• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Neue Bundesländer: „Es gibt viele Verlierer“" (05.01.2004)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Neue Bundesländer: „Es gibt viele Verlierer“" (05.01.2004)"

Copied!
2
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

D

unkel ist es im Hausflur, alles wirkt alt und abgenutzt. Es zieht.

Die Wohnung, die wir betreten, unsanierter Altbau, steht voller unaus- gepackter Kartons. Am unteren Ende der Fensterrahmen klemmen zwei rote Tücher, die verhindern sollen, dass noch mehr kalte Luft in die vollgestellten Räume des Altbaus eindringt. Es gibt keine Heizung, auch Toilette und Du- sche suchen wir vergebens. Mieter die- ser etwa vierzig Quadratmeter großen Wohnung ist Uli S.*Er ist 49 Jahre alt, arbeitslos und chronisch krank. Seine Frau und die drei Kinder haben ihn kurz vor der Wende verlassen. Nach ei- ner Zwangsräumung seiner alten Woh- nung vor vier Jahren kam er in eine

„Übergangswohnung“, wie es im Fach- jargon heißt. Im Jogginganzug sitzt Reichhardt auf einer Siebzigerjahre- couch, blickt deprimiert in die Runde.

„Ich will hier nächstes Jahr raus“, sagt er beinahe trotzig, doch seine Worte klingen hohl.

Uli S. ist eine der Personen, die im Rahmen des Projekts „Wohnsozialisie- rungshilfe“ der Stadt Halle/Saale, kurz

„Wosohi“ genannt, von Mitarbeitern örtlicher Wohlfahrtsverbände betreut werden. Wosohi ist nur eines der vielen Angebote der Stadt, die „Menschen am Rande der Existenz“ unterstützen sollen – und auch eines der Projekte, die Cari- tas und Diakonie einer Journalisten- gruppe zeigen, um sie für „prekäres Le- ben“ im Raum Halle/Leipzig zu sensibi- lisieren. Seit 1994 kümmert sich die Wosohi um Menschen, die entweder be- reits wohnungslos geworden oder min- destens zwei Monatsmieten im Rück- stand sind. Das Hilfsangebot, das die Stadt Halle finanziert, beruht auf § 72 des Bundessozialhilfegesetzes – Hilfe

zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten. Fallen Personen wie Uli S. dem zuständigen Fachbereich „So- ziales, Ressort Wohnhilfen“ auf, werden sie umgehend Mitarbeitern der Wosohi zugewiesen. Diese helfen den Betroffe- nen beim Umgang mit ihren Schulden, beraten sie in Behördenfragen oder ge- ben Unterstützung bei der Wohnungssu- che. Ein- bis zweimal wöchentlich kom- men sie auch zu ihnen nach Hause.

Zunehmende Obdachlosigkeit

Momentan betreut ein Mitarbeiter etwa vierzehn betroffene Familien oder Ein- zelpersonen. Sollten im nächsten Jahr die geplanten Sozialreformen in Kraft treten, werde sich das ändern, befürch- tet Sylvia Kastler von der Evangelischen Stadtmission, einem der Verbände, die das Projekt leiten. „Einschränkungen sind absehbar. Schon jetzt ist die Arbeit kaum zu bewältigen.“ Hauptgrund für

die zunehmende Obdachlosigkeit sei die Arbeitslosigkeit, so Kastler. Die füh- re dann meist zu Schulden, die Betroffe- nen litten oft an psychischen Problemen und kämen aus dem Kreislauf nicht mehr heraus. Wenn die Betreuung dem Ende zugehe, also nach etwa eineinhalb Jahren, hätten es in der Regel 50 Prozent geschafft, wieder auf die Beine zu kom- men – immerhin.

Bei Uli S. scheint die Chance auf ei- nen Neuanfang beinahe utopisch. Seit Jahren plagen ihn Knieprobleme, neu- erdings will auch die Hüfte nicht mehr so recht. Außerdem, erzählt er, bekom- me er immer Panikattacken, wenn er das Haus verlasse, dann schwitze er und fühle sich eingeengt. Das Arbeitsamt halte ihn trotz alldem noch immer für arbeitsfähig, die Ärzte kümmerten sich einfach nicht genug. Wer Uli S.

länger als fünf Minuten zuhört, weiß, dass dieser Mann außer seiner Beschäf- tigung mit Krankheit und seiner Angst vor angeblichen Verschwörungen ge- gen ihn nichts mehr im Leben hat. Ihm bleiben allenfalls die regelmäßigen Be- suche der Wosohi-Mitarbeiterin Petra Neukirch-Dietl. Dabei war er einmal, wie er sagt, ein großer Sportler zu DDR-Zeiten, hatte Familie und eine große Wohnung. Heute hat er so gut wie nichts mehr. „Wer arm ist, der stirbt auch“, sagt Uli S. zornig, sein Blick weicht uns aus. Bevor wir gehen, fragen wir ihn nach einem Wunsch: „Würde gern einmal über den Weihnachtsmarkt T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 1–25. Januar 2004 AA21

Neue Bundesländer

„Es gibt viele Verlierer“

Die Unterstützung durch Wohlfahrtsverbände ist für viele Ostdeutsche „am Rande der Existenz“ das Einzige, was sie haben. Eine Fahrt nach Halle/Saale verdeutlichte, warum.

In der Region Halle wurden 30 000 Arbeitsplätze abgebaut.

Fotos:KNA

*Name von der Redaktion geändert

(2)

bummeln. Trau’ mich aber nicht, wegen der Angst.“

In Sachsen-Anhalt ist das Schicksal von Uli S. kein Einzelfall. „Ein Viertel der Hallenser sind Klienten der Woh- fahrtsverbände“, so Winfried Weber, Geschäftsführer des Caritasverbandes für die Stadt Halle. „Verlierer gibt es viele.“ Das ist nicht überraschend, wirft man einen Blick auf die Zahl der Ar- beitslosen. In der 243 000-Einwohner- Stadt liegt die Arbeitslosenquote der- zeit bei 18,9 Prozent, in manchen Ge- bieten sind es sogar weit mehr als 20 Prozent. 30 000 Arbeitsplätze wurden in der Region Halle abgebaut, Tariflöh- ne werden längst nicht mehr bezahlt.

Viele Arbeitnehmer seien aus der Region abgewandert, vor allem leistungsstarke Bürger. 18 Prozent der Haus- halte sind einkommens- schwach. Das bedeutet, jedes sechste Kind kommt aus Fa- milien ohne viel Geld. Die Zahl der Sozialhilfeempfän- ger beträgt 7,4 Prozent, Ten- denz steigend. „Wir haben Angst, unsere Einrichtungen könnten bei der wachsenden Armut nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sein“, so Weber. Und das bei sinken- den Haushaltsmitteln der Kommunen.

Auf der Silberhöhe, einem Stadtteil südlich des Zen-

trums gelegen mit knapp 18 000 Ein- wohnern, beziehen zurzeit zwölf Pro- zent der Einwohner Sozialhilfe. Etwa ein Drittel ist arbeitslos. Viele der zahl- reichen Plattenbauten sind unbewohnt.

Inmitten dieses Gebietes befindet sich das Caritas-Sozialzentrum „Silberhöhe“

– ein kleines, unauffälliges, quadrati- sches Gebäude. Hier dürfen Menschen mit einem „Halle-Pass“ – einem Aus- weis für Sozialhilfempfänger – in einem

„Carisatt-Laden“ Waren zu geringeren Preisen kaufen, in der „Kleiderstube“

nach warmen Pullovern oder Kinderho- sen suchen oder sich aufwärmen – auch wenn es in dem Gebäude im Vergleich zu „richtigen“ Einkaufsläden nur 16 Grad warm ist. Neben Carisatt-Laden und Kleiderstube gibt es noch einen sozialen Beratungsdienst im Sozial- zentrum, der bei Wohn-, Geld- und

familiären Problemen Hilfe anbietet.

„Wenn man hier arbeitet, weiß man, dass es einem selbst noch gut geht“, er- zählt Gabriele Jäger. Als eine von drei fest angestellten Mitarbeiterinnen ar- beitet die gelernte Finanzkauffrau seit drei Jahren auf der Silberhöhe. Sie kennt die Sorgen und Nöte der Men- schen, die hierher kommen, mittlerwei- le sehr gut. „Wir haben die ganze Ar- mutspalette hier“, sagt Jäger, meist sei die Arbeitslosigkeit, ausgelöst durch die Wiedervereinigung, der Wendepunkt im Leben der Menschen gewesen. Viele seien durch die soziale Armut psychisch krank geworden, andere fänden durch Krankheit keine Arbeit. Außerdem sei

nicht jeder „ein Kämpfertyp“. Susen Veit, 19 Jahre alt, ist ein gutes Beispiel dafür. Verschüchtert sitzt sie während des Gesprächs neben ihrer Mutter, trotz dickem Wollpullover scheint sie noch immer zu frieren. 170 Euro hat Susen im Monat zum Leben, einen kleinen Teil davon, erzählt die Mutter, versuche die Tochter sogar immer noch zu sparen.

Trotz einer Ausbildung zur Hauswirt- schaftlerin blieb sie ohne Arbeit.Auf ih- re Bewerbungen hin bekam sie bisher nur Absagen. Als wäre das nicht genug, ist bei Susen auch noch mit 13 Jahren ein chronischer Wirbelsäulenschaden diagnostiziert worden. „Hätten die das früher erkannt, hätte man noch was ma- chen können“, erzählt sie. Heute muss sie aufgrund der Schmerzen regelmäßig Medikamente nehmen. Medikamente, die sie von ihrem spärlichen Einkom-

men teuer bezahlen muss. An Praxisge- bühr und erhöhte Zuzahlungen im nächsten Jahr mag sie noch gar nicht denken.

Ähnlich ergeht es der achtzehnjähri- gen Susann Walther. Auch sie ist ohne Arbeit, hat nur knapp 200 Euro monat- lich zu Verfügung und muss davon Me- dikamente bezahlen. Susann ist nämlich Epileptikerin. „Ich bin auf die Medika- mente angewiesen“, erzählt sie, „ohne würde ich nur rumzappeln.“ Schwarz gekleidet sitzt sie am Tisch, die Au- genbrauen abrasiert und mit einem dunklen Strich übermalt. Ihre Kindheit sei weniger schön gewesen.Als Kind ar- mer Eltern, dazu noch krank, sei sie ständig gehänselt worden.

„Aber“, erzählt Susann, „ich habe durch meine Eltern ge- lernt, mich zu verteidigen.

Heute kommt man nur mit Schlagen durch.“ Ihre Schwie- germutter sitzt zwei Stühle weiter, sagt nichts, außer, dass vor der Wende alles besser gewesen sei.

Am Abend scheitert der Versuch der Gastgeber und Vertreter aus der Politik,Aus- wege aus dem „Sozialdilem- ma“ zu finden. Es fallen zwar die üblichen Bekundungen der Politiker, man müsse mehr über die Bedeutung von Solidarität nachdenken und Eigenverantwortung grö- ßer schreiben. Gerry Kley, Sozialmini- ster von Sachsen-Anhalt, zum Beispiel schlägt vor, den Niedriglohnsektor zu öffnen und dadurch die Rahmenbedin- gungen der Arbeit flexibler zu gestal- ten. Dagmar Szabados, Sozialdezernen- tin der Stadt Halle, will mehr Geld in die Prävention und Beratung von Men- schen mit sozialen Problemen stecken, weil man nun einmal Prioritäten setzen müsse. Am Ende scheinen sich aber wieder einmal alle gegenseitig den Schwarzen Peter in die Schuhe schieben zu wollen – was der richtige Weg ist, kann keiner genau sagen. Eines scheint nach dem zweitägigen Einblick in das Leben von „Menschen am Rande des Existenzminimums“ jedoch sicher: Für sie ist die Arbeit der sozialen Einrich- tungen mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Martina Merten T H E M E N D E R Z E I T

A

A22 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 1–25. Januar 2004

Im Caritas-Sozialzentrum „Silberhöhe“ in Halle dürfen Sozialhilfe- empfänger Waren zu geringeren Preisen kaufen.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Für den Erhalt einer lebendigen Bürgergesellschaft ist jedoch notwendig, nicht nur über ältere Menschen zu reden, sondern sie selbst zu Wort kommen zu lassen. Im Dialog der

Nach der Wende sagte mir ei- ne Patientin mit metastasie- rendem Mammakarzinom (Radiologische Universitäts- klinik Jena), dass sie Angst hätte – Angst, wieder gesund zu werden,

Abendkühn im Auditorium 25 gehen müssen oder wollen, die also keine Zeit mehr haben, die Darstellung hier zu lesen — und denen vielleicht auch das vorbe- reitete handout

Wände: Feinsteinzeugplatten / Abrieb weiss Apparate: WC, Waschtisch, Handtuchhalter, Spiegelschrank,

Die Verbände der Lei- stungserbringer unterstützen die Forderung des Sachverständi- genrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, verstärkt medizinische

Die Aussage von Papst Benedikt „„Es gibt so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt“ scheint also noch immer ein Auftrag an unsere Kir- che zu sein, den es immer mehr zu

Allerdings gibt es einen neuen Service, der sich vor allem an kleine Unternehmen wie Handwerksbetriebe und Ärzte richtet, denen sowohl die Zeit als auch die personellen

Über ein Drittel von ihnen (37%) verzichtet auf eine medikamentöse Therapie, obwohl die Gicht qualvolle.. Gelenkschmerzen verursachen und langfristig zu ernsthaften