingungen wie Ort, Zeit, Entwicklungsstadium oder andere Faktoren zu äußern, beim Patienten liegt. Die fremdbestimmte medizinische Vorsorge weicht der unterstützenden Sorge. In dieser Stellungnahme wird erwogen, die Arzt-Patienten- Beziehungen auf die „Situativität“ des Patienten zu fokussieren und dessen Gesund- heitskompetenz zum Ausgangspunkt partizipativer Entscheidungsfindung zu machen.

Man setzt auf Kommunikation in zwischenmenschlichen Beziehungen sowie auf soziale Lernprozesse der Fähigkeit symbolischer Interaktion (vgl. Albrecht 2016, o. S.). Dass die Ansichten über die Beziehung Pädagogik–Medizin in Bezug auf Krankheit–

Gesundheit–Erziehung unterschiedlich zu sein mögen, zeigen Theoretiker wie Hurrel- mann schon im Jahr 1988. Er spricht davon, dass man Gesundheit nur erreichen kann, wenn man auch die individuelle Lebensweise jeder einzelnen Person in den Prozess miteinbezieht, um Gleichgewicht zu erzielen. Hurrelmann stellt ein Wohlbefinden in den Raum, wenn man sowohl Risiko- als auch Schutzfaktoren gleichermaßen betrachtet und zeigt mit seinem sozialisationstheoretischen Gesundheitsmodell, wie wichtig es ist, einen Menschen in der Situation ganz zu betrachten. Symptome werden bei Hurrelmann als „soziale, psychische oder somatische Auffälligkeiten“ verstanden. Sie resultieren aus der Überforderung der personalen und sozialen Ressourcen der Lebensbewältigung durch soziale, psychische und somatische Risikofaktoren oder auch Belastungen. Kri- tisch könnte man dieses Modell aber dadurch betrachten, dass am Beginn von Hurrel- mann immer Risiken für die Gesundheit stehen. Wenn die Abwehr dieser Risiken ge- lingt, spricht er von Gesundheit. Des Weiteren kann man behaupten, dass Stressfaktoren zu kurz kommen (vgl. Hurrelmann 1988, S. 159 f.).

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1. Zusammenspiel Pädagogik und Medizin

In dieser Arbeit soll mehr die Bedeutung der Pädagogik in der Medizin bearbeitet wer- den. Aus diesem Grund wird hier weder näher auf personenbezogene Faktoren noch nä- her auf das Klassifikationssystem der WHO eingegangen, dafür wird aber ein kurzer Einblick in die Ausbildung eines Mediziners gegeben werden. Im Ausbildungsteil zur Medizinischen Psychologie plädiert man dafür, auch die „Hoffnung“ in den Gegen- standskatalog aufzunehmen. Wie bereits erwähnt, werden negative Emotionen wie Angst, Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit und Scham angesprochen, aber gerade Hoff- nung sollte Kraft zur Bewältigung von chronischen Krankheiten bieten können. Das

„Hoffen“ ist auch ein Grundgedanke der geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Schon Pestalozzi hat von einer „pädagogischen Liebe“ gesprochen und sieht das „Hoffen“ als eine Grundbedingung pädagogischen Handelns. Der Mensch erkrankt nicht nur an Le- ber, Niere oder anderen Organen, sondern auch an der Erkenntnis. Der Mensch erkrankt als Ganzer. Folglich sollte bereits die Ausbildung als ganzheitlich ausgerichtet werden.

Damit gemeint sind Fächer, welche den Lernenden ganzheitlich dargeboten werden.

Denn genau diese Person muss ja nach der Ausbildung – wenn er/sie diesen Beruf aus- übt – Verantwortung für Menschen übernehmen (vgl. Köpcke-Duttler 2013,S. 93 ff.).

Welche Bedeutung die Beziehung zwischen Mediziner, Eltern und Kind hat, wird im folgenden Unterkapitel näher erläutert.

1.3 Die Bedeutung der Beziehung Arzt – Eltern – Kind

Im vorigen Kapitel wurde gezeigt, dass Pädagogik und Medizin als zwei eigenständige Disziplinen gut miteinander auskommen und schon vor vielen Jahren bezüglich ihrer Zusammenarbeit im Gespräch standen. In dieser Arbeit wird die situative Zusammenar- beit von Pädagogik und Medizin in einer Kinderarztpraxis unter die Lupe genommen.

Diesbezüglich ist es wichtig, die Bedeutung der Beziehung zwischen Arzt, Eltern und Kind/ern näher zu betrachten. Aus pädagogischer Sicht kann man bereits aus Meads Veröffentlichung „Mind, Self and Society“ (1932) entnehmen, dass der symbolische In- teraktionismus als theoretische Grundlegung angesehen werden kann. Mead sieht in der Kommunikation eine Grundlage für das Bestehen und Funktionieren einer Gesellschaft.

Die Gesellschaft spiegelt sich im Rollenverständnis wieder, seine soziale Bedeutung

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1. Zusammenspiel Pädagogik und Medizin

liegt aber in der Identitätsbildung der Subjekte. Es wird von einem „I“ und „Me“ in der Soziologie gesprochen. Dieses Zusammenspiel von emotional-personalem „I“ und sozi- alem „Me“ in der Widerspiegelung des generalisierten Anderen macht das „Selbst“, die Identität aus. Aus Sicht des Kindes tritt es in Distanz zum Handeln, sie kommunizieren, indem sie in Rollen schlüpfen und sich entsprechende Vorbilder auch suchen. Aus die- ser Sicht könnte man ziehen, dass der Kommunikationsaustausch in der Beziehung Mutter – Kind – Arzt eine große Rolle spielen müsse (vgl. Böhnisch, 1996, S. 75 ff.).

In der Literatur findet man zahlreiche Modelle, welche eine Arzt-Patienten-Beziehung beschreiben. Unter anderem sind dies das Paternalistische Modell, das Konsumenten- /Dienstleistungsmodell oder auch das Partnerschafts-/Patientenorientierte Modell. Das Kommunikationsmodell nach Schulz von Thun, die „4 Seiten einer Nachricht“, ist wohl eines der bekanntesten überhaupt. Schulz von Thun ist der Meinung, dass der Sender dem Empfänger einer Nachricht Botschaften über vier „Zungen“ übermittelt und der Empfänger diese über vier Ohren wahrnimmt. Schulz von Thun teilt Botschaften ana- tomisch in vier Schichten. Der Sprecher teilt einen Sachverhalt mit, spricht aber auch über sich selbst (Selbstoffenbarung), sagt dem Empfänger, was er von ihm hält und wie er zu ihm steht (Beziehung) und versucht, Einfluss auf den Empfänger zu nehmen (Ap- pell). Die Dekodierung hängt von Erwartungen oder Befürchtungen sowie Vorerfahrun- gen des Empfängers ab. Mögliche Ursachen für Empfangsfehler können zum Beispiel in unterschiedlichen Sprachmilieus liegen, in einem negativen Selbstbild, negativer Ein- stellung, oder darin, dass sich der Empfänger angegriffen fühlt (vgl. Schulz von Thun 2006, S. 11 ff.).

In den folgenden Zeilen wird versucht zu zeigen, welche Bedeutung Kommunikation hat und wie wichtig Vertrauen in der Arbeit der Medizin und Pädagogik ist. Anhand der therapeutischen Beziehung nach Dirk Zimmer 1983 wird versucht, die Wichtigkeit der Beziehung zwischen der Triade „Kind – Eltern – Arzt“ näher zu erläutern.

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1. Zusammenspiel Pädagogik und Medizin

1.3.1 Kommunikation

„Ärzte lernen mehr über die Erkrankung eines Patienten, wenn sie aufmerksam schauen, zuhören, den Pati- enten sprechen lassen, als durch eine ganze Batterie diagnostischer Untersuchungen“ (Bensing & Langewitz 2003, S. 416).

Kommunikative Kompetenzen sind wesentlich für den ärztlichen Alltag. Das angeführte Zitat aus Bensing und Langewitz zeigt, dass in der Arbeit der Medizin die Pädagogik eine bedeutende Rolle für die Beziehung zwischen Arzt, Patient und Eltern spielt. Der Arzt nimmt nicht nur die Rolle eines Begleiters und Katalysators, sondern auch die ei- nes Problemlösers ein, indem er beratende Funktion übernimmt. Die Kommunikation ist das wichtigste „Handwerkszeug“ des Arztes. Kommunikation leitet sich aus dem latei- nischen communicatio ab und bedeutet: Verbindung, Mitteilung. Sie stellt die wichtigste Form der sozialen Interaktion dar. Egger bezeichnet es im Jahr 2000 als Nonplusultra des Lebens und erwähnt: „Jede Zelle des Organismus, jeder Mensch, jede soziale Grup- pe muss Informationen austauschen, um sich entwickeln und fortbestehen zu können“

(Egger 2000, S. 45). Zum einen bedarf der Prozess der Informationsübertragung einen Kommunikator (Sender), einen Kommunikanten (Empfänger), ein Kommunikationsmit- tel in Form von sprachlichen oder nicht-sprachlichen Zeichen, Kommunikationskanäle, z. B. akustisch oder auch optisch, und Kommunikationsinhalte (vgl.

Dorsch/Häcker/Becker-Carus 1998).

Die Beziehung zwischen Arzt, Patient und Eltern ist deshalb wichtig, da die Kommuni- kation auf unterschiedlichen Ebenen zu einem positiv oder auch negativ erwarteten Er- gebnis führen kann. In der Literatur werden unter anderem im ärztlich-therapeutischen Gespräch verschiedene Beziehungsarten zwischen den Instanzen beschrieben. Der Un- terschied zwischen einem therapeutischen Gespräch und einem Alltagsgespräch liegt darin, dass das therapeutische Gespräch professionell geführt wird, zielbezogen ist und dem Wohle des Patienten dienen soll. Es ist geprägt von einem Beziehungsgefälle, in dem der Arzt die Affektivität des Patienten spiegelt und spezifische Gesprächstechniken zum Einsatz kommen lässt. Das therapeutische Gespräch ist ebenso zeitlich und örtlich begrenzt (vgl. Egger 2000a, S. 45 ff.). Egger nimmt in seinen Publikationen auch Bezug auf patientenzentrierte Kommunikation. In diesem Fall nimmt der Arzt eine eher part-

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1. Zusammenspiel Pädagogik und Medizin

nerschaftliche Haltung gegenüber dem Patienten ein (Egger 2000b). Egger spricht auch von „heilender Gesprächsführung“. Empathie (Wertschätzung und Einfühlung), Kon- gruenz (auf gleicher interpersoneller bzw. kommunikativer Ebene den sprachlichen Austausch gestalten) und Authentizität (Echtheit und Aufrichtigkeit), wie auch die Ak- zeptanz sind Ingredienzien einer therapeutischen Gesprächsführung (vgl. Egger 1992, S.

348). Aktives Zuhören spielt dabei auch eine große Rolle. Unzureichende Kommunika- tion oder Kommunikationsfehler können die Beziehung zwischen Arzt, Patient und El- tern beeinflussen, wodurch es zu Folgefehlern oder Vertrauensbrüchen kommen kann.

Dazu zählen zum Beispiel unzureichende Aufklärung über Impfungen – es können im- mer Risiken entstehen –, der Mangel an kommunikativen Fähigkeiten wie z. B. auch fachliches Wissen, Urteilsrisiken oder auch falsche Diagnosen. Auch Rollenkonflikte oder das Helfersyndrom können die Kommunikation beeinträchtigen (vgl. Egger 2000a, S. 50 ff).

In der Literatur wird vielfach der Nutzen von Kommunikationsschulungen für Ärzte er- läutert, über gezielte Schulungen für den Fachbereich Pädiatrie finden sich nur verein- zelt Berichte. Die Besonderheit der pädiatrischen Versorgung besteht dabei im Wesent- lichen darin, dass nicht nur die Kommunikation zum Patienten – dem Kind –, sondern auch zu dessen Eltern oder Bezugspersonen eine entscheidende Rolle spielt. Die Selbst- einschätzung des Mediziners oder auch Fremdeinschätzung durch Eltern oder Kind sind wichtige Faktoren in der Zusammenarbeit zwischen Arzt und Patient bzw. auch Eltern.

Es geht nicht nur um reinen Informationsaustausch oder -vermittlung, sondern ganz ent- scheidend ist die Beziehungsebene zwischen dem Arzt und dem Kind, es geht um Em- pathie und die Situation des Patienten selbst. Eine gelungene Arzt-Eltern-Kind-

Interaktion zeigt sich zum einen in der Zufriedenheit der Eltern sowie des Kindes und zum anderen auch im Behandlungsergebnis bei der Therapie selbst. Gerade im Fachbe- reich der Pädiatrie ist diese Kommunikation mit Kind und Eltern sehr wichtig. Eine Studie aus Deutschland zeigt, dass diese Kommunikation zumeist vom Arzt dominiert wird und hierfür auch Kommunikationstechniken wie das Fragen nach psychosozialen Problemen, Unterstützung und Beruhigen bei Problemen, Mitfühlen und aufmerksames Zuhören eine bedeutende Rolle auch in der Beziehung und im Verhalten zum und vom Kind aus sind. Einer deutschen Studie aus dem Jahr 2007 lässt sich entnehmen, wie wichtig die Kommunikation ist. Es nahmen 28 Assistenzärzte der Universitätsklinik für

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1. Zusammenspiel Pädagogik und Medizin

Kinder- und Jugendmedizin in Heidelberg an einer Kommunikationsschulung teil. Da- von wurden 14 TeilnehmerInnen als Interventionsgruppe genommen, die anderen 14 Teilnehmer als Kontrollgruppe herangezogen. Erhebungen fanden vor und nach der Schulung statt. Diese beinhalteten standardisierte Übungsgespräche zwischen Eltern und Patienten, Videoaufzeichnungen sowie Feedback dazu von Peers und auch Supervi- sionen. Ebenso wurden Daten zur Selbsteinschätzung der eigenen kommunikativen Kompetenz erhoben. Neun Wochen vor und neun Wochen nach Abschluss dieser Schu- lung wurde eine Elternbefragung bei n = 248 Eltern durchgeführt, in der die Zufrieden- heit der Eltern hinsichtlich der Kommunikation mit dem Arzt erfasst wurde. Nach sechs Monaten wurde eine Nachbefragung bei den TeilnehmerInnen durchgeführt. Bei jenen der Interventionsgruppe zeigte sich im Gegensatz zur Kontrollgruppe nach Abschluss der Schulung eine signifikante Steigerung der subjektiven Kompetenzeinschätzung in Bezug auf die kommunikativen Situationen, die speziell in der Schulung trainiert wur- den. Die Fremdeinschätzung durch die Eltern ergab eine generell sehr positive Bewer- tung der Ärzte, es ließ sich jedoch kein Gruppeneffekt nachweisen. Teilnehmer berich- teten einige Zeit später auch von einer Verbesserung der Arbeit und einen besseren Kontakt zum erkrankten Kind. Daher lässt sich aus dieser Studie auch deuten, wie wich- tig die Kommunikation bzw. die pädagogische Interaktion in der medizinischen Arbeit mit Kindern ist (vgl. Hoffmann et al. 2007, S. 1 ff.).

1.3.2 Vertrauen

„Die Vertrauensbeziehung wird durch das Gespräch gegründet oder gefestigt, und dies ist eine zentrale Vo- raussetzung für Heilung und Krankheitsbewältigung“ (Ripke 1994, S. 1).

In der Zusammenarbeit mit Kindern muss man an dieser Stelle nun auch das Vertrauen erwähnen. Vertrauen ist nicht nur die Basis einer guten Zusammenarbeit zwischen Arzt, Kind und Eltern, Vertrauen bildet seit Langem einen „Bezugspunkt“ geistes- und sozi- alwissenschaftlicher sowie psychologischer Arbeiten. Unterschiedliche Zugänge wie zum Beispiel der psychoanalytische, entwicklungspsychologische oder sozialisations- theoretische, sowie soziologische oder auch historische Ansätze verweisen explizit auf

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1. Zusammenspiel Pädagogik und Medizin

eine Vertrauensbasis. Urvertrauen ist bereits 1950 in der Psychoanalyse nach Erikson eine bedeutende Forschungsfrage. Mit seinem Krisenmodell der Entwicklung zur Aus- gangsbildung einer gelingenden Identitätsentwicklung hat er die Bildung von Urver- trauen erhoben. Ein zunächst personales, auf Interaktionen bezogenes Vertrauen wird zu einem generalisierten Phänomen der Lebensbewältigung. Diesem Urvertrauen kommt interdisziplinär große Bedeutung zu. Jahre später werden versucht, Vertrauen als Inter- aktionsbedingung empirisch zu bestätigen, was René Spitz in seinen Forschungen zum Hospitalismus auch gelingt. In der aktuellen bindungstheoretischen Forschung wird Vertrauen zwar nicht explizit untersucht, wird aber unter anderem als Bedingung von Exploration und Lernen hervorgehoben. In sozialisationstheoretischen Ansatz greift man das dualistische Konzept auf. Unter anderem den strukturellen Optimismus sowie den strukturellen Pessimismus. Man könnte es auch als Vertrauen versus Misstrauen benennen. Die Sozialisationstheorie geht von einem generalisierten Optimismus aus und setzt funktionelle Beziehungen über die frühe Kindheit voraus. In der biografietheoreti- schen Sicht wird eher auf das Vertrauen in sich selbst gesetzt. Das Subjekt verschafft sich Selbstgewissheit und schafft sich Selbstvertrauen. Die Entwicklung von Selbstver- trauen und Zukunftsvertrauen gewinnt zunehmend an Bedeutung. Aus Sicht Luhmanns (1989) wird nun die Versachlichung von Vertrauen thematisiert. Vertrauen wird nicht mehr nur auf der Ebene persönlicher Beziehungen wirksam, sondern jetzt auch im Be- reich gesellschaftlicher Institutionen. An diese Konzeption schließen vor allem die pä- dagogische Psychologie, Soziologie oder auch Politik- und Wirtschaftswissenschaft an, indem sie das Bestehen von Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen und deren Ak- teure explizit abfragen. Allgemein wird Vertrauen schon früh in verschiedenen Grund- legungen pädagogischen Handelns thematisiert. So könnte man auch sagen, Vertrauen kommt eine große Bedeutung in der Arbeit mit Patienten zu und stellt in der Arbeit ei- nes Mediziners eine Verbindung zur Pädagogik her. Vertrauen kann seit Beginn der Moderne als eine Grundvoraussetzung pädagogischen Handelns verstanden werden.

Das geht schon zu Kant zurück, der dem Menschen hinsichtlich seiner Vernunftfähig- keit ein Grundvertrauen entgegenbringt. Personenbezogen stellt diesem „Begriff“ bis heute noch die Frage des pädagogischen Bezuges dar. Es wird auch von einer triadi- schen Beziehung zwischen Mediziner, Eltern und Kind/Kindern gesprochen. Man kann also sagen, auch in der Medizin kommt diesem vertrauensvollen Verhältnis zwischen

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1. Zusammenspiel Pädagogik und Medizin

zwei Personen als Voraussetzung von pädagogischen Beziehungen und Interaktionen eine bedeutende Rolle zu. Zusammenfassend bleibt zunächst festzuhalten, dass Vertrau- en in der erziehungswissenschaftlichen Forschung derzeit auf unterschiedlichen Ebenen diskutiert wird. Vertrauen ermöglicht eine gute Beziehung zwischen zwei oder mehre- ren Personen, was in der Pädagogik sowie auch in der Medizin von großer Wichtigkeit ist (vgl. Bartmann/Paff/Welter 2012, S. 772 ff.).

1.3.3 Die therapeutische Beziehung nach Dirk Zimmer

Ein Beispiel für die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist die Therapeut-Klient- Beziehung nach Dirk Zimmer 1983. Beobachtbare Verhaltensmuster, Einstellungen und Persönlichkeitsmerkmale bei KlientIn und TherapeutIn spielen eine wichtige Rolle. Un- ter „Klient“ versteht Zimmer sowohl Männer als auch Frauen und Kinder. TherapeutIn- nen reagieren in ihrem Verhalten, ihren Gefühlen und Bewertungen unterschiedlich auf PatientInnen. Diese therapeutische Beziehung lässt sich folgendermaßen beschreiben:

- Unter anderem liegen Rollendefinitionen vor, also wer ist PatientIn – wer sucht oder benötigt Hilfe, wer ist Hilfesuchende/r, wer ist der Experte und wer ist der Helfer. Zu beachten ist, dass es sich hier nicht um Alltagsbeziehungen handelt.

- Von Bedeutung ist, dass es sich um eine freiwillige Beziehung handelt, die zeit- lich begrenzt ist und auch unterschiedliche Bedürfnisse abdeckt.

- Die Beziehung soll, wenn möglich, zu einem Ziel führen, welches schon im Vorhinein feststeht oder angesprochen werden kann. Möglich wäre zum Beispiel auch, dass ein Patient wieder zum eigenen Handeln fähig ist. Je nach Problem und Situation steht ein anderes Ziel im Vordergrund.

- Vertrauen ist die Basis einer guten Behandlung.

- Ein Austausch von Informationen ist von großer Bedeutung, um eine gute Bera- tung und Behandlung bieten zu können. Eine kooperative Beziehung entsteht hier zwischen Arzt, Mutter und Kind.

- Zimmer unterscheidet zwischen „individuellen“ und „gemeinsamen“ Zielen:

Das Bindungsgefühl zu einer Person – zumeist zu der Mutter – steht hier im Vordergrund. Wenn dies als positiv erlebt wird, kann das auch zumeist das Ver-

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2. Institution Kinderarztpraxis

halten das Kindes und somit auch die Beziehung zu einer dritten Person beein- flussen (vgl. Zimmer S. 2 ff.).

Ohne sich bewusst darüber Gedanken zu machen, weiß man heute, dass eine eigenstän- dige Disziplin wie die Medizin nicht im luftleeren Raum tätig ist. Sozialpädagogische Tätigkeiten nehmen großen Einfluss. Es entsteht ein Zusammenspiel, welches schon Jahrzehnte zurückreicht und dargestellt werden kann. Im folgenden Kapitel dieser For- schungsarbeit soll nun das Setting dargestellt werden. Im folgenden Kapitel zur Bedeu- tung sozialpädagogischer Tätigkeit in einer Kinderarztpraxis wird nun das Setting in ei- ner Kinderarztpraxis dargestellt.

2. Institution Kinderarztpraxis

Das gewählte Setting für diese Arbeit ist eine Kinderarztpraxis in der Steiermark. Der Kinderfacharzt möchte nicht mit Namen genannt werden. Die Praxis sowie mit ihr in Verbindung stehende Personen werden aus Datenschutzgründen anonymisiert.

2.1 Die Ordination

Die Kinderarztordination ist behindertengerecht und mit vier Behandlungsräumen aus- gestattet. Neben der freundlich eingerichteten Atmosphäre werden laufend Informatio- nen über neueste medizinische Änderungen sowie Therapieempfehlungen zur Verfü- gung gestellt. Über die Website werden auch Informationen über Impfungen, Reiseapo- theke, Leistungen der Ordination, oder auch Internetlinks für jüngere Teenager u. a. ge- geben. Unter anderem zählen zu den Leistungen:

- Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen mit den erforderlichen Ultraschalluntersu- chungen der Hüfte und Niere

- Untersuchungen und Behandlungen von Säuglingen, Kindergartenkindern und Schulkindern

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2. Institution Kinderarztpraxis

- Untersuchungen von Lehrlingen, Krankmeldungen und Gesundschreiben - Impfungen und Impfberatung

- Ernährungsberatung

- Lungenfunktionsuntersuchungen

- EKG

- Allergietests: Picktest (Hauttestung) und Blutabnahmen - Ultraschalluntersuchung aller Altersstufen

- Blutbild, CRP und Blutzuckerbestimmung mit sofortigem Ergebnis - Harnuntersuchungen

- Venöse Blutabnahmen für alle Altersstufen - Operationstauglichkeitsuntersuchungen - Beratung bei nächtlichem Einnässen - Betreuung bei Neurodermitis

- Aufklärung über Präventionsmaßnahmen gegen den plötzlichen Säuglingstod.

Zusätzlich zu den angeführten Kassenleistungen werden Leistungen angeboten wie Sporttauglichkeitsuntersuchungen, Ergometrie, Gesunden- und Vorsorgeuntersuchun- gen zwischen dem fünften und 18. Lebensjahr, Ohrpiercing mit medizinischem Ohrste- cker oder auch die Zahnrettungsbox (vgl. Lackner/Fürnschuß o. J.).

2.2 Das Team

Das Team besteht derzeit aus einem Kinderfacharzt sowie fünf Ordinationsassistentin- nen. In den folgenden Unterkapiteln wird kurz das Team vorgestellt.

2.2.1 Der Kinderfacharzt

Die Schwerpunkte seiner Ausbildung legte der Facharzt für Kinder- und Jugendheil- kunde damals schon nicht nur auf die Allgemeinmedizin, sondern ebenso auf die pädiat- rische Rheumatologie, Sportmedizin, Schlafmedizin, Ultraschalldiagnostik und pädiatri-

(28)

2. Institution Kinderarztpraxis

sche sowie neonatologische Intensivmedizin. 1993 begann der Mediziner sein Studium an der Karl-Franzens-Universität in Graz. Es folgten die Ausbildungsjahre mit Turnus bis 1997, wo er die Anerkennung zum Allgemeinmediziner erhielt. Anschließend nahm er seine Tätigkeit in Ausbildung bis 2003 im LKH Leoben – in der Abteilung für Kinder und Jugendliche auf und war von 2003 bis 2013 als Oberarzt am LKH Leoben in der Abteilung für Kinder und Jugendliche tätig. Im Laufe seiner Karriere schließt der drei- fache Familienvater auch ein ÖAK-Diplom für Notarzt sowie Sportarzt ab und schlug den Weg ein, selbst eine Kinderarztpraxis mit Kassenvertrag zu führen (ebd.).

2.2.2 Die Ordinationsassistentinnen

Derzeit sind im Team fünf Assistentinnen tätig. Alle fünf Damen haben den Ordinati- onskurs vor Aufnahme der Tätigkeit in dieser Ordination abgeschlossen. Erfahrungen reichen von medizinischen Bereichen wie Radiologie und Dermatologie über die Päda- gogik bis hin zu den eigenen Erfahrungen mit Kindern als Mutter (ebd.).

2.2.3 Der Beruf „Ordinationsassistent/-in“

Der Beruf Ordinationsassistent/-in zählt zu dem Berufsbereich Gesundheit und Medizin.

Gemäß dem Medizinischen Assistenzberufe-Gesetz (BGBI_I_Nr.89/2012) gibt es ins- gesamt acht medizinische Assistenzberufe:

- Desinfektionsassistenz - Gipsassistenz

- Laborassistenz - Obduktionsassistenz - Operationsassistenz - Ordinationsassistenz - Röntgenassistenz

- Medizinische Fachassistenz.

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2. Institution Kinderarztpraxis

Die Ordinationsassistenz-Ausbildung darf bei beruflicher Erstausbildung im Gegensatz zu den anderen Ausbildungen ohne medizinische Assistenzausbildung gemacht werden.

Dementsprechend kann sie statt in einer Schule auch in einem Lehrgang gemacht wer- den. Die Ausbildung besteht aus einem praktischen Teil sowie auch einen Theorieteil.

Die praktische Ausbildung muss mindestens die Hälfte der gesamten Ausbildungszeit umfassen, die theoretische Ausbildung mindestens ein Drittel. Insgesamt umfasst die Ausbildung rund 650 Stunden und kann ebenso berufsbegleitend erfolgreich abge- schlossen werden. Nach erfolgreich abgeschlossener Fachbereichsarbeit und einer kommissionellen Abschlussprüfung wird die erfolgreiche Absolvierung der Ausbildung mit einem Diplom bescheinigt. Wichtig ist ebenso, dass diese Assistenzberufe nur von Personen ausgeübt werden dürfen, welche Voraussetzungen wie gesundheitliche Eig- nung, Vertrauenswürdigkeit und Ähnliches erfüllen. Da am Arbeitsmarkt im Gesund- heitsbereich sowie in der Pädagogik Personalmangel herrscht, werden immer mehr As- sistentInnen auch in den Pflegebereich geholt. Die Kompetenzen der ausgebildeten Fachkräfte sind vielfältig einsetzbar. Diese sind unter anderem die Freude am Umgang mit Menschen, Einfühlungsvermögen, Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit, Ver- antwortungsbewusstsein, Organisationstalent und vieles mehr (vgl. Arbeitsmarktservice Österreich 2018, o. S.).

Rückführend zur Pädagogik und Medizin im situativen Handeln – von der Bedeutung sozialpädagogischer Tätigkeit in einer Kinderarztpraxis, soll im nachfolgenden Kapitel der situationsorientierte Ansatz in der frühkindlichen Bildung bzw. in der pädagogi- schen Arbeit mit Kleinkindern und anhand einiger Fallbeispiele aus einer Kinderarzt- praxis nähergebracht bzw. verglichen werden.

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3. Situationsorientierter Ansatz in der Arbeit mit Kleinkindern

3. Situationsorientierter Ansatz in der Arbeit mit Kleinkindern

Neben der familiären Erziehung gehören ohne Zweifel Kindergarten, Tagesmutter und ähnliches zu den bedeutsamsten Bildungsorten für Kinder. Sie haben es mit individuell sehr unterschiedlichen soziokulturellen Hintergründen der Kinder und ihrer Eltern zu tun und haben dabei die Aufgabe, diese Aspekte bei der gesamten Betreuungs-, Bil- dungs- und Erziehungsarbeit zu berücksichtigen. Damit wird deutlich, dass neben den Eltern elementarpädagogische Einrichtungen sich als Orte verstehen, in denen von selbst Bildungsprozesse entstehen können, Bildungsanregungen in Gang gesetzt werden und Selbstbildungskräfte ausgebaut werden. Dies alles ist von großer Bedeutung, dass ein Kind in sich „wachsen“ und sich „bilden“ kann. Kindheitsforschungen belegen, dass immer Kinder sich überfordert fühlen, gereizt reagieren, wenig bis gar nicht belastbar sind, unruhig oder auch inaktiv sind, dazu aber auch Aggressivität als Reaktion auf Überforderung zeigen und zunehmend Gewalt gegen Dinge und andere Personen an- wenden. Wutausbrüche und körperliche Beschwerden wie Bauchschmerzen, Schlafstö- rungen oder auch Kopfschmerzen sind die Folgen. Psychosomatische Auffälligkeiten wie diese lassen Kinderärzte/-innen, PsychologInnen und ElementarpädagogInnen Alarm schlagen. Entwicklungspsychologisch steht der Auf- und Ausbau der „Ich-

Kompetenz“ eines Kindes im Vordergrund. Dabei geht es um das Verhältnis des Kindes zu sich selbst, um sich dann erst mit dem unmittelbaren Umfeld auseinandersetzen zu können. Diese „Ich-Kompetenz“ hilft dem Kind, Vertrauen sowie ein Selbstvertrauen zu sich und seinem Handeln zu erlangen. Kurz gesagt: „Entwicklung geschieht durch posi- tiv erlebte Bindung und Erziehung ist Beziehung“ (Krenz 2010, S. 16). Gute Beziehun- gen – positiv erlebte Bindungen – können bei Kindern zu einer guten Entwicklung ihrer eigenen Identität führen und ebenso zu guten Beziehungen zu anderen Menschen: vom Ich zum Du zum Wir.

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3. Situationsorientierter Ansatz in der Arbeit mit Kleinkindern

Personale Kompetenz

Ich-Kompetenz Sozialkompetenz Sachkompetenz

Abbildung 1: Entwicklung des Menschen (nach Krenz, S. 16).

Grundbedürfnisbefriedigung durch Bindungserfahrungen ist für die Entwicklung eines Kindes wichtig. Ebenso sind aber auch bestimmte Verhaltensmerkmale der Erwachse- nen notwendig, um dem Anspruch einer bedürfnisgerechten Kommunikation und bin- dungsnahen Erlebnissen gerecht zu werden. Entwicklungspsychologisch gesehen helfen diese Grundbedürfnisse, Wurzeln für Persönlichkeits- und Lebensentfaltung zu entwi- ckeln. Man kann also sagen, diese primär strukturellen Bedingungen und personalen Kompetenzen der Erwachsenen sorgen für eine persönlichkeitsfördernde und stärkende, ressourcenorientierte Entwicklung von Kindern, wodurch sich Selbstbildungskräfte und bildungsaktive Verhaltensweisen entwickeln können und unterstützen lassen. Aber vor- erst sollen anhand einer Abbildung kurz die Grundbedürfnisse des Kindes veranschau- licht werden (vgl. Krenz 2010, S. 7 ff.).

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3. Situationsorientierter Ansatz in der Arbeit mit Kleinkindern

Abbildung 2: Die 16 seelischen Grundbedürfnisse (nach Krenz S. 18).

Im Laufe der Jahre befand sich die Pädagogik immer wieder im Wandel. Man kommt schließlich zu einem Ansatz, der nicht nur das pädagogische Handeln umdenken, son- dern wie auch schon vorangegangene Ansätze in die Medizin eingehen lässt. Dieser An- satz – der Situationsansatz – ist in der Gegenwart und wird auch in Zukunft von großer lebensweltlicher Bedeutung für unseren Bildungsauftrag sein. Der situationsorientierte Ansatz wurde Mitte der 1980er bis Anfang der 1990er Jahre entwickelt, wobei das Kind mit seinem Verhalten und Erleben im Mittelpunk der pädagogischen Arbeit steht. Die- ser befasst sich mit dem Alltag von Kindern, dem Erleben und Verhalten von Kindern,

Grund- bedürfnisse

Zeit

erfahren Zeit

erleben

Respekt erleben

Optimis- mus erfahren

Gewalt- freiheit erfahren

Sexualität erleben

Gefühle erleben Erfahr-

ungs- räume Mit-

sprache haben Intimität

erfahren Be-

wegung erleben Sicher-

heit spüren verstanden

werden Vertrauen

erleben

Liebe erfahren

Ruhe erleben

(33)

3. Situationsorientierter Ansatz in der Arbeit mit Kleinkindern

der Beobachtung und allem, was mit ihrer Geschichte zu tun hat. Der Moment, die ei- gentliche Situation, ist Ansatz der pädagogischen Arbeit. Lernprozesse entstehen also immer aus diesem Moment heraus – aus der Situation. Kinder sollen an den Dingen ler- nen und aus den Dingen lernen, die sie gerade beschäftigen. Kinder suchen selbst aus, was sie interessiert. Lernanlässe entstehen so aus der Situation heraus (vgl. Stoll 1995, S. 21). In der Entstehung des Situationsansatzes kommt man nicht darum herum, Paul Freire zu erwähnen. Freire gilt mit seiner Pädagogik der Autonomie als Ideengeber zur Entwicklung des Situationsansatzes. Da der Situationsansatz aufgrund seiner humanen Sichtweise auch politische Teile enthält, gibt es viele Parallelen zur Pädagogik nach Freire. Er hebt sich von einem Verständnis von Erziehung ab und vertritt bereits ein Verständnis von selbstständiger und selbsttätiger Erziehung. Die persönliche Lebenssi- tuation eines Menschen stellt Probleme und Lernanlässe auf, an denen man gemeinsam lernen kann. Freire vertritt bereits die Meinung, dass sich aus der persönlichen Lebens- situation Probleme ergeben, die zu lösen sind. Auch das eigene Wort stellt Freire in den Raum: „Es gibt kein wirkliches Wort, das nicht gleichzeitig Praxis wäre. Ein wirkliches Wort sagen heißt daher, die Welt verändern“ (Freire 1973, S. 71). Wie Freire in seinen Ansätzen geht auch Korczak – auf welchen schon zu Beginn dieser Arbeit eingegangen wurde – von einem humanistisch geprägten Menschenbild aus. Auch er zielt darauf, Kinder in ihrer Selbstkompetenz zu stärken und die gesamte Persönlichkeitsentwicklung des Menschen auf- und auszubauen. Unter anderem orientiert sich der Situationsansatz auch an ihren Familien vor Ort sowie aktuellen Erkenntnissen aus der Kindheits- und Jugendforschung und der Entwicklungspsychologie wie z. B. von John Bowlby, K. und K. Grossmann, aus Bildungsforschung und Neurobiologie. Man setzt auf Entlastung in der Gegenwart, um Ressourcen für die Gegenwart schöpfen zu können (vgl. Spitz- Güdden 2010, S. 71 ff.). Man könnte aber auch sagen, man ließ sich aus der reformpä- dagogischen Bewegung inspirieren. Der Situationsansatz kann auch als integrative Me- thode verstanden werden, die sich von vielen unterschiedlichen Reformpädagogen wie z. B. Celestin Freinet inspirieren ließ. Freinet könnte auch als wichtiger Ideengeber für die Konzeptionalisierung des Situationsansatzes gesehen werden. Seine Gedanken zu Erziehung und Lernen können durchaus auf pädagogische Tätigkeit in der frühkindli- chen Bildung übertragen werden. Seine Kernbegriffe „Leben“ – „Arbeit“ – „Natürliche

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3. Situationsorientierter Ansatz in der Arbeit mit Kleinkindern

Methode“ zeigen, dass auch bei ihm das Lernen aus der Situation heraus entsteht, ge- trieben von der Neugier der Kinder (vgl. Laun 1983, S. 38 ff.).

Unter anderem liegen folgende Leitgedanken diesem Ansatz zugrunde:

- Kinder haben Recht auf persönliche Entfaltung, Entdeckung ihrer Talente und verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten.

- Erzieher/Innen sind dazu beauftragt, durch persönliche und fachliche Qualifika- tion Kindern beste Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten.

- Kinder orientieren sich an Erzieher/Innen, welche als Vorbild und Modell ste- hen. Kinder bauendamit selbstständige und selbstbestimmte Verhaltensweisen auf.

- Kinder haben ein Recht auf eigenen Lebensraum, in dem sie sich entfalten kön- nen und Kind sein dürfen.

- Erzieher/Innen nehmen ausgesuchte persönlichkeitsgeprägte Themen der Kinder mit in die Arbeit auf und wenden sich von einem verplanten Tagesablauf ab.

- Kinder erfahren Achtung, Wertschätzung und beziehungsorientierte Bindung bzw. Annahme hinsichtlich ihrer Bedürfnisse wie Vertrauen, Sicherheit und Ähnliches.

- Kinder stehen an erster Stelle, erst an zweiter die Eltern.

- Als Selbstverständlichkeit zählen unter anderem ein professionelles Handeln, Qualitätssicherung, -verbesserung und Qualitätsüberprüfung.

- Werte sind bedeutsam sowie eine gepflegte Interaktions- und Kommunikations- kultur (vgl. Spitz-Güdden 2010, S. 74).

Nach Armin Krenz gibt der Situationsansatz Kindern die Möglichkeit, individuelle Er- fahrungen und Erlebnisse zu verarbeiten und zu verstehen. Ebenso ermöglicht er es, wichtige Fragen zu beantworten und Zusammenhänge zu begreifen, um aus den erlebten Situationen und Erfahrungen individuelle und soziale Kompetenzen auf- und auszubau- en. Es gibt keinen Zwang oder Druck. Dabei handelt es sich auch nicht um den „Lais- sez-faire-Ansatz“, sondern um Mitsprache statt „bestimmt“ werden und um Beteiligung

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3. Situationsorientierter Ansatz in der Arbeit mit Kleinkindern

statt Vorgaben. Es geht hier aber nicht wie in funktionsorientieren Ansätzen darum, auf die Zukunft gerichtet zu arbeiten, sondern es geht vielmehr darum, eine nachhaltige Pä- dagogik aufzubauen. Die Vergangenheit wird in der Gegenwart bearbeitet und bewältigt und prozessorientiert auf die Zukunft ausgerichtet. Man könnte sagen, der situationsori- entierte Ansatz wird in seinem grundlegenden Konzept den Betreuungs-, Bildungs- und Erziehungsauftrag gerecht. Des Weiteren baut er auf den Erkenntnissen der Bindungs- forschung (Bindung als Grundlage für ein gelingendes Leben miteinander), der Ent- wicklungspsychologie (Prinzip der Ursache und der Folge – was braucht das Kind), der Bildungsforschung (Aufbau Selbstwirksamkeit und Selbstwert) und der Neurologie (emotionale, motorische und kognitive Ebene) auf. Dieses wesentliche Merkmal unter- scheidet sich von anderen Ansätzen: denn im situationsorientierten Ansatz sind im Ge- gensatz zu anderen alle vier Disziplinen vertreten.

3.1 Bedeutende Eckdaten des Situationsorientierten Ansatzes

Aus dem eben beschriebenen theoretischen Hintergrund und den Grundlagen des Situa- tionsansatzes ergeben sich einige Prinzipien für die praktische Umsetzung in der früh- kindlichen Bildung und Arbeit. Eines der wichtigen Grundprinzipien der pädagogischen Arbeit nach dem Situationsansatz ist, dass hinter dem Ansatz und seiner Pädagogik ein ganz bestimmtes Menschenbild steht und wahrgenommen werden muss. Ein Kind soll sich selbst entwickeln können. Des Weiteren soll ein Kind ein selbstbestimmtes Leben und Lernen ohne strikt vorgegebenen Orientierungsplan führen können. Es soll aus der Situation, also aus dem Moment entstehen (vgl. Stoll 1995, S. 47). Warum dieser An- satz auch in der Medizin – speziell auch in der Arbeit mit Kindern – von Bedeutung ist, sollen Eckpunkte des Situationsorientierten Ansatzes näher bringen und anhand kurzer Fallbeispiele aus einer Kinderarztpraxis veranschaulicht werden.

3.1.1 Berücksichtigung der Kinderrechte

„Also wirklich Max, jetzt komm da unter dem Tisch heraus! Wie führst du dich denn auf bitte!“ Die Mutter von Max, einem fünfjährigen Buben, brüllt in der Kinderarztpra-

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