A-1597
Seite eins
Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 24, 13. Juni 1997 (1)
Roman Herzog:
„Marathonlauf für das Leben“
aß sich viele Fragen me- dizinischer Ethik nicht leicht und erst recht nicht mit dem Anspruch auf vollständi- gen gesellschaftlichen Konsens be- antworten lassen, dessen bin ich mir wohl bewußt. Oft mischen sich sehr nachvollziehbare mit frag- würdigen Beweggründen. Und be- kanntlich ist auch der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepfla- stert.
Kinderlosigkeit etwa bedeu- tet für viele großes Leid; hier ver- hilft medizinische Hilfe zu großem und durchaus berechtigtem Glück.
Aber wo sind hier die Grenzen?
Was ist mit der Garantie des Wunschgeschlechts? Sollten wir ernsthaft den Versuch akzeptie- ren, auch Männer zu Müttern zu machen? Wollen wir auch Greisin- nen noch eine Mutterschaft er- möglichen?
Wie immer man sich da ent- scheidet: Ärzte dürfen auch in die- ser Beziehung nicht zu Handlan- gern eines hedonistischen Zeitgei- stes werden. Und wenn hier über- haupt von Anspruch und Recht geredet werden kann, dann doch vom Anspruch der Kinder auf für- sorgliche Eltern – und nicht vom Anspruch der Eltern auf perfek- tionierte Kinder!
Bitte verstehen Sie das nicht als ein Plädoyer für eine Verminde- rung unserer Anstrengungen in der medizinischen Forschung. Meine Grundphilosophie ist ja: Bei For- schung und Technologie wäre es unverantwortlich, unseren Blick
nur auf Gefahren und Fehlentwick- lungen zu beschränken. Entschei- dend ist, auch die Chancen zu ken- nen, bevor man sie gegen die Risi- ken abwägt. Wer gentechnische Forschung generell verbieten will, kann beispielsweise kaum hoffen, im Kampf gegen Erbkrankheiten schnelle Erfolge zu haben. Und Millionen von Menschen leiden ja an Krankheiten, die wir zwar noch nicht heilen können, bei denen wir aber die Hoffnung haben, daß dies bald gelingen wird. Das ist ein mil- lionenfacher Wettlauf mit dem Tod, besser gesagt: ein Marathon- lauf für das Leben.
Wir dürfen nicht jeden Weg beschreiten, der anderswo von Forschern für legitim gehalten wird. Das Thema Klonierungsver- bot mag Ihnen andeuten, woran ich denke. Natürlich gibt es in der Forschung auch trotz internatio- nalen Wettbewerbs ethische Ta- bus! Aber wir tun gut daran, auch sie mit großer Sorgfalt zu definie- ren.
Wer hinter jedem medizini- schen Forschungsprojekt den Na- men Frankenstein wittert, zerstört nicht nur bei den Betroffenen Hoffnung und Zuversicht, sondern er verweigert auch Hilfsbedürfti- gen die ihnen zustehende Hilfe.
(Auszug aus der Rede von Bundespräsident Prof. Dr. Roman Herzog zur Eröffnung des 100.
Deutschen Ärztetages in Eisenach.
Siehe dazu auch unseren Leitarti- kel in diesem Heft) N