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Archiv "Medizinstudium: Sind Präparierübungen an der Leiche noch zeitgemäß?" (03.09.2012)

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A 1758 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 109

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Heft 35–36

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3. September 2012

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räparierübungen an der Lei- che gelten seit Jahrhunderten als unentbehrlich für die Ausbil- dung des Arztes. Sie sind unbestrit- ten der beste Weg, Leichenanato- mie zu studieren. Aber die Leichen- anatomie ist nicht identisch mit der Anatomie des Lebenden.

Früher wurden den anatomi- schen Instituten die Leichen Hinge- richteter überlassen. Diese stamm- ten meist von jungen, gesunden Menschen. Nach Abschaffung der Todesstrafe in vielen Ländern mussten sich die anatomischen In- stitute auf „Körperspenden“ um- stellen. Die Vermächtnisgeber be- stimmen zu Lebzeiten, dass ihr Kör- per nach dem Tod einem Institut für Lehre und Forschung überge- ben wird. Diese Körper sind zum Zeitpunkt, in dem sie in die Ana - tomie kommen, in der Regel weit von „jung und gesund“ entfernt.

Sie sind oft durch lange Krankheit

gezeichnet. Es überwiegen extreme Körperformen (Kachexie oder Fett- sucht). Die Knochen sind häufig osteoporotisch verformt und mit ar- throtischen Auswüchsen versehen.

Die Muskulatur ist meist redu- ziert und wird durch die vor dem Tod noch ausführbaren Aktivitäten

bestimmt. Innere Organe wurden durch Krankheit oder Operationen verändert oder fehlen (vor allem Gebärmutter und Prostata). Häufig werden die Studierenden durch nicht im Atlas abgebildete „Organe“ (Me - tastasen bösartiger Geschwülste) verwirrt.

Anatomie des Lebenden sollte Lehrziel sein

Aber auch unabhängig von Alter und Vorgeschichte stimmen Leichen- und Lebendenanatomie nicht über- ein: Brust- und Bauchorgane geraten bei der liegenden Leiche in extreme Ausatmungsstellung. Deshalb ist es

schwierig, axiale Computertomo- gramme (CT) und Magnetresonanz- tomogramme (MRT) des Rumpfes mit Transversalschnittbildern von Leichen zu vergleichen. Die Arte- rien der Leiche sind nach der Toten- starre leer, dafür die Venen maximal gefüllt. Wer einen zentralen Zugang legen und sich dabei an einem Atlasbild orientieren will, wird bald die Diskrepanz von Leichenbild und lebender Vene merken. Der beim Lebenden ovale Luftröhrenquer- schnitt wird bei der Leiche huf - eisenförmig zusammengepresst. Ge - nerell drücken sich Organe in Nach- barorgane ein, weil der fehlende Blutdruck dies nicht verhindert.

Das in Präparierübungen häufig gerühmte Training im Umgang mit Skalpell und Pinzette übersieht die grundlegenden Unterschie de zwi- schen konserviertem Leichengewe- be und lebendem Gewebe. Das bei der Leiche viel Zeit erfordern- de „Muskelputzen“ (Entfernen von Faszien von der Muskeloberfläche), um ein „schönes“ Präparat zu schaf- fen, wäre beim lebenden Patienten geradezu ein Kunstfehler.

Die bildgebenden Verfahren er- möglichen heute den Blick in die Tiefe des menschlichen Körpers, ohne ihn aufzuschneiden. In den Industrienationen stehen Ultraschall, Röntgen, CT, MRT, Angiographie, Szintigraphie und Endoskopie flä- chendeckend zur Verfügung. Der Anatom ist zwar etymologisch und historisch ein „Aufschneider“, aber er sollte sich der Methoden der mo- dernen Medizin bedienen. Es ist unumgänglich, die bildgebenden Ver fahren in den vorklinischen Un- terricht einzubeziehen.

Wenn die Anatomie die Lehre vom Bau des (gesunden) Körpers

Foto: dpa

MEDIZINSTUDIUM

Sind Präparierübungen an der Leiche noch zeitgemäß?

Der Kursus der makroskopischen Anatomie ist reformbedürftig.

Die Fokussierung auf die Leichenanatomie muss überdacht werden.

Mehr ärztlich relevante Fähigkeiten sollten künftig Teil der Lehre sein.

Für Medizinstu- dierende sind häufig Leichen die ersten „Patienten“, zu denen sie Kontakt haben.

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Deutsches Ärzteblatt

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3. September 2012 A 1759 ist, sollten die klassischen Verfah-

ren der körperlichen Untersuchung zu ihren Lehraufgaben gehören:

Inspektion, Palpation, Auskultation, Perkussion und Funktionsprüfung des gesunden Menschen sollten schon in der Vorklinik geübt wer- den. Überhaupt wäre es wichtiger, im Anatomieunterricht grundlegen- de Fähigkeiten zu erwerben als hochspezialisiertes Fachwissen, das wenige Wochen nach dem Examen wieder vergessen ist. So sollten die Studierenden am Ende des Anato- mieunterrichts

alle tastbaren Knochenteile, Muskeln, Sehnen, Arterienpulse, Lymphknoten und Nerven tasten,

die Beweglichkeit fast aller Gelenke messen,

Funktion, Kraft und Reflexe von Skelettmuskeln prüfen,

Mundhöhle und Körperober- fläche inspizieren und Befunde der peripheren und segmentalen Inner- vation zuordnen,

Größe und Beschaffenheit in- nerer Organe durch Palpation, Aus- kultation und Perkussion ermitteln und die Projektion der Organgren- zen auf die Haut einzeichnen,

sich auf Röntgenbildern, CT und MRT orientieren können.

Sie sollten die körperliche Unter - suchung des Gesunden so weit beherrschen, dass sie im späteren klinischen Untersuchungskurs das Pathologische erkennen können.

Das Studium eines Skeletts er- scheint unumgänglich, um Schnitt- serien in den bildgebenden Ver - fahren, Höhenbeziehungen sowie Ursprungs- und Ansatzstellen von Muskeln zu verstehen. Die De- monstration von Leichenpräparaten ergänzt die Anschauung, zum Bei- spiel der Gekröseverhältnisse im Bauchraum oder des Verlaufs und der Verzweigung peripherer Ner- ven. Dazu ist es nicht nötig, alle Studierenden durch Präparierübun- gen an der Leiche zu zwängen. Es gibt sicher genügend Freiwillige, die unter in tensiver Betreuung Prä- parate für ihre Konsemester (zum Beispiel im Rahmen des anatomi- schen Seminars) erstellen.

Der intensive Umgang mit Lei- chen (als ersten „Patienten“) in den vorklinischen Semestern wirkt sich

bei manchen Studierenden ungüns- tig auf ihre Einstellung zum spä - teren lebenden Patienten aus: Sie gehen mit diesem ebenso sorglos um wie mit der Leiche. Übungen am Lebenden mit gegenseitiger Untersuchung, abwechselnd als Untersucher und Untersuchter, hin- gegen lassen am eigenen Körper die Probleme des Untersuchtwerdens erfahren und Ängste und Verhalten des Patienten besser verstehen.

Präparierübungen einsetzen, wo sie sinnvoll sind

In jedem Studierendenjahrgang gibt es einige, die das Medizinstudium abbrechen, weil sie die Arbeit an der Leiche psychisch nicht bewälti- gen. Dies ist angesichts des jetzigen Ärztemangels schade, zumal es ge- nügend medizinische Fachgebiete gibt, in denen Kenntnisse der Lei- chenanatomie nicht erforderlich sind. Das Nichtbestehen von Präpa- rierübungen an der Leiche ist als Ausschlusskriterium für das weitere Studium nicht geeignet.

Präparierübungen an der Leiche sollte man jedoch nicht völlig ab- schaffen, sondern aus dem Medi- zinstudium in die Weiterbildung der operativen Fächer verlegen. Die Gefäß- und Nervenverzweigungen einiger Regionen, die man am Pa- tienten operiert, in aller Ruhe an der Leiche darzustellen, würde das tie- fere Verständnis des Operations - situs fördern. Es würde auch der Pietät gegenüber den Körperspen- dern besser entsprechen: Von Ärz- ten in der Weiterbildung kann man ein reiferes Verhalten erwarten als von Studienanfängern.

Die anatomischen Institute ha- ben in der Regel keine primär für Übungen am Lebenden eingerich - teten Räume. Eigene Erfahrungen zeigen aber, dass man Seminarräu- me gut als provisorische Kursräume nutzen kann. Untersuchungsgeräte (etwa Stethoskope, Reflexhämmer) kann man aus dem Leichen etat be- zahlen, wenn man weniger Leichen und damit weniger Mittel für Trans- port, Konservierung, Lagerung und Bestattung von Leichen benötigt.

Für das Studium bildgebender Ver- fahren benötigt man einen Seminar- raum mit Bildschirmarbeitsplätzen,

der jedoch fächerübergreifend ge- nutzt werden kann und für eine mo- derne medizinische Fakultät unab- dingbar ist.

Zu wenige Anatomen haben als Ärzte gearbeitet. Die Weiterbil- dungsordnungen fordern vom Ana- tomen keine klinische Tätigkeit:

Man kann „Facharzt“ werden, ohne je Patienten behandelt zu haben.

Hinzu kommt: Die Anatomie ist kein attraktives Weiterbildungsfach.

Es gibt nur wenige und durch- weg befristete Ausbildungsplätze an Universitätsinstituten. Die Stel- len können oft nicht mit Medizinern besetzt werden. Immer mehr Plan- stellen der Anatomie werden von Biologen eingenommen, die meist für Forschungsprojekte auf Dritt- mittelstellen gekommen sind und bei Freiwerden einer Planstelle übernommen wurden.

Zusammenarbeit mit Klinik notwendig

Eine Modernisierung der Ausbil- dung in makroskopischer Anatomie kann nur in enger Kooperation mit Kliniken erfolgen. So wäre an einen befristeten Stellentausch zu den- ken: Ein medizinischer Mitarbeiter der Anatomie geht für ein Jahr in ei- ne Klinik, um dort in vollem Um- fang auf Station zu arbeiten. Im Gegenzug wechselt für denselben Zeitraum ein Arzt der Klinik in die Anatomie, um dort seine Routine in der ärztlichen Untersuchung in den Kursus der makroskopischen Ana- tomie einzubringen und vor allem die nicht medizinischen Mitarbeiter auszubilden. Die übrige Zeit könnte er der Wissenschaft widmen. Es gä- be sicherlich genügend Kliniker, die zum Beispiel ihre Habilitations- schrift abschließen wollen.

Die wenigen dem Kursus der makroskopischen Anatomie zuge- billigten Unterrichtsstunden sind zu wertvoll, als dass man sie aus- schließlich mit Präparierübungen an der Leiche vertun sollte. Man könnte in dieser Zeit viel mehr ärzt- lich relevante Fähigkeiten am le- benden Menschen vermitteln.

Prof. Dr. med. Dr. phil. Herbert Lippert, ehemals Direktor des Instituts für Funktionelle und Angewandte Anatomie der Medizinischen Hochschule Hannover

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