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Als zeitliche Eingrenzung der Gotik bestimmen die frühen Sakralbauten in der Île-de-France (Umgebung von Paris) um 1140 den Aus- gangspunkt

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GOTIK

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System in die Architektur, das alle Bauelemente integriert und vereint.

Alleine der Begriff der gotischen Kathedrale ruft ins uns bis heute ein klares Bild hervor, wie es kaum einem anderen Gebäudetyp gelingt. Dabei sind die einzelnen Elemente eines gotischen Sakralbaus, wie Spitzbogen, Strebe- pfeiler oder Rippengewölbe, in Europa seit langem bekannt und werden im zeitgenössischen Bauwesen bereits mit einer gewissen Meisterschaft ausge- führt. Die entscheidende Neuerung ist, dass diese bekannten Formen nun zusammengesetzt und in ein einheitliches System eingepasst werden. Als weiteres einzigartiges Merkmal der Gotik steht die Berücksichtigung des Lichts erstmals im Fokus: Die Auflösung der massiven romanischen Wand in eine durchscheinende Fläche aus Farbfenstern, gegliedert durch Mass- werk, wird in der Hochgotik zum höchsten Ziel des neuen Baustils.

Doch nicht alle späteren Betrachter empfanden die Gotik als Glanz- leistung des europäischen Mittelalters; so entstand und etablierte sich der Name «Gotik» aus einer abschätzigen Bewertung des italienischen Archi- tekten, Künstler und Künstlerbiographen Giorgio Vasari (1511–1574), der als Verfechter der antiken Kunst die vorwiegend im Raum nördlich der Alpen florierende Kunst des Mittelalters als «barbarisch» (ital. maniera gotica) bezeichnete. Als zeitliche Eingrenzung der Gotik bestimmen die frühen Sakralbauten in der Île-de-France (Umgebung von Paris) um 1140 den Aus- gangspunkt. Obwohl sich der neue Baustil rasch verbreitet, setzt die Gotik in verschiedenen Regionen Europas versetzt ein und entwickelt sich auch unterschiedlich. Die nachfolgende Tabelle gibt dazu einen groben schema- tischen Überblick:

Frühgotik Hochgotik Spätgotik Frankreich 1140–1200 1200–1338 1338–1520

England 1170–1250 1250–1350 1350–1550

Deutschland (HRR) 1210–1245 1245–1350 1350–1525

Vorgängerbauten und Übergangsformen

Wie bereits erwähnt, entstand der gotische Baustil aus der romanischen Tradition heraus. Dies war ein stetiger Prozess, der an verschiedenen Sak- ralbauten des 12. Jahrhunderts beobachtet werden kann. Die gotische Archi- tektur ist fast immer eine Architektur des Gewölbebaus und wird somit von der Konzeption des Gewölbes bestimmt. Die jeweiligen Übergangsformen können daher am besten an der Weiterentwicklung des Gewölbes aufgezeigt werden. Die früheste Form eines für die Gotik wegweisenden Gewölbes kann in dem aus kleinformatigen Werksteinen gemauerten Bandrippenge-

Abb. 1: Bandrippengewölbe in der Vorhalle der Abtei Saint-Pierre in Moissac (S. Holzer, 2013)

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wölbe in der um 1120 entstandenen Vorhalle der ehemaligen Benediktine- rabtei Saint-Pierre in Moissac (Südfrankreich) beobachtet werden (Abb. 1).

Die breiten Bandrippen dieser sehr frühen Form eines Kreuzrippengewöl- bes laufen im Gewölbescheitel nicht an einem Schlussstein zusammen, son- dern kreuzen sich, indem eine Diagonalrippe durchläuft und die andere seitlich anstösst. Im Gegensatz zu den meisten romanischen Gewölben besitzt das Gewölbe in Moissac bereits Spitzbögen und einen beinahe hori- zontalen Scheitel.

Eine erste Weiterentwicklung hin zum gotischen Gewölbe entsteht bereits wenige Jahre später im Nordwesten von Frankreich. Die Klosterkir- che Saint-Étienne der ehemaligen Benediktinerabtei von Caen wird nach einer Stiftung von Wilhelm dem Eroberer bereits um 1060 begonnen und 1090 vollendet. Das ursprünglich flachgedeckte Mittelschiff der Kloster- kirche wird bereits um 1125/30 nachträglich mit einem sechsteiligen Rip- pengewölbe versehen (Abb. 2), das für die frühen gotischen Sakralbauten wegweisend sein wird. Auch die andere grosse Klosterkirche Sainte-Trinité in Caen wird um 1130 mit einem sechsteiligen Rippengewölbe versehen, dessen Rippen ebenfalls aus kleinen Steinen gemauert wurden. Das sech- steilige Gewölbe beruht noch auf dem gebundenen System der Romanik, wobei ein Joch im Mittelschiff jeweils zwei Jochen in den Seitenschiffen entspricht. Das sechsteilige Gewölbe ermöglicht die Zwischenstützung der grossen Mittelschiffsgewölbe auch in Jochmitte, ohne dass auf die Anbrin- gung von Fenstern zur Beleuchtung des Mittelschiffs verzichtet werden muss (Abb. 3). Die beiden Kirchen von Caen zeigen darüber hinaus erste Ansätze, vom gebundenen System wegzukommen und jedes Joch für sich zu gestalten, was sich in der Frühgotik schnell durchsetzen wird.

Abb. 2: Sechsteiliges Gewölbe in der ehem. Abteikirche Saint-Étienne in Caen, um 1125/30 (S. Holzer, 2017)

Abb. 3: Schema eines sechsteiligen Gewöl- bes (S. Holzer, Stat. Beurteilung hist. Trag- werke 1, 2013)

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Frühgotik (1140–1200)

Der Ursprung des vereinheitlichten und rationalisierten gotischen Systems findet sich in der Kathedrale von Saint-Denis nördlich von Paris (Abb. 4). Die Grundsteinlegung an der Westfassade erfolgt am 9. Juni 1137 unter Abt Suger (1081–1151). Aus heutiger Sicht ist vor allem der Bau des Umgangchors zwischen 1140 und 1144 von grösster Bedeutung für die Entstehung des neuen Baustils. Der Chorumgang von Saint-Denis besitzt einen offenen Kapellenkranz neben dem eigentlichen Umgang, wodurch eine zweischiffige Anlage entsteht, und zeichnet sich durch monolithische Säulen (Würdemotiv) und grosse Fenster aus. Ermöglicht wird die weiträu- mige und helle Struktur dieses Umgangschores durch die trapezförmigen Kreuzrippengewölbe, deren Rippen infolge der Grundrissdisposition kom- plizierte Verschneidungskurven aufweisen. Zum Ausgleich des schwierig zu wölbenden Grundrisses wurden die Gewölberippen als spitzbogige Viertelkreise angelegt, die einen einheitlichen Bogenradius aufweisen und sich aufgrund der Variabilität der Spitzbogen in der Höhe anpassen liessen.

Zur gleichen frühen Stilstufe können die Abteikirche Saint-Germain- des-Prés in Paris sowie die Kathedrale von Sens gezählt werden. Grosse Teile der Abteikirche Saint-Germain-des-Prés stammen noch aus dem 11. Jahr- hundert, der Chorumgang entsteht jedoch erst in der späteren Bauphase von 1145–63. Im Chor treffen wir auch auf eine frühe Form der gotischen Wandgliederung, da zwischen den Scheidarkaden (Untergaden) und Ober- gaden mit dem Triforium – einer kleinen Galerie – ein neues Bauelement auftaucht. Ebenfalls neu ist das Strebewerk, welches die Schubkräfte des Chorgewölbes über den Umgang hinweg mit schwerfälligen Strebebögen nach aussen auf einen Kranz von Strebepfeilern ableitet. Diese Verstrebung an der Apsis ist wichtig, da die in grossen Fenstern aufgelösten Chorwände alleine kein ausreichendes Widerlager mehr bieten. In Sens (1140–68) fin- den wir die neuen Bauelemente in einem strikt auf das Gewölbe ausgerich- teten System wieder (Abb. 5). Die Hochschiffwand ist hier bereits rational vereinheitlicht und besitzt ein Triforium, das die Wandflächen auf der Höhe der Seitenschiffdächer gliedert. Im Gegensatz zum Triforium von Saint- Germain-des-Prés ist es als Gruppentriforium ausgebildet, das aus zwei gekoppelten Biforien besteht. Der Wandaufbau des Mittelschiffs ist vertikal

Abb. 4: Grundriss der Kathedrale von Saint-Denis (Frankl 1962)

Abb. 5: Dreizoniger Wandaufbau der Kathed- rale von Sens (S. Holzer, 2018)

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Abb. 6: Grundriss der Kathedrale von Laon vor und nach 1215 (Viollet-le-Duc 1859)

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weiter vorangeschritten ist. Jedes Bauelement des Gewölbes, auch die Schildbogen, finden nun ihre logische Fortsetzung nach unten, wobei die Dienste wiederum auf den massiven Säulen der Scheidarkaden enden. Der Übergang zu den später folgenden Bündeldiensten lässt sich im Joch vor der Vierung bereits erkennen (Abb. 7), da die Säule hier von freistehenden Säulchen umringt ist (monolithisch und senkrecht zur natürlichen Stein- schichtung aufgerichtet, franz. en délit). Die Hochschiffwand wird in Laon weiter aufgelöst, indem zwischen den Scheidarkaden und dem Triforium eine gewölbte Empore eingeschoben wird, die weiteres Licht ins Mittel- schiff lässt. Das Motiv der Empore ist aus der romanischen Baukunst über- nommen und bleibt in der Gotik ein seltener Fall. Die weitere Entwicklung ging dahin, die Obergadenzone und das Triforium so gross wie möglich zu machen; diese Entwicklung setzte allerdings die sorgfältige Stützung auch

Abb. 7: Innenansicht der Kathedrale von Laon (S. Holzer 2011)

Abb. 8: Grundriss der Kathedrale Notre-Dame de Paris (Viollet-le-Duc 1859)

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Abb. 9: Westfassade der Kathedrale Notre-Dame de Paris (S. Holzer, 2014)

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und durch grössere Fensteröffnungen in den Obergaden ersetzt – im Joch vor der Vierung können beide Baustufen heute noch beobachtet werden.

Die Hochschiffwand wird weiter durch Dienste gegliedert, die im Mittel- schiff noch auf den Säulenkapitellen enden, in den Seitenschiffen jedoch abwechslungsweise um die Säulen herumgeleitet werden. Als nächste Stufe der Weiterentwicklung der Verbindung zwischen Säule und Dienst, finden sich im westlichen Mittelschiff bereits Dienste, die den Säulen nicht mehr als monolithische Stücke en délit vorgelagert sind, sondern mit ihnen ver- schmelzen. Für die folgende Hochgotik von grosser Bedeutung ist auch die Gliederung der Westfassade von Notre-Dame (Abb. 9). Die Portalanlage ist dreiteilig, wobei das Mittelschiff und die Seitenschiffe jeweils einen Eingang erhalten. Über dem Portal erstreckt sich auf der ganzen Breite die Königs- galerie und darüber das typische Rosenfenster. Wie schon in Caen oder Laon wird die Westfassade von zwei Türmen bestimmt, deren Turmhelme nicht ausgeführt wurden.

Hochgotik (1200–1338)

Der Übergang zur Hochgotik wird von zwei Grosskirchen begleitet, die kurz vor dem Ende des 12. Jahrhunderts begonnen werden: die Kathedrale von Chartres (1194–1220) und die Kathedrale von Bourges (1195–1250). Im Mittelschiff von Bourges finden sich zwar noch sechsteilige Gewölbe, die Gliederung wendet sich jedoch ab vom gebundenen System. Die logische Fortsetzung daraus findet sich dann in Chartres, dessen Mittelschiff nun Kreuzgewölbe in den einzelnen Jochen besitzt. Das neue System nennt sich Travée, wobei ein Joch im Mittelschiff jeweils mit einem Joch im Seiten- schiff korrespondiert. Die Hochschiffwand wird wieder dreizonig geglie- dert und die Gewölberippen einzeln von Diensten aufgenommen, die bis zum Boden verlängert werden.

Die Weiterentwicklung im gotischen System wird in der Kathedrale Not- re-Dame de Reims (1211–41; Westbau 1252–1310) zur Perfektion getrieben:

Reims ist die Kathedrale der Hochgotik! Diese Kathedrale mit dreischif- figem Langhaus und ebenfalls dreischiffigem Querhaus (Abb. 10) nimmt alle bisher besprochenen gotischen Architekturelemente auf und integriert sie in ein rationales System, das für alle folgenden Kathedralen und Gross- kirchen massgebend sein wird. Alles ist dabei auf das Kreuzrippengewölbe in der Travée ausgelegt. Die Kreuzrippengewölbe werden mit spitzbogigen Gurt- und Schildbogen geplant, was eine gewisse Flexibilität hinsichtlich der Höhenentwicklung zulässt; die Kreuzrippen über der Jochdiagonale behalten hingegen eine Halbkreisform (Abb. 11); durch diese Kombination von Spitz- und Rundbögen wird es möglich, den Gewölbescheitel trotz des Rechteckgrundrisses fast horizontal auszubilden, was die Belichtung der

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Abb. 10: Grundriss der Kathedrale von Reims (Frankl 1962)

Abb. 11: Nomenklatur eines Kreuzgewölbes (Nussbaum/Lepsky 1999)

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Gewölbezone begünstigt, die sonst – bei kuppeliger Gewölbeform – meist im Schatten liegt. Die Wandgliederung erscheint in Reims erstmals in ihrer finalen Form mit einer dreizonigen Gliederung und einem korrespondie- renden Dienst für jedes Element des Gewölbes. Diese Dienste werden nun konsequent bis zum Boden verlängert und in Bündelpfeilern zusammenge- fasst. Für eine bessere Belichtung des Innenraums wird die Kathedrale wei- ter in die Höhe gestaffelt, wobei der Gewölbe- und Wandschub von einem zweistöckigen Strebesystem über den Seitenschiffsdächern aufgenommen wird. Auch die Westfassade der Kathedrale von Reims gilt als Meisterwerk der Hochgotik. Ausserdem finden sich am Chor bereits erste Masswerk- fenster. Die Kathedrale von Reims galt wohl schon während des Baus als Vorzeigeobjekt der Hochgotik. Der zeitgenössische Werkmeister Villard de Honnecourt hielt die gerade im Entstehen begriffene Architektur in seinem berühmten Skizzenbuch (um 1220/30; MS FR 19093, BNF Paris) in meh- reren Zeichnungen fest. Die Skizzen zeigen unter anderem die Wandglie- derung, den Querschnitt durch einen Bündelpfeiler, das zweigeschossige Strebesystem und die frühen Masswerkfenster am Chor – also genau die innovativsten Komponenten der neuen Kathedrale.

Auf der gleichen Stilstufe wie Reims steht auch die Kathedrale von Ami- ens (1220–69), die entgegen der traditionellen Vorgehensweise von Westen nach Osten gebaut wurde (Abb. 12). Ausserdem finden sich am Chorumgang erstmals Satteldächer über den Seitenschiffen, die eine bessere Beleuchtung des Innenraums über das Triforium zulassen, welches nun ebenfalls nach aussen hin verglast ist.

Style rayonnant: Architektur des Lichts

Zur Mitte des 13. Jahrhunderts hin, entwickelt sich in Frankreich eine Sonderform der Gotik, die Style rayonnant («strahlender Stil») genannt wird. Das Ziel dieser Sonderform war die möglichst grossflächige Auflö- sung der Wand durch Fenster, sodass der Innenraum in «göttlichem Licht»

erscheinen kann. Diese Bezeichnung des «göttlichen Lichts» in der Kathed- rale geht bereits auf Abt Suger von Saint-Denis (12. Jh.) zurück, wobei es erst

Abb. 12: Grundriss der Kathedrale von Amiens (Viollet-le-Duc 1859)

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zur Mitte des 13. Jahrhunderts hin technisch möglich wird, die Lichtfülle auch bautechnisch im ganzen Bau zu realisieren. Wiederum steht jedoch die Kathedrale von Saint-Denis als eindrucksvolles Beispiel einer solchen Umsetzung bereit. Das Lang- und Querhaus wird erst 1231–81 gebaut, wobei hier ein von aussen belichtetes Triforium und gigantische Fenster das Innere mit einem wahren Farbenspiel erstrahlen lassen (Abb. 13). Dieses Spiel mit den Glasfenstern wird in der Kathedrale von Troyes noch weiter auf die Spitze getrieben, indem die Obergadenfenster bis ins Triforium wei- terlaufen, so dass das Triforium sich in ein blosses Anhängsel der riesigen Fenster transformiert. Auch die Querhausfassaden werden in Troyes durch Fensterflächen aufgelöst, wobei am nördlichen Querhausarm die Fassade oberhalb des Portals praktisch nur noch aus Glas besteht. Dies hat sich hier als problematisch herausgestellt, da die Kräfte durch die Fensterverglasung und das Masswerk geleitet werden.

Als letzte Konsequenz des Style rayonnant entstand zwischen 1244 und 1248 die Sainte-Chapelle als Palastkapelle des königlichen Palais de la Cité.

Die Sainte-Chapelle besitzt im Obergeschoss fast keine geschlossenen Wände mehr, sondern wirkt wie ein eingewölbtes Glashaus. Die Fensterlan- zetten sind knapp 12 Meter hoch und erstrecken sich über eine Fläche von ca. 600 m2, wobei heute noch ungefähr zwei Drittel der Fensterscheiben original aus dem 13. Jahrhundert stammen. In der Sainte-Chapelle wird die Aussenhülle zur durchscheinenden Wand, wodurch der Innenraum kom- plett in das von Abt Suger beschworene «göttliche Licht» gehüllt wird.

Gotik in England

Die Gotik folgt in England auf den normannischen Stil und zeigt bereits früh Bauformen, die für die europäische Spätgotik massgebend sein wer- den. Die Gotik setzt in England mit dem Neubau des Chores der Kathed- rale von Canterbury zwischen 1175 und 1184 ein, die eine Vorreiterrolle zum eigentlichen Early English Style (Frühgotik in England) einnimmt. Der langgestreckte Grundriss der Kathedrale (Abb. 14) verweist dabei deutlich auf die normannischen Einflüsse und den Vorgängerbau hin. Der Neubau der Kathedrale wurde 1175 unter dem Baumeister Wilhelm von Sens begon- nen, der ganz nach den französischen Vorbildern einen polygonalen Chor baut, dessen Form in England allerdings kaum Nachfolger finden wird. Im Innern des Chorraums finden sich ebenfalls französische Formen mit sech- steiligen Gewölben und dreizonigem Wandaufbau mit Triforium. Speziell am Chorgewölbe der Kathedrale von Canterbury ist jedoch, dass die Kämp- fer der Gewölberippen in den Bereich des Triforiums heruntergezogen sind und nicht erst auf Höhe des Obergadens beginnen, wodurch das Chorge- wölbe gedrückt wirkt. Für die englische Gotik typisch ist ausserdem die Verwendung von verschieden farbigen Steinen, vor allem der Wechsel zwi- schen schwarzen Steinen für Dienste und weissen Steinen für die Wände.

Entwicklungsgeschichtlich ist der Chorraum der Kathedrale von Canter- bury zwischen den Kathedralen von Sens und Laon einzugliedern. Der Bau des Langhauses folgt erst zwischen 1378 bis 1410. Die normannische Gotik strahlt auch aufs europäische Festland aus, was am damals neu errichteten Chor der Abteikirche Saint-Étienne in Caen (ab 1200) beobachtet werden kann. Das System zwischen Stützen und Gewölberippen orientiert sich hier an der französischen Frühgotik, während die Zickzack-Bänder direkt auf Canterbury verweisen. Das Lang- und Querhaus in Caen werden vom Vorgängerbau übernommen, weshalb sich der Chor auch auf spätroma- nisch-normannische Formen stützt.

Der Early English Style beginnt mit dem Bau der Kathedralen von Wells (ab 1180) und Lincoln (ab 1192) und der Kathedrale von Salisbury

Abb. 13: Farbenspiel im Mittelschiff der Kathedrale von Saint-Denis (S. Holzer, 2012)

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(1220–66), die wegen ihrer kurzen Bauzeit vollständig im Early English Style erbaut wurde. Der Grundriss der Kathedrale von Salisbury zeigt den typischen rechteckigen Chorraum mit der Lady Chapel am östlichen Abschluss. Einer der bedeutendsten Sakralbauten der englischen Gotik ist die Kathedrale von Ely, die aufgrund ihrer langen Bauzeit in mehreren Phasen vom Early English Style bis in den Decorated Style (Hochgotik) reicht und den Perpendicular Style (Spätgotik) bereits vorgreift. Der roma- nisch-normannische Vorgängerbau wurde bereits 1083 begonnen und nach mehreren Unterbrechungen im Jahr 1180 vollendet – das heutige Langhaus stammt noch aus dem späten 12. Jahrhundert. Der polygonale Chor wurde 1234 abgebrochen und bis 1251 durch einen rechteckigen Neubau mit typi- schen Lanzettfenstern ersetzt (Abb. 15). Eine spezielle Beachtung verdient das Chorgewölbe, das als spitzbogige Tonne mit geradem Scheitel errichtet wurde. Das Chorgewölbe zeigt ausserdem eine frühe Form des figurierten

Abb. 14: Grundriss der Kathedrale von Canterbury (Binding 1999)

Abb. 15: Grundriss der Kathedrale von Ely (TDA 1937)

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Gewölbes, wobei die Kappenfläche durch Tierceronrippen zerlegt wird (Abb. 16). Durch einen Einsturz des Vierungsturmes im Jahr 1322 musste der westliche Teil des Chorgewölbes neu erbaut werden. Dieser Teil zeigt bereits eine elaboriertere Version der typisch englischen Gewölbeform mit Liernerippen. Im Gegensatz zu Tierceron-Rippen, die am Anfänger beginnen, aber nicht zum Schlussstein laufen, sind Liernerippen kurze Rip- penstücke, die übergeordnete Rippen verbinden und nicht am Anfänger beginnen. Der westliche Teil des Chorgewölbes zeigt also schon ein typi- sches Gewölbe des Decorated Style. Auch die Lady Chapel im Norden der Anlage ist im Decorated Style ausgeführt, wobei die Tierceronrippen nun auch die Stichkappen aufteilen, wodurch eine Art Fächer entsteht – auf die- ser Grundlage beruht das ab der Mitte des 14. Jahrhundert auf der briti- schen Insel aufkommende Fächergewölbe. Der eingestürzte quadratische Vierungsturm wird als riesiges Oktogon zwischen 1328 bis 1337 wieder auf- gebaut, wobei die Eckstützen der früheren Vierung beseitigt werden. Die riesige Spannweite des neuen oktogonalen «Vierungsturms» war nur in Holz zu realisieren – einschliesslich des Gewölbes und der kleinen Laterne (Lichtkuppel).

Gotik in Deutschland

Die gotische Architektur wird in Deutschland anfänglich nur zögerlich übernommen und konnte sich erst gegen Ende des Mittelalters wirklich durchsetzen. Erste vorsichtige Schritte hin zum gotischen System können jedoch bereits beim Umbau von St. Gereon in Köln beobachtet werden:

Zwischen 1219 bis 1227 wurde der spätantike zehneckige annähernd ovale Zentralbau in einen gotischen Gewölbebau verwandelt, der etwa auf der Entwicklungsstufe der Kathedrale von Laon steht. Der erste echte goti- sche Neubau in Deutschland folgt danach mit dem Bau der Liebfrauen- kirche in Trier (1235–50), wobei am Bau auch Baumeister aus Frankreich beteiligt waren. Die Liebfrauenkirche ist ein Zentralbau auf kreuzförmiger

Abb. 16: Schema eines Gewölbes mit Kreuz-, Tierceron- und Lierne-Rippen (M. Maissen, 2017)

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Abb. 17: Schnitt durch die Elisabethenkirche in Marburg (Binding 1999)

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Grundlage, in den Zwickeln durch diagonal orientierte Kapellen erweitert.

Im Innern zeigt sich ein bereits weit entwickeltes gotisches System, dessen Gliederung und Details sich stark an der Kathedrale von Reims orientie- ren. Als zweiter Initialbau der deutschen Gotik ist die Elisabethenkirche in Marburg (1236 – 86) zu nennen, die in ihrer Disposition weit in die deut- sche Spätgotik vorausweist: Das Langhaus ist als dreischiffige Hallenkirche (Abb. 17) ausgebildet, d.h. die Seitenschiffe sind gleich hoch wie das Mit- telschiff. Die Form der Hallenkirche wird ab dem 14. Jahrhundert die goti- sche Architektur im deutschsprachigen Raum dominieren. Sie ermöglicht die grosszügige Belichtung durch Fenster in den Umfassungswänden und eine Ableitung der Gewölbekräfte in aussen angeordnete Strebepfeiler ohne Zwischenschaltung von Strebebögen. In Marburg sind als Reminiszenz an das basilikale Kathedralenschema die Fenster in den Aussenwänden noch in zwei Registern übereinander organisiert; bei spätgotischen Bauen wer- den daraus raumhohe Fenster.

Eine direkte Übernahme der französischen Gotik ist das Strassburger Münster. Der Bau des Münsters begann unter Bischof Wernher um das Jahr 1015. Dieser frühromanische Bau wurde von mehreren Bränden immer wieder beschädigt, weshalb man sich 1190 für einen Neubau im spätroma- nischen Stil entschied. Bereits um 1225 – 30 wurde allerdings das Querschiff im gotischen Stil erneuert, worauf der Neubau des ungewöhnlich breiten Langhauses ab 1235 folgte. Das Innere des Münsters verweist direkt auf die Kathedrale von Troyes, zeigt einen dreizonigen Wandaufbau und riesige Fensterflächen, die auch das Triforium erfassen (style rayonnant). Das Sys- tem aus Gewölberippen und Stützen ist in Strassburg schon voll ausgebildet und jedes Bauelement findet seine logische Fortsetzung in einem Dienst, der nach in einem Bündelpfeiler aufgenommen wird. Das Strassburger Münster ist berühmt für seine filigran wirkende Westfassade, die im Kont- rast zum wuchtigen Ostbau im Stil der romanischen Kaiserdome steht. Der Bau der Westfassade begann unter dem in Goethes Aufsatz «Von deutscher Baukunst» besungenen Baumeister Erwin von Steinbach um 1275, zog sich aber bis ins späte 14. Jahrhundert weiter. Der Westbau war ursprünglich als zweitürmige Fassade geplant, wovon aber nur der Nordturm im 15. Jahr- hundert ausgeführt wurde. Die Fassade selbst ist ein Meisterwerk der frei- stehenden Masswerkarchitektur und beherbergt neben unzähligen Fialen, Krabben und Wimpergen auch ein riesiges Radfenster über dem Haupt- portal.

Viel steilere Proportionen als im Strassburger Münster finden sich im Kölner Dom (ab 1248), der dem Vorbild der Kathedrale von Amiens folgte.

In Köln ist alles auf eine alles überragende Höhe ausgelegt, weshalb der Kölner Dom nach der eingestürzten und wiedererrichteten Kathedrale von Beauvais der höchste gotische Sakralbau überhaupt ist. Die Arbeiten am noch unvollständigen Dom liessen gegen Ende des 15. Jahrhunderts stetig nach, was zu in einem 300-jährigen Bauunterbruch führte. Die Vollendung des Doms ist dem deutschen Kunst- und Architekturhistoriker Sulpiz Bois- serée zu verdanken, der im frühen 19. Jahrhundert die Propagandatrommel zu einem Weiterbau rührte. Am 15. Oktober 1880 konnte der Kölner Dom nach über 600 Jahren Bauzeit endlich eingeweiht werden.

Französische Vorbilder finden sich auch im Regensburger Dom (ab 1273), dessen Formen und Details im direkten Dialog mit den Kathedralen von Reims und Troyes stehen. Das gotische System wird hier bereits wei- terentwickelt, was sich vor allem im reduzierten Wandaufbau bemerkbar macht. Das Triforium wird hier mit den Obergaden kombiniert, wodurch bereits ein zweizoniger Wandaufriss angedeutet wird, wie wir ihn kurz spä- ter im Dom von Halberstadt (ab 1317) bereits voll ausgebildet antreffen. Die Kombination von Obergaden und Triforium erlaubt es, grössere Fenster-

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flächen einzuziehen; diese Entwicklung läuft bereits darauf hinaus, dass die Triforiumszone ganz verschwindet.

Neben den Kathedralen entstanden nun auch weitere Kirchen in goti- schen Stil. Nicht in allen diesen Bauten – Kirchen der auf Bescheidenheit und Demut zielenden «Bettelorden» (Franziskaner, Dominikanrer), ländli- che und städtische Pfarrkirchen – war es möglich oder auch nur erwünscht, das komplette gotische Architektursystem zu realisieren. Vielmehr finden wir insbesondere den Apparat der Wandgliederung und Stützen auf ein Minimum reduziert. Damit fällt auch der grösste Anteil der Werksteinar- beiten weg, und grosse glatte verputzte Wandflächen dominieren das Bild.

Die Dominikanerkirche St. Blasius in Regensburg (1248 – 1300) ist ein frü- her Protagonist dieser reduzierten Gotik. Dort wurde auf jegliche Wand- gliederung zwischen Scheidarkaden und Obergaden verzichtet; lediglich ein einzelner dünner Dienst verbindet den Gewölbeansatz mit dem Boden.

Die Arkaden und Fenster wirken wie ausgeschnitten aus der Wand. Nur in den Scheidarkaden ist andeutungsweise die Systematik der Gotik zu sehen, denn jedem Element des Profils der Arkade entsprechen einzelne Kapitelle, Konsolen und Dienste. Im Gegensatz zur Regensburger Dominikanerkir- che ist bei den meisten Bettelordenskirchen das Langhaus nicht gewölbt, sondern mindestens im Mittelschiff flachgedeckt. Nur der Chorraum – meist als langgezogener Raum zur Unterbringung der zahlreichen Mön- che ausgebildet – ist immer gewölbt. Manchmal setzen die Gewölbe dort auch ganz ohne Dienste oder erst in halber Höhe über Konsolen an. Die- ses Architekturmodell – flachgedecktes, dreischiffig-basilikales Langhaus, langgestreckter gewölbter Chor – wurde von zahlreichen städtischen Pfarr- kirchen des 14. und 15. Jahrhunderts aufgegriffen. Verzichtete man auch noch auf die Dreischiffigkeit des Langhauses, so gelangte man zur Kombi-

Abb. 18: Grundriss des Kölner Doms (Frankl 1962)

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nation eines schlichten rechteckigen Saales mit einem schmaleren, gewölb- ten Chor – ideales Vorbild für die Architektur ländlicher Pfarrkirchen, wie sie vor allem im 15. Jahrhundert in ganz Mitteleuropa in grosser Anzahl gebaut wurden: Die Saalkirche mit eingezogenem, polygonal geschlosse- nem Chor mit gotischen Gewölbe, meist ergänzt durch einen Glockenturm im nördlichen Winkel zwischen Langhaus und Chor und eine Sakristei auf der Südseite gegenüber.

Ein weiteres, vor allem in Nord- und Osteuropa verbreitetes Phänomen ist die Backsteingotik, die sich im ausgehenden Hochmittelalter entwi- ckelt. Eines der imposantesten und wichtigsten Beispiele dieser komplett aus Backsteinen erbauten Architektur ist das Münster der Zisterzienserab- tei in Doberan, das ab 1300 erbaut wurde. Innen zeigt sich ein reduzier- ter Formenapparat, der sich jedoch auf die hochgotische Tradition stützt.

Die Reduktion der Formen entstand dabei auch durch die Verwendung des Materials Backstein, da für die verschiedenen Elemente passende Formsteine gebrannt werden mussten. Durch die Herstellung passen- der Formsteine konnten jedoch auch feingliedrige Details wie Masswerk, Friese oder Dienste realisiert werden. Auch die Gewölberippen wurden aus passgenauen Formsteinen hergestellt und verbaut, während die Gewöl- bekappen aus gewöhnlichen Backsteinen gemauert werden konnten. Eine weitere Reduktion des stark gegliederten gotischen Bausystems ergibt sich in Doberan dadurch, dass die Strebebögen nicht über dem Dach, sondern unter ihm versteckt geführt sind. Konstruktiv ist also das gotische System voll entwickelt, es wird aber nicht repräsentativ zur Schau gestellt.

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charakteristische «spätgotische» Gewölbeformen schon im ausgehenden 13. Jahrhundert aufgetreten waren. Die Spätgotik fokussiert noch stärker als die vorausgehenden Epochen auf den Gewölbebau, der zum zentralen Motiv heranwächst. Nachdem die Gewölbe und die stützenden Bauteile in der Früh- und Hochgotik zu einem streng logischen System kombiniert worden waren, entwickelte sich in der Hochphase der Spätgotik ab 1400 ein freies Spiel mit den geometrischen Formen und Bauteilen. Die folgen- den Ausführungen beziehen sich, wenn nicht anders vermerkt, auf den mitteleuropäischen Raum. In Mitteleuropa dominiert in der Spätgotik im monumentalen Sakralbau – vor allem bei städtischen Pfarrkirchen – eine bis dahin weniger verbreitete Typologie: die Hallenkirche. Als Hallenkirche bezeichnet man einen mehrschiffigen Sakralbau, dessen Seitenschiffe die gleiche Höhe wie das Mittelschiff erreichen. Neben drei- und fünfschiffigen Hallenkirchen sind in Österreich auch einige Kirchen mit zwei oder vier gleichgewerteten Schiffen anzutreffen. Eine Unterform der Hallenkirche ist darüber hinaus die Staffel- oder Stufenhalle, bei der das Mittelschiff leicht über die Seitenschiffe ragt. Der Bautypus Hallenkirche ist keine Erfindung der Spätgotik, sondern ebenso alt wie die gewölbte Basilika. Jedoch wird ab der Mitte des 14. Jahrhunderts die Hallenkirche zur dominierenden Sakralbauform in den Städten. Die neue Raumform bringt auch grundle- gende Veränderungen in der Ausformulierung des Innenraums mit sich.

Durch die neue Gewichtung der Seitenschiffe entfällt die strikte räumliche Abtrennung des Mittelschiffs, und die Arkadenbögen wandern weiter nach oben, so dass sie teilweise bis unter das Gewölbe reichen, so dass das Mit- telschiff fensterlos sowie ohne Triforium oder Empore bleibt. Die Weiter- entwicklung davon ist der komplette Verzicht auf Scheidarkaden zwischen Mittel- und Seitenschiff, so dass die Gewölbe im Mittel- und den Seiten- schiffen nur durch stärker definierte Rippen in Längsrichtung differenziert werden, wobei diese Abgrenzung mit der Zeit ganz wegfällt und sich die Gewölbefiguration des Mittelschiffs in den Seitenschiffen fortsetzt. Diese Entwicklung ist nicht nur im Langhaus zu beobachten, sondern wird auch auf die Chöre angewendet. Ein extremes Beispiel für einen solchen Hallen- chor ist die Franziskanerkirche in Salzburg. Das romanische Langhaus der Franziskanerkirche reicht ins 12. Jahrhundert zurück, während der Hallen- chor erst zwischen 1400–1450 erbaut wird und das Langhaus bei Weitem überragt. Das Innere des Hallenchors ziert ein Rautensterngewölbe, dessen Rippen ohne Unterbruch zwischen den einzelnen Chorschiffen verlaufen (Abb. 19). Ein weiteres typisch spätgotisches Detail lässt sich hier ebenfalls beobachten: Die Säulen und Dienste verlaufen ohne die Vermittlung von Kapitellen direkt in die Rippen der Gewölbe. Als letzte markante Folge der neuen Raumform seien an dieser Stelle noch die Dächer erwähnt, die nun als riesige Satteldächer alle Kirchenschiffe gemeinsam überspannen.

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Das spätgotische Gewölbe

Bereits in der Frühphase der gotischen Architektur entstehen um 1200 in England die ersten Gewölbe, die das klassische Repertoire der vier- oder sechsteilige Kreuzrippengewölbe erweitern. Aus solchen mit Tierceron- rippen angereicherten Gewölben entwickeln sich in den darauffolgenden drei Jahrhunderten die sich frei entfaltenden spätgotischen oder figurierten Gewölbe. Der wichtigste Unterschied zu den klassischen Gewölbeformen ist, dass bei einem figurierten Gewölbe die Rippen nicht mehr den Gra- ten oder Kehlen des Gewölbes folgen müssen, sondern auch über die Bin- nenflächen der Gewölbekappen verlaufen können. Um dies zu erreichen, braucht es neben den Kreuz- oder Diagonalrippen noch zwei zusätzliche Rippentypen: Die schon angesprochenen Tierceronrippen entspringen immer an einem Anfänger (Kämpfer) und dürfen nicht am Schlussstein enden, während die Lierne zwar am Schlussstein enden kann, jedoch nicht von einem Anfänger aufsteigt (vgl. Abb. 16). Zu beachten ist lediglich, dass jeder Kreuzungspunkt durch mindestens drei Rippen gestützt wird, damit er stabil fixiert ist und die Rippenstränge auf Lehrbögen ohne vollflächige Einschalung der Kappen aufgebaut werden können. Eine zweite wichtige Neuerung zeichnet sich erst auf dem Extrados (Gewölbeoberseite) rich- tig ab. Während die klassischen Kreuzrippengewölbe einen horizontalen Kappenscheitel aufweisen, entwickeln sich im 15. Jahrhundert stark gebuste Kappen, die meist aus Backsteinen gemauert wurden (Abb. 20). Der Vor- teil einer gebusten – oder doppelt gekrümmten – Gewölbekappe ist, dass die Flächen freihändig gemauert werden können und zum Gewölbeschluss keine Schalung mehr benötigt wird. Die Verwendung von leichten Back- steinen statt schweren Werksteinen erleichtert das Mauern der Kappen im

Abb. 19: Hallenchor der Franziskanerkirche in Salzburg (S. Holzer, 2017)

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Abb. 20: Verschiedene Gewölbekappen jeweils mit Horizontalschnitten (Nussbaum/Lepsky 1999)

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Kufverband deutlich. Den Planungs- und Bauablauf eines spätgotischen Gewölbes kann man sich wie folgt vorstellen: Die Gewölbefiguration wird zunächst nur im Grundriss entwickelt. Darüber werden sodann die Rip- penbögen konstruiert. Die Rippenbögen werden als einfache Kurven – Kreisausschnitte – vorgegeben. Sie definieren die Form des Gewölbes im Raum. Beim Bau des Gewölbes werden zunächst die meist in Werkstein gearbeiteten Rippen auf den Bögen des Lehrgerüstes versetzt. Die Lehr- bögen unterstützen die Rippenzüge bis zur Vollendung des Gewölbes.

Durch die dichte Rippeneinteilung bleiben zwischen den gestützten Rip- penzügen nur kleinere Kappenfelder übrig, die ohne Zuhilfenahme einer Flächenschalung mit wenigen Steinen geschlossen werden können. Die Rippen haben also primär eine herstellungstechnische, weniger eine stati- sche Funktion. Optisch «bündeln» jedoch die Rippen die Kräfte und leiten sie «konzentriert» in die Auflager. In Wirklichkeit sind jedoch die doppelt gekrümmten, dünnschaligen Kappenflächen viel steifer als die nur einfach gekrümmten Rippen und tragen sich daher weitgehend selbst. Daher ist es möglich, von spätgotischen Gewölben die Rippen, die meist in das Kappen-

Abb. 21: Schema eines Tonnengewölbes mit Stichkappen (S. Holzer, 2013)

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grossen Schlussstein wird bereits im Vierungsgewölbe der Kathedrale von Amiens im frühen 13. Jahrhundert verwendet (vgl. Abb. 12). Die Sternform unterteilt die Gewölbekappe eines Kreuzrippengewölbes durch zusätzliche Tierceronrippen, die sich an den Scheitelrippen in Kreuzungspunkten tref- fen. Die Sternform ist dabei jochgebunden und wiederholt sich identisch oder mit leichten Abwandlungen in den angrenzenden Jochen. Eine Varia- tion des Sterngewölbes ist das Rautensterngewölbe, bei dem sich zusätzlich die Scheitelrippen aufteilen und als Liernen zum Schlussstein hin verlaufen (Abb. 22).

Rautennetzgewölbe

Während Stern- und Rautensterngewölbe noch jochgebunden sind, entwickeln sich daraus unter Peter Parler, dem wohl einflussreichsten Bau- meister der Spätgotik, in Prag bereits die ersten netzartig verlaufenden Gewölbefigurationen. Durch den Verzicht auf unterteilende Gurtrippen konnten nun die schon angesprochenen Tonnengewölbe mit Stichkappen gebaut werden, die eine freie und regelmässige Entfaltung der Figuration in Längsrichtung ermöglichte (Abb. 23).

Parallelrippengewölbe

Ebenfalls in Prag treten auch die ersten Parallelrippengewölbe auf. Diese sind im Grundriss gesehen noch feinmaschiger angelegt und unterteilen die Gewölbekappe in regelmässige kleine Flächen. Während die frühen Parallelrippengewölbe in Prag noch aus zwei parallel verlaufenden Rip- penzügen bestehen, werden sich die vollentwickelten Figurationen in der Anzahl Parallelrippen immer weiter übertreffen.

Zellengewölbe

Zellengewölbe nehmen sogar innerhalb der spätgotischen Gewölbe noch eine Sonderrolle ein, da hier der Raum zwischen Rippen nicht als durch- gehende Kappe ausgemauert wird, sondern als pyramidaler Hohlraum aus drei geraden Flächen. Dadurch entsteht die Illusion einer mehrfach gefal- teten Decke. Das erste Zellengewölbe entstand nach 1470 in der Albrechts- burg in Meissen (nordwestlich von Dresden), sie sind daneben aber rela- tiv wenig verbreitet und beschränken sich auf den sächsisch-böhmischen Raum.

Abb. 22: Rautensterngewölbe im Querschiff der Kirche Saint-Germain-l’Auxerrois in Paris (S. Holzer, 2012)

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Schlingrippengewölbe

Neben asymmetrischen Gewölbefigurationen und versetzt entspringen- den Rippenzügen in Stern-, Rauten- und Parallelrippengewölben entwickelt sich mit den kurvierten Rippenfigurationen oder Schlingrippengewölbe ein letzter beeindruckender Höhepunkt im Gewölbebau. Wie der Name schon andeutet, sind die Rippen in einem Schlingrippengewölbe doppelt gekrümmt, was einen unglaublich komplexen Planungs- und Herstellungs- prozess mit sich zieht. Berühmte Beispiele für Schlingrippengewölbe finden sich im Basler Münster, in der Albrechtsburg in Meissen, im Prager Hrad- schin oder in der Ingolstädter Liebfrauenkirche.

Abb. 23: Gewölbe der Wasserkirche in Zürich (M. Maissen, 2019)

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Lausanne (1170–1235) entstanden sind. Die gotische Architektur wandert anschliessend nur langsam Richtung Osten und so entstehen die ersten gotischen Kathedralen simultan während in Chur noch die letzte romani- sche Kathedrale St. Mariä Himmelfahrt (1150–1272) gebaut wird. Die öst- lichen Gebiete der heutigen Schweiz werden dafür in der Spätgotik von einem wahren Bauboom erfasst. Die Entwicklung der gotischen Architek- tur soll im Folgenden an einigen wichtigen Sakralbauten aufgezeigt werden.

Gotische Grosskirchen in der Schweiz

Der Bau der Kathedrale Notre-Dame von Lausanne (Abb. 24) ersetzte einen romanischen Vorgängerbau und begann im Osten mit dem Chorum- gang ab ungefähr 1170. Um 1190 vollendete der sogenannte Meister von Lausanne den Chorbau und begann mit den Arbeiten an der Vierung, dem Querhaus und dem östlichen Teil des Langhauses. In der dritten Bauphase von 1210 bis ca. 1235 wurde schliesslich das Langhaus und die Westfassade vollendet, wobei nur einer der geplanten zwei Türme erbaut wurde. Trotz der Vollendung um 1235 wurde die Kathedrale von Lausanne erst im Jahr 1275 von Papst Gregor X. unter Anwesenheit von König Rudolf von Habs- burg geweiht. Von aussen wirkt die Kathedrale recht einheitlich und hat grösstenteils ihr frühgotisches Aussehen bewahrt. Einzig die ursprüngli- chen Nadelturmhelme des Vierungsturmes und des südlichen Fassaden- turmes wurden durch einen barocken, bzw. neogotischen Helm ersetzt.

Im Innern zeichnen sich die verschiedenen Bauphasen jedoch deutlich ab: Während im Chorumgang und in der Axialkapelle noch romanische Kapitelle des Vorgängerbaus verbaut wurden, finden sich ab der zweiten Bauphase nur noch korinthische Kapitelle. Auch im Gewölbe lassen sich verschiedene Systeme erkennen: Die ersten beiden Langhausjoche nach der Vierung aus der zweiten Bauphase sind mit einem sechsteiligen Gewölbe als gebundenes System erstellt worden. Danach erfolgt ein Wechsel in ein hochgotisches System, das jedes Joch für sich mit Kreuzrippengewölben abschliesst. Das letzte Joch vor dem Westbau ist dann wieder speziell aus- geführt und wird wegen seinen Dimensionen umgangssprachlich auch das

«breite Joch» genannt. Auffällig ist ebenfalls die uneinheitliche Gestaltung der Stützen im Langhaus, wobei sowohl massive Rundpfeiler als auch Säu- len en délit und schliesslich Bündelpfeiler verbaut wurden. Dies alles deutet darauf hin, dass zwischen der zweiten und der dritten Bauphase ein Plan- wechsel stattfand, der vom frühgotischen ins hochgotische System führte.

Ausserdem konnte nachgewiesen werden, dass die Kathedrale ursprünglich im Innern und an den Portalen eine polychrome Bemalung aufwies, die während der fast 60 Jahre andauernden Restaurierungskampagne ab 1874 nach Plänen von Viollet-le-Duc wohl verschwand. Die Kathedrale von Lau-

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Abb. 24: Grundriss der Kathedrale von Lausanne (Kunstführer 1975)

Abb. 25: Schlingrippengewölbe im Grossen Kreuzgang des Basler Müns- ters (S. Holzer, 2018)

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grösstenteils auf den um 1180 begonnenen Neubau zurück (Abb. 26). Wie viele der Basler Kirchen wurde auch das Münster beim Basler Erdbeben am 18. Oktober 1356 schwer beschädigt. Beim Erdbeben stürzten die obe- ren Geschosse der westlichen Türme, der komplette Vierungsturm, die Gewölbe und Teile der Krypta ein. Der Wiederaufbau begann unter dem berühmten deutschen Baumeister Johannes Parler unmittelbar nach dem Erdbeben, dauerten aber wegen einiger zusätzlicher Umbauten bis 1500 an, als der südliche Turm vollendet wurde. Der Wiederaufbau des Münsters führte jedoch auch dazu, dass das Innere heute in einem einheitlichen und voll ausgebildeten hochgotischen System ausgeführt wurde – das spätro- manische Erscheinungsbild der Hochschiffwände wurde dabei beibehalten.

Auf einen romanischen Vorgängerbaut verweist auch der im spätgotischen Flamboyant-Stil umgebaute Grosse Kreuzgang (1429–62) an der Südseite des Münsters. Die Flamboyant-Gotik macht sich dabei vor allem durch die sich nicht wiederholende Überlagerung von Fischblasenmasswerk in den Fensteröffnungen bemerkbar. Ausserdem ist der komplette Kreuzgang mit aufwändigen Gewölben, die mit Masswerk und figurierten Kreuzungsstei- nen versehen sind, ausgestattet. Das imposanteste Joch befindet sich direkt an der an den südlichen Querhausarm angebauten Katharinenkapelle und zeigt ein frühes Schlingrippengewölbe von um 1458 (Abb. 25). Die Kreuz- rippen dieses Gewölbes sind zweigeteilt, verlaufen mit einer steten Kurvie- rung zum Gewölbescheitel und tragen dort einen hängenden Schlussstein

Daten weiterer wichtiger gotischer Sakralbauten:

Kollegiatkirche, Neuenburg 1190 – ca. 1250 (Südturm)

Predigerkirche, Basel 1233 – 1237 Umbau 1262-69, Wiederaufbau ab 1356

Fraumünster, Zürich 1250 – 1270 (Umbau und Erweiterung)

Barfüsserkirche, Basel 1253 – 1256, Wiederaufbau nach Brand 1298

Kathedrale St. Nikolaus, Fribourg 1283 – 1490 (in mehreren Bauphasen)

Leonhardskirche, Basel Wiederaufbau ab 1360, Umbau 1481 – 1521

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Abb. 26: Grundriss und Bauphasenplan des Basler Münsters (Münsterbaukommission 1982)

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Spätgotische Kirchen und Klöster in der Schweiz

Während die Schweizer Früh- und Hochgotik mehrheitlich im Westen der heutigen Landesgrenzen zu finden ist, ist die Spätgotik ein eher auf den deutschsprachigen Raum konzentriertes Phänomen. Der bedeutendste und grösste spätgotische Sakralbau ist das Berner Münster, das zugleich auch die wichtigste Bauhütte für den schweizerischen Raum beschäftigte.

Der Neubau des Münsters wurde von der Stadt Bern und dem Deutschen Orden getragen, weshalb auch einige der am Münster tätigen Baumeis- ter aus dem süddeutschen Raum kamen, so zum Beispiel der Werkmeis- ter Matthäus Ensinger aus Ulm, unter dem die Grundsteinlegung am 11.

März 1421 erfolgte. An der Stelle des Münsters stand zu diesem Zeitpunkt eine um 1190 errichtete und 1276 umgebaute romanische Kapelle, die Leutkirche genannt wurde. Der heutige Bau wurde im Osten begonnen und dann im Uhrzeigersinn um die Leutkirche herum in vier Bauetappen erstellt (Abb. 27). Die erste Bauetappe bis 1455 bestand aus dem Umbau des Chores sowie dem Bau der Seitenwände und der Kapellen. In der zwei- ten Bauphase wurde bis 1485 das Langhaus der Leutkirche abgerissen, das Mittelschiff gebaut, der Westbau bis zum unteren Turmviereck begonnen und das Hauptportal vollendet. Die dritte Bauetappe beginnt um 1489 mit dem Abschluss des Turmvierecks und dem Abbruch des Turms der alten Leutkirche. Bis 1500 konnten anschliessend die Seitenschiffe und die Hoch- schiffwände abgeschlossen werden. In nur gerade zwei Jahren zwischen 1515 und 1517 konnte der überlange Chor mit 86 figürlichen Schlusssteinen unter dem Baumeister Peter Pfister eingewölbt werden (Abb. 28). Mit dem Einzug der Reformation in Bern erfolgte ein Baustopp bis 1571, als man sich ent- schloss doch weiterzubauen. Bis 1575 wurden die Gewölbe im Mittelschiff geschlossen und 1588 folgte noch das Gewölbe im Turmoktogon. Der cha- rakteristische Turm selbst fehlte zu diesem Zeitpunkt noch und wurde erst in einer vierten Bauetappe nach der Gründung des Münsterbauvereins im Jahr 1881 erbaut.

Eher ein Kuriosum in der schweizerischen Baulandschaft ist die Grün- dung der grössten spätgotischen Klosteranlage Mariaberg in Rorschach (78 x 60 Meter ohne Südflügel). Der Auftragsgeber war der Abt des St. Galler Klosters Ulrich Rösch, der nach anhaltenden Streitigkeiten mit der Stadt St. Gallen sein Kloster mit der Zustimmung von Papst und Kaiser nach

Abb. 27: Grundriss des Berner Münsters und Bauetappen bis 1590 (Berner Münsterstiftung 1985)

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Rorschach verlegen wollte. Mit der Planung der neuen Klosteranlage wurde 1481 der Münchner Bildhauer und Architekt Erasmus Grasser beauftragt und die Bauarbeiten begannen mit der Grundsteinlegung am 21. März 1487 unter dem ersten Baumeister Bernhard Richmann. 1489 war der Rohbau bereits vollendet und 80 Mönchszellen, die zum Teil im Dach angelegt waren, standen zum Bezug bereit. Die Stadt St. Gallen widersetzte sich aus wirtschaftlichen und politischen Gründen der Umsiedlung des Klosters und so zogen am 28. Juli des gleichen Jahres nach der Urnäscher Chilbi 2150 Mann, angeführt vom amtierenden Bürgermeister Ulrich Varnbüh- ler, nach Rorschach um den Neubau niederzubrennen. Dieser sogenannte

«Rorschacher Klosterbruch» führte nicht nur zu grossen Schäden an den unvollendeten Gebäuden, sondern direkt in den St. Gallerkrieg, der bis ins Frühjahr 1490 andauerte und mit einem Sieg des Klosters St. Gallen und ihrer Verbündeten aus Zürich, Luzern, Schwyz und Glarus endete.

Der Wiederaufbau des Klosters Mariaberg begann zwar bereits wenige Monate nach dem Klosterbruch, kam aber nach dem Tod von Abt Rösch im Jahr 1491 zum Erliegen. Erst als sich die Eidgenössische Tagsatzung für den Weiterbau einsetzte wurden die Arbeiten im Jahr 1497 wiederaufge- nommen und 1518 beendet. Aufgrund der sich anbahnenden Reformation wurde das Kloster jedoch nie bezogen und die am Südflügel geplante Klos- terkirche nicht mehr ausgeführt – der heutige Südflügel stammt von einem Umbau zwischen 1969–78. Bereits im späten 16. Jahrhundert wurde die Klosteranlage als Lehranstalt verwendet und beherbergt heute die Päda- gogische Hochschule St. Gallen. Als Ersatz für die nicht ausgeführte Klos- terkirche wurde der Kapitelsaal. in der Mitte des Ostflügels 1532 mit drei Altären versehen und der Hl. Maria geweiht – seit 1899 befindet sich hier der Musiksaal. Das Highlight der Klosteranlage ist dagegen ohne Zweifel der spätgotische Kreuzgang der komplett eingewölbt wurde. Die Arbeiten am Kreuzgang begannen nach 1497, wobei der nördliche Kreuzgangsarm als letzter Abschnitt um 1516 fertiggestellt wurde. Die Kreuzgangsarme im Osten, Süden und Westen sind mit insgesamt 56 figürlichen Schlusssteinen verziert, die von einer auf Trapezen basierenden Rippenfiguration getra- gen werden. Der nördliche Kreuzgangsarm folgt dann einer von West nach Osten immer komplexer werdenden Gewölbefiguration und endet in zwei

Abb. 28: Chorgewölbe des Berner Münsters mit 86 figürlichen Schlusssteinen (Berner Münsterstiftung, 2017)

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Der spätgotische Bauboom am Beispiel Graubünden

In der Mitte des 15. Jahrhunderts wird die Deutschschweiz von einem wahren Bauboom erfasst, der eine grosse Anzahl neuer Pfarrkirchen und Umbauten bereits bestehender Kirchen nach einem spätgotischen Schema mit sich bringt. Dieser spätgotische Bauboom ist jedoch keine schweizeri- sche Erscheinung, sondern findet in ähnlichen Ausmassen bereits schon einige Jahrzehnte früher in Süddeutschland und Österreich statt. Die in diesen Regionen bereits etablierte Bautradition schwappt dann über die heutigen Landesgrenzen in die Ostschweizer Kantone über. Der Kanton Graubünden nimmt dabei durch seine geschlossene Baugruppe mit unge- fähr 115 neu- oder umgebauten sakralen Bauobjekten eine Sonderstellung ein.Die Auslöser für den spätgotischen Bauboom in Graubünden sind viel- seitig. Einerseits wurde Graubünden im 15. Jahrhundert von einem wirt- schaftlichen und gesellschaftlichen Wachstum erfasst, der den Bau neuer und grösserer Sakralbauten erforderte. Andererseits bestanden das ganze Spätmittelalter hindurch Spannungen zwischen der Bevölkerung und den Bischöfen von Chur, was nicht nur zu der Gründung der Drei Bünde führte, sondern auch dazu, dass viele Gerichtsgemeinden die Autonomie anstreb- ten und sich dabei viele Kirchgemeinden von ihren Mutterkirchen lösten.

Die Loslösung der Filialkirchen erforderte ebenfalls den Bau neuer Pfarr- und Dorfkirchen, wobei die jeweiligen Kirchgemeinden ihre neugewon- nene Freiheit und ihren Stolz im Bau neuer Kirchen ausdrückte. Als weite- res wichtiges Ereignis muss der Stadtbrand von Chur im Jahr 1464 gesehen werden, bei dem ein Grossteil der Stadt mit Ausnahme des bischöflichen Hofes zerstört wurde. Zum Wiederaufbau der Stadt und vor allem der zer- störten Martinskirche, wurden erfahrene Baumeister aus Österreich und Süddeutschland nach Graubünden geholt. Der wichtigste Baumeister war der aus Oberösterreich stammende Steffan Klain, der als städtischer Werk- meister von Chur nicht nur den Wiederaufbau der Martinskirche leitete, sondern auch das technische Wissen und die nötige Erfahrung mitbrachte, ohne die der Bauboom in diesem Ausmass nicht möglich gewesen wäre.

Der Wiederaufbau der Martinskirche begann um 1471 und dauerte bis 1491 an. Beim Wiederaufbau wurden Teile der nördlichen Langhausmauer des Vorgängerbaus wiederverwendet und nach Osten um ein Joch verlän- gert. Auch die Breite des Hauptschiffs folgt noch den Proportionen des Vorgängerbaus, was daran erkannt werden kann, dass Teile der ursprüng- lichen Nordfassade für den Bau der Aussenfront des Hauptschiffs verwen- det wurden. Das Seitenschiff wurde erst um 1500 angebaut, kurz bevor der karolingische Turm abgerissen und durch einen Neubau zwischen 1505–09 ersetzt wurde. Betrachtet man das Kirchengebäude von 1491 ohne die spä-

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Abb. 29: Haspelsterngewölbe im Chor der Ref. Kirche von Küblis (M. Maissen, 2017)

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den Bautypus der Wandpfeilerkirche. Bei kleineren Kirchen mit geringerer Gewölbespannweite konnte durch den Bau der Wandpfeiler gänzlich auf äussere Strebepfeiler verzichtet werden, was vor allem bei nachträglich ein- gewölbten Kirchen eine grosse Vereinfachung bedeutete.

Auch der Bau der Gewölbe selbst wurde während des spätgotischen Baubooms vereinheitlicht und auf bestimmte Figurationen beschränkt.

In der Martinskirche kommen zwei verschiedene Figurationen vor, die sich beide in den Donauländern bereits seit dem späten 14. Jahrhundert grosser Beliebtheit erfreuen: Im Chor findet sich ein Rautenstern und im Hauptschiff eine Parallelrippenfiguration; beide Muster finden sich noch etliche Male in den spätgotischen Kirchen in Basel, Zürich, Graubünden und natürlich in Süddeutschland und Österreich. Eine weitere, etwas spe- ziellere Figuration, die in Graubünden in einigen Chorräumen verwendet wurde, ist der Haspelstern (Abb. 29). Der Haspelstern hat den Vorteil, dass seine Figuration aus einem einheitlichen, einfach geknickten Rippenzug entworfen werden kann, wodurch für alle Gewölberippen ein einheitlicher Bogenradius gilt. Dieses Entwurfsprinzip nennt sich Prinzipalbogenmodell und hat den Vorteil, dass die Rippenwerkstücke mit einheitlichem Radius viel schneller und effizienter hergestellt werden können, was sowohl den Bau des Gewölbes beschleunigt, als auch die Baukosten senkt. Der gesamte spätgotische Baubetrieb war also bestmöglich optimiert, wodurch die Masse an Neu- und Umbauten überhaupt erst in so kurzer Zeit bewältigt werden konnte.

Vom entfachten Baufieber liessen sich auch altehrwürdige Orte, wie das Kloster St. Johann in Müstair anstecken. Das Kloster wurde um 775 wohl im Auftrag von Karl dem Grossen gegründet und wurde ursprünglich von Mönchen bewohnt, nach einer Reformierung um die Mitte des 12. Jahrhun- derts bezogen jedoch Benediktinerinnen das Kloster, was sich bis heute nicht geändert hat. In seiner über 1200-jährigen Geschichte wurde die Klosteranlage nie komplett zerstört, jedoch einigen Umbauten und Modi- fikationen unterzogen. Ein solcher Eingriff fand zwischen 1488 und 1492 unter der frisch gewählten Äbtissin Angelina von Planta statt, als die karo- lingische Klosterkirche von einer Saalkirche zu einer spätgotischen Hallen- kirche umgebaut und eingewölbt wurde (Abb. 30). Da die Kirche komplett mit wertvollen Fresken ausgemalt war, musste der unbekannte Baumeister beim Einbau des Gewölbes extrem vorsichtig vorgehen, damit möglichst wenig der Bildflächen verdeckt werden. Damit dies überhaupt möglich war, wurde der knapp 12 m breite Raum mit Hilfe zwei Rundpfeilerreihen in drei Schiffe gegliedert. Auf diesen Rundpfeilern wurde das Gewölbe zwischen- gestützt, um den Druck auf die Seitenwände zu verringern, und um in den Seitenschiffen die Gewölbehöhe zu vergrössern, damit die Fresken nicht allzu sehr gestört werden. Das eingezogene Gewölbe liegt rund 1 m unter

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der ursprünglichen Holzdecke, weshalb sich im Dachraum der Klosterkir- che noch Teile der karolingischen Fresken befinden. Im Dachraum sieht man ausserdem, dass die Gewölbekappen stumpf an die Mauern stossen und nicht in dafür vorgesehene Vertiefungen enden, wie bei eingewölb- ten Neubauten oft beobachtet werden kann. Der Einbau des Gewölbes bewahrte die Klosterkirche wohl vor einem schlimmen Schicksal, als wäh- rend des Schwabenkriegs bei der Schlacht an der Calven im Jahr 1499 das Dach der Klosterkirche abbrannte. Nach dem Brand wurden die Anbauten an der Südwand abgebrochen und ein neues Dach wurde erst 1517 errich- tet. Dies alles führte dazu, dass das südliche Widerlager massiv geschwächt wurde. Durch die Schwächung des Widerlagers konnte der Gewölbeschub nicht mehr vollständig aufgenommen werden und so lehnt die südliche Aussenmauer heute nach aussen, was ebenfalls am Anschluss des Gewölbes zur Seitenwand beobachtet werden kann, da sich hier ein deutlicher Spalt befindet.

In den frühen 1490er Jahren bewegte sich der spätgotische Baubetrieb von den nördlichen Regionen des Kantons Graubünden über Thusis ins Engadin; der Bauboom hatte nun den ganzen Kanton erfasst und allerorts wurden eifrig Bauprojekte ausgeführt. Nach dem Tod von Steffan Klain im Jahr 1492 übernahm sein früherer Geselle Andreas Bühler, ebenfalls aus Österreich, die Position an der Spitze der Baubewegung. Bühler arbeitete bereits im Prättigau und im Domleschg mit Klain zusammen und begann um 1491 mit der Ref. Kirche von Thusis sein Hauptwerk als Baumeister. Der Bau dieser Kirche dauerte bis 1506 an, wobei Bühler dazwischen im Enga- din, Puschlav und sogar im Vinschgau (Südtirol) weiter Bauprojekte aus- führte. Sein letztes Projekt führte ihn schliesslich noch ins Bündner Ober-

Abb. 30: Karolingische Apsiden und spätgotische Gewölbe in Müstair (M. Maissen, 2017)

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werden. Ein wichtiger Faktor war das frühe Aufkommen der Reformation in Graubünden, die sich bereits in der frühen 1520er Jahren verbreitete. In Chur selber beginnt die Reformation nach dem Wechsel von Pfarrer Lau- renz Mär nach Zürich. Bei der Wahl des Nachfolgers konnte sich die Bür- gerschaft gegenüber dem Domkapitel durchsetzen und so wurde der aus Maienfeld stammende Theologe Johannes Comander (eigentlich Johannes Dorfmann) zum neuen Stadtpfarrer an die Hauptkirche St. Martin beru- fen. Bereits an Ostern 1523 begann er seine Predigt im reformatorischen Sinn nach Huldrych Zwingli. Das eigentliche Zentrum der Reformation in den Drei Bünden war jedoch die Stadt Ilanz, in der in den kommenden Jahren alle entscheidenden Beschlüsse, wie die sogenannten Ilanzer Arti- kelbriefe, verfasst wurden. Für das Ende des Baubooms kann jedoch nicht nur die Reformation verantwortlich gemacht werden, sondern vor allem auch der gesättigte Markt: Nach 115 vollendeten Bauprojekten auf relativ kleinem Raum war der Bedarf an neuen Kirchen schlicht gedeckt. So ist es dann auch nicht verwunderlich, dass nach dem Ende des spätgotischen Baubooms bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts eine lange Zeit der Stille im sakralen Baubetrieb herrschte, die erst nach den Bündner Wirren (1618–

1639) durch eine neu entfachte Baulust im katholischen Barockkirchenbau gebrochen wurde.

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