A 122 Deutsches Ärzteblatt
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24. Januar 2014GEDENKORTE
Vom Wert des Menschen
Zwei Projekte, mit denen an die nationalsozialistischen
Euthanasie-Programme erinnert wird, nehmen jetzt Gestalt an.
A
m 27. Januar 2014 wird im Paul-Löbe-Haus des Deut- schen Bundestages eine Ausstel- lung eröffnet, die an die Zwangsste- rilisationen und Patientenmorde („Euthanasie“) in der Zeit des Na- tionalsozialismus erinnert. Bundes- präsident Joachim Gauck übernahm die Schirmherrschaft. Die Ausstel- lung wurde von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) initiiert und kuratiert. Finanziert wird sie durch die DGPPN und Spenden, vornehmlich aus der Ärzteschaft.Ab dem 25. März geht die Ausstel- lung auf Wanderschaft, zunächst in die Berliner „Topographie des Ter- rors“, deren Stiftung bereits in die Konzeption einbezogen war.
Die Ausstellung ist äußerer Aus- druck einer sich entwickelnden, al- lerdings auch sehr unübersichtli- chen Gedenkkultur. Auch lange ver- schwiegene Geschehnisse wie die
„Euthanasie“ werden dabei aufge- deckt und, soweit das überhaupt möglich ist, rational und emotional aufgearbeitet. Die Ärzteschaft hat hier, in Zusammenarbeit mit Histo-
rikern und aus sich heraus, einiges geleistet. Sie hatte auch Grund da- zu. Denn stets waren Ärzte planend, gutachtend und ausführend am Krankenmord und an der Zwangs- sterilisation beteiligt.
Darf man die Namen der Opfer überhaupt nennen?
In der NS-Zeit wurden etwa 400 000 Frauen und Männer, die nicht in die Rassenvorstellungen der Zeit und der Machthaber pass- ten, zwangsweise sterilisiert. Min- destens 250 000 Kranke und Behin- derte, die als „lebensunwert“ ange- sehen wurden, wurden bei den „Eu- thanasie“-Maßnahmen getötet. Es könnten auch 300 000 oder 350 000 gewesen sein. Genaue Zahlen sind nicht bekannt, da die „Euthanasie“
nur zeitweise zentral geplant und bürokratisch verwaltet wurde. Die Zentrale saß in der Berliner Tiergar- tenstraße 4 (daher Aktion T4). Der Großteil der „Euthanasie“-Morde geschah dezentral in einer Vielzahl von Heil- und Pflegeanstalten oder
„Kinderfachabteilungen“.
Hinter den abstrakten Zahlen ste- hen Menschen. Die Ausstellung der
DGPPN stellt Täter und Opfer vor.
Die einen mit ihren zynischen, wis- senschaftlich verbrämten Ansichten vom Wert des Menschen, die ande- ren, die angeblich „Lebensunwer- ten“, die ihr Schicksal fassungslos annahmen. Zu sehen sind große Stelltafeln mit vielen Fotos, Brie- fen, Dokumenten und verständli- chen Texten, zugeschnitten auf ein breites Publikum, dazu Videointer- views und Hörstationen.
Die Ausstellungsmacher um die Kuratorin Petra Lutz haben sich da- zu entschieden, bei den Biografien der Opfer und Täter die Namen zu nennen. Personalakten und Kran- kengeschichten wurden jedoch ano- nymisiert. Darf man Opfernamen überhaupt nennen? Die Frage, hin- ter der die Angst vor Einsprüchen von Angehörigen steckt, kam einmal mehr bei der Vorstellung der Ausstellungskonzeption beim DGPPN-Kongress 2013 zur Spra- che. Dr. Astrid Ley (Gedenkstätte Sachsenhausen) riet zu Mut und Gelassenheit. In der Gedenkstätte Brandenburg, einer früheren Tö- tungsanstalt, liege unbeanstandet ein Gedenkbuch mit 8 500 Namen aus. Sie verwies auf ein Gutachten des Berliner Datenschutzbeauftrag- ten, das die bloße Namensnennung für zulässig halte. Denn – so die Ar- gumentation, die auch vom Bun- desarchiv akzeptiert werde – das In- teresse der Opfer überwiege das der Angehörigen.
Parallel zu dem Ausstellungspro- jekt laufen seit dem 8. Juli 2013 die
Foto: Abbildung: Privatbesitz, Landesarchiv Baden-Württemberg, Familienarchiv Stellbrink
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24. Januar 2014 A 123 Arbeiten an einem Gedenkort in derTiergartenstraße 4 neben der Phil- harmonie in Berlin. Vorangegangen war ein Architektenwettbewerb.
Ein Entwurf von Ursula Wilms, Ni- kolaus Koliusis und Heinz W. Hall- mann, Aachen/Berlin, gewann. Das Team hatte 2010 schon das Doku- mentationszentrum der „Topogra- phie des Terrors“ entworfen. Der Gedenkort wird durch den Berliner Senat gebaut. Der Bund steuert 500 000 Euro bei. Denn nach Auf- fassung des Deutschen Bundesta- ges sind die Realisierung des Ge- denkortes und die Aufklärung über Tat und Täter nicht nur eine Berli- ner, sondern auch eine gesamtstaat- liche Aufgabe. In der Tat, denn in der Tiergartenstraße 4 arbeitete sei- nerzeit im Auftrag der „Kanzlei des Führers“ jene Dienststelle, die in ei- nem logistisch ausgeklügelten Sys- tem den Krankenmord reichsweit organisierte. Bei der „Aktion T4“
(der Begriff stammt aus der Nach- kriegszeit) wurden 1940 und 1941 mehr als 70 000 Patienten durch Gas umgebracht. Die T4-Organisa- toren nutzten nach dem Ende der Aktion ihre Erfahrungen und betä- tigten sich in den Vernichtungsla- gern im besetzten Polen – der Kran- kenmord, eine Vorstufe zum Juden- mord.
Die von den Initiatoren des Ge- denkortes – einem runden Tisch, an dem die divergierenden Interessen koordiniert wurden – favorisierte Lösung, nämlich den Gedenkort mit einem Informationszentrum zu verbinden, konnte nicht realisiert werden. Das dürfte nicht nur an den Kosten, sondern auch an dem städtebaulich heiklen Standort, gleich neben, ja in der Philharmo- nie, gelegen haben. 1963, als die Philharmonie auf leergeräumtem Feld entstand, hatte offenbar nie- mand an die einstige T4-Villa ge- dacht. Das Gedenken setzte erst 1987 ein. Die Berliner Geschichts- werkstatt mit dem Historiker Dr.
Götz Aly sorgte schließlich dafür, auch mit Unterstützung der Ärzte- kammer Berlin, dass am histori- schen Ort 1988 eine Gedenkplaket- te eingelassen wurde. Relativ un- auffällig, kein Musikfreund brauch- te sich gestört zu fühlen.
Unter den 28 Entwürfen des Architektenwettbewerbs für den T4-Gedenkort stellte immerhin ei- ner einen unmittelbaren Bezug zur Philharmonie und zudem zum Denkmal für die ermordeten Juden her: der Vorschlag von Horst Hohei- sel und Andreas Knitz, Kassel, beide bekannt durch das mobile Denkmal der „Grauen Busse“. Sie provozier- ten mit der Idee, „die Hierarchie der Holocaust-Denkmale in Berlin zu brechen“. Dazu sollten dem Ste- lenfeld des Holocaustdenkmals sechs Stelen entnommen und zur Tiergartenstraße transferiert werden, um damit den Grundriss der T4-Vil- la zu markieren. Eine Stele hätte im Foyer der Philharmonie gestanden.
„Die Musik an diesem Ort wäre da- mit auch ein wenig Würdigung und Erinnerung an die Menschen gewe- sen, deren Ermordung von diesem Ort ausging“ (Hoheisel). Die Leer- stelle im Stelenfeld hätte an die ers- ten Holocaust-Opfer, nämlich die der „Aktion T4“ erinnert.
Der nunmehr realisierte Gedenk- ort provoziert weniger. Er besteht aus drei langgestreckten Gebilden, die senkrecht zur Philharmonie ste- hen: einer blauen Glaswand, einem davor platzierten Pult, das die Infor- mationen aufnehmen soll, und einer Sitzbank für den nachdenklichen Besucher. Die Glaswand sei Sinn- bild für die Verbindung des Be- trachters zu den zwar physisch ge-
töteten, aber durch unser Nichtver- gessen und Erinnern doch weiter le- benden Menschen, begründen die Entwerfer. Die informierenden Tex- te entwickelt ein „Erkenntnistrans- fer-Projekt“, bei dem das Institut für Geschichte und Ethik der Medi- zin der TU München und die Stif- tung „Denkmal für die ermordeten Juden“ zusammenarbeiten. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanziert. Die spätere Betreuung soll die „Stiftung Denkmal“ über- nehmen, die sich neben dem Holo- caustdenkmal auch um die Denk- mäler für die verfolgten Homo - sexuellen sowie Sinti und Roma kümmert.
Ohne Initiatoren gibt es keine Initiative
An NS-„Euthanasie“ und Zwangs- sterilisation wird nicht nur in Berlin erinnert, sondern an vielen „Tator- ten“ – und das auch schon seit län- gerem und von vielen, die dabei be- ruflich wie ehrenamtlich engagiert sind. Alle zusammen tragen so zur
„Gedenkkultur“ bei. Das Projekt ei- nes zentralen Gedenkortes in Berlin hat Sigrid Falkenstein viel zu ver- danken. Sie entdeckte vor zehn Jah- ren den Namen ihrer Tante Anna auf einer Namensliste mit „Eutha- nasie“-Opfern. Seitdem setzt sie sich dafür ein, diese Opfer aus dem Vergessen hervorzuholen. Falken- stein unterhält eine sehr informative Website mit vielen weiterführenden Links zu dem Thema (www.sigrid- falkenstein.de). Die Aktivitäten der DGPPN sind mit dem Aachener Psychiater Prof. Dr. med. Dr. rer.
soc. Frank Schneider eng verbun- den. Zu nennen ist auch der seit 1983 aktive Arbeitskreis zur Erfor- schung der nationalsozialistischen
„Euthanasie“ und Zwangssterili - sation (www.ak-ns-euthanasie.de).
Zwei seiner Ansprechpartner, Priv.- Doz. Dr. med. Gerrit Hohendorf, München, und Dr. med. Maike Rot- zoll, Heidelberg, arbeiten derzeit an den Texten für den Gedenk ort T4.
Der Berliner Senatsverwaltung für Kultur schließlich gelang es, das Projekt an der Tiergartenstraße heil über alle bürokratischen Hürden zu
bringen.
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Norbert Jachertz Wo heute die Ber-
liner Philharmonie steht, war die Zentralstelle für die Organisation der
„Euthanasie“. Hier wird ein Gedenkort künftig an die zahl- losen Opfer erinnern.
Foto: AG Ursula Wilms, Nikolaus Koliusis und Heinz W. Hallmann