WHO: Multiresistente Tuberkulose
Epidemie ist nicht ausgeschlossen
ine Geschäftsreise nach Lettland oder Rußland, ein Besuch der Altstadt Delhis in Indien oder ein Kurztrip in die Dominikanische Republik können zu einer Infektion mit Tuberkelbazillen führen, die auf die herkömmlichen Medikamente nicht mehr anspre- chen. Die vier Länder gehören nach den Ergebnissen der Studie „Anti-Tuberculosis Drug Resistance in the World“
der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu den Regio- nen mit einer stark zunehmenden Verbreitung der multi- resistenten Tuberkulose. Die WHO hat zusammen mit den Centers for Disease Control and Prevention der USA und der International Union Against Tuberculosis and Lung Disease in 35 Ländern insgesamt 50 000 Tuberkulo- se-Fälle ausgewertet. In allen Ländern (bis auf Kenia) wurden Resistenzen gefunden. Die Prävalenz war jedoch unterschiedlich.
m stärksten betroffen in Europa ist derzeit Lett- land. Hier sind 22 Prozent der Stämme gegen zwei oder mehr Medikamente resistent. In Ruß- land sprechen sieben Prozent, in der Dominikanischen Republik neun Prozent und in Delhi sogar dreizehn Pro- zent der Patienten nicht mehr auf die traditionellen Tu- berkulostatika Isoniazid und Rifampicin an. Gewiß: Das Risiko für den einzelnen Geschäftsreisenden und Touri- sten ist derzeit denkbar gering. (Andere Risiken sind größer: An einer Londoner Klinik konnte jüngst jede zweite Syphilisinfektion auf eine Osteuropareise zurück- verfolgt werden.) In den meisten Ländern dürfte die Zahl der Patienten mit multiresistenter Tuberkulose nicht höher als 1 000 sein. Man schätzt, daß ein Patient pro Jahr nicht mehr als zehn bis 20 Patienten ansteckt. Dennoch ist die WHO ernsthaft besorgt.
eltweite Epidemien mit multiresistenten Erre- gern seien nicht mehr auszuschließen. In er- ster Linie richtet sich der Appell an die Regie- rungen, die Behandlung der Tuberkulose zu verbessern.
Die meisten Fälle von multiresistenter Tuberkulose sind Folge einer durch den Patienten vorzeitig abgebrochenen Behandlung. Früher wurden die Patienten deshalb sta- tionär in Tuberkulosekliniken behandelt. Dies gilt heute nicht mehr als zeitgemäß. Die WHO fordert seit einiger Zeit aber die Umsetzung von DOTS, der „directly ob- served treatment strategy“. Sie hat in mehreren Ländern bereits zu einem Rückgang der Resistenzen geführt – zum Beispiel in Algerien, Chile, Korea, Tansania und in den USA (New York). Auch die jetzige Untersuchung zeigt: In den Ländern, in denen eine DOTS betrieben wird, ist die Häufigkeit einer multiresistenten Tuberkulo- se gering. Weltweit wird aber erst jeder zehnte Patient unter Aufsicht behandelt. Rüdiger Meyer A-3304
S P E K T R U M AKUT
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(4) Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 49, 5. Dezember 1997