Klinik für Kinder- und Jugendmedizin
Forschung für und mit hoch belasteten Familien
Ute Thyen
Tagung „Stellt die frühe Kindheit Weichen?“
25. – 26. 9. 2015, Universität Heidelberg
Wissenschaft und Forschung im Dienst der Menschen
WMA Deklaration von Helsinki, Artikel 6, 2013
„Vorrangiges Ziel der medizinischen Forschung am Menschen ist es, die Ursachen, die Entwicklung und die Auswirkungen von Krankheiten zu verstehen und die präventiven, diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen (Methoden, Verfahren und Behandlungen) zu verbessern.
Selbst die besten gängigen Maßnahmen müssen fortwährend durch Forschung auf ihre
• Sicherheit,
• Effektivität,
• Effizienz,
• Verfügbarkeit und
• Qualität geprüft werden.“
Entwicklungs- störungen
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin
Der Nachweis des Nutzens von Interventionen
Evaluation: systematische wissenschaftliche Erfahrungsaufbereitung mit dem Ziel der Bewertung von Handlungsalternativen und daraus abgeleiteten
Veränderungen („comparative effectiveness research“)
! Konzeptqualität: Nutzung wissenschaftlicher Evidenz für die
zielgruppengerechte Wirksamkeit des gewählten Interventionsansatzes, Bedarfs-/Bedürfnisanalyse, kontextuelle Anpassung der Intervention, Vernetzung der Akteure, etc.
! Qualität der gegebenen Rahmenbedingungen (strukturelle Evaluation)
! Qualität der Planung und Durchführung einer Intervention (formative, Prozess-Evaluation, ggf. als Teil des QM),
! Die Bewertung der Wirksamkeit (outcome, output, impact) einer Intervention (summative, Ergebnis- oder Wirkungs-Evaluation)
! Implementation/Transfer in die Praxis
Nach:Wolfgang Haß, BZgA,
Evaluation von Strukturen
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin
Throughput
- Versorgungsstrukturen - Versorgungsprozesse
Input Output
Ressourcen Versorgungsleistung
Personal, Geld, Gesetze,
Einstellungen, Wissen
Prozesse in den Frühe Hilfen Angeboten
Veränderung von kommunale Settings Interaktion mit
Zielgruppe
Zahl der
Beratungs- u.a.
leistungen
Zufriedenheit der Klienten
Preis der Leistung
Prozessqualität
- 5 -
Pfaff, 2003
Studientypen zur summativen Evaluation individueller Endpunkte
Cochrane Collaboration
Meta- Meta- studien Kontroll- experimente
Quasi-Experimentalstudien
nicht-experimentelle Kohortenstudien Einzelfallstudien
Praxiswissen, Erfahrung, qualitative Studien
Studiendesigns in den Frühen
Hilfen
z.B. Lebensqualität, Gewinn an
Gesundheit,
Verbesserung der Bildung
Autonomie
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Bindung, Liebe, Verständnis
Bildung
Selbstachtung &
-verwirklichung
Bedeutsame Kontextfaktoren Erfahrungen, Lernen
Selbständigkeit
Ressourcen der Gemeinschaft Soziale Integration Berufstätigkeit, Einkommen
Kulturelle Ressourcen Wohnraum
Gesunde Umwelt
Grundversorgung: Unterkunft, Wärme, Kleidung, Fürsorge, Schutz vor Gefahren
Beziehungsfähigkeit, Stabilität, Kontinuität, Anpassungsfähigkeit Zuwendung, Einfühlung,
Verständnis, Achtung
Anregung, Anleitung & Erziehung Gedeihen & Wohlbefinden: Nahrung,
Schlaf, Gesundheit
Soziale Teilhabe
Haltende familiäre & soziale Beziehungen
Freunde, Verwandte
Zugang zum Gemeinwesen &
Bildungsangeboten
Endpunkte und Einflussfaktoren
Pränatale Risiken
Loomans EM et al, 2012
European Journal of Public Health, Vol. 23, No. 3, 485–491
Psychosozialer Stress während der Schwangerschaft führt zu Risiken für die Geburt und das Kind. Ergebnisse einer großen multi-ethnischen
bevölkerungsbezogenen Studie aus den Niederlanden (n= 7740 Frauen, 15%
in Cluster 2, 12% in Cluster 3)
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin
Evaluation von komplexen Interventionen
Viele Interventionen in der Prävention sind komplex z.B. hinsichtlich*
• Anzahl und Wechselwirkungen mehrerer Komponenten
• sozialer Strategien (z. B. personale/mediale Ansprache)
• erwünschter Verhaltensweisen in und Anforderungen an Zielgruppe
• Kontext-/Setting-Bezüge
• langer, kaum kontrollierbare Wirkungsketten
• verschiedener Zielgruppen und/oder Organisationsebenen, mitunter
• unspezifische Adressaten
• zieloffene Verläufe, Emergenzen, „lernendes System“
• Anzahl und Variabilität der Outputs/Outcomes, ggf.übergeordneter Ziele
• Komplexität von Interventionen
• zentraler Wirkfaktor (“active ingredient”) häufig schwierig zu bestimmen!
Wolfgang Haß, BZgA, * in Anlehnung an Craig et al., 2008
Ethische Vorgaben
WMA Deklaration von Helsinki, Artikel 20, 2013
„Bevölkerungsgruppen, die in der medizinischen Forschung unterrepräsentiert sind, sollten einen angemessenen Zugang zur Teilnahme an der Forschung erhalten“.
… „Medizinische Forschung an einer benachteiligten oder vulnerablen Bevölkerungsgruppe oder Gemeinschaft ist nur gerechtfertigt, wenn das Forschungsvorhaben auf die
gesundheitlichen Bedürfnisse und Prioritäten dieser
Bevölkerungsgruppe oder Gemeinschaft reagiert und es eine begründete Wahrscheinlichkeit gibt, dass diese
Bevölkerungsgruppe oder Gemeinschaft aus den Forschungsergebnissen Nutzen ziehen wird.“
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin
Partizipative Forschung
Zielsetzung
Priorisierung von
Forschungsfragen und –
förderung nach Beteiligung der Öffentlichkeit und Zielgruppen durch Konsultationen,
Zusammenarbeit und Beteiligung
Formate der Beteiligung
Bird et al, 2013, ADC, Education & Practice,
• Qualitative Interviews
• Fokusgruppengespräche
• Zuhören bei informellen Treffen
• Bürgerkonferenzen
• Partizipative
Ideenwettbewerbe
• Blogs im Internet
Planung von Interventionen und Evaluation
Nach Faller, 2011
Gesundheitskompetenz Wissen, Motivation
Einstellungen, Fertigkeiten
Selbstmanagement Partizipative
Entscheidungsfindung Partizipative Zielsetzung und Methodenfindung gemeinsam mit Zielgruppe
Empowerment
Durch den Erwerb von Wissen, Fertigkeiten und psychosozialen
Kompetenzen im Rahmen einer Intervention werden Klienten in die Lage versetzt, informierte Entscheidungen bezüglich ihrer Lebensführung zu treffen.
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin
Komponenten von Empowerment
Nach Bravo, 2015 und Zimmermann, 1995, 2000 Bestandteile einer
Intervention, die auf Empowerment zielt
Intrapersonale
Komponente: Gefühle und Wahrnehmung
Selbstwirksam- keit, Selbst- vertrauen
Kontroll-
überzeugung
Interaktionale
Komponente: Wissen und Fähigkeiten
Entscheidungs- kompetenzen, Wahlmöglichkeit
Verhaltensbezogene Komponente:
Handlungen
Selbstmanage- ment, Krisen- bewältigung, Anpassung
Projekt GuStaF:
Familien mit vermutetem Hilfebedarf in
der
Geburtsklinik:
vertiefendes Gespräch Einwilligung in
Katamnese Studie n=14
Prozesse 1 Unmittelbare Hilfen auf in der
Geburtshilfe
Prozesse 2 Erfahrung nach Verlegung in die
Kinderklinik
Interview N=7 Mütter
2 Väter
Frühe Hilfen Angebote
Welche?
Wann?
Wie hilfreich?
Entlassung
Katamnese Studie GuStaF
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Früh- geburt Krankheit/
Behinderung des Kindes
Mangelhafte Vorbereitung
auf die Geburt
Psychische Erkrankung
Problemlagen
Persönliche Ängste vor
der Zukunft Soziale Belastungen
Ich hab‘ auch um meine Krankheitsgeschichte keinen
Hehl gemacht. Ich hatte zu dem Zeitpunkt noch als
Diagnose Borderline.
„…in drei Tagen müssen wir Ihre Tochter holen, ..sie hätte es dann nicht
überlebt eben“
„Generell, ich war ja völlig unvorbereitet, hab wenig Unterstützung, keine Mutter mehr, also auch kein
Ansprechpartner direkt. Das war mir schon alles bewusst, dass das schwierig werden wird.“
„…also hab ich’s gemerkt, dass irgendwas schief ist ..und für mich
irgendwie Sorge tragen, dass ich nicht wieder das erlebe, was ich da
[bei der ersten SS] erlebt habe…“
.…ich stand unter Schock.
Ich stand unter Schock.“
In aller Regel Kombination verschiedener situativ wechselnder Belastungen
Infomaterial
Gefühl von Stigmatisierung
Kommunikation
Bevor- mundung Unpassende
Beratung Unfreiwillige Zuweisung
„…ob ich in ein betreutes Wohnen möchte. Nein, natürlich nicht. Ich hab schon meine Wohnung, ich
brauch keine Hilfe. Weil es ist ja meine Entscheidung
und ich sag nein.“
„…ne andere Frau hat auch ein Kind bekommen. Und nur weil die ein bisschen älter war
als ich, die hat sie gleich ganz anders behandelt… Noch ein
Kind was ein Kind bekommt sag ich mal so. So kam mir
das vor. ..“
„Und die ist dann zu mir gekommen und hat sozusagen als Voraussetzung gesetzt,[für die Entlassung], dass ich mich da dann halt auch melde.
Bei diesen Frühen Hilfen
„..er dann gesagt hat, naja, ich solle vielleicht gucken, dass meine Erwartungen nicht so groß sind,
dann kann ich auch nicht enttäuscht werden. Und da hab ich
gesagt, ok, dann bist du nicht der richtige für mein Problem..“
Dann nimmt man [Prospekte] einfach an und sagt Dankeschön. Ich werd
sie eh nicht gebrauchen und hab sie in Müll
geschmissen.
Fehlgeschlagener Gesprächseinstieg
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin
Gelungene Kommunikation: Interpersonales Empowerment
„Da hab ich einfach erzählt was mich so, wo meine Ängste liegen, was ich so brauche, wo ich gedacht hab, das ist das Ziel, ne normale Geburt, aber auch nicht krampfhaft und über medizinische Möglichkeiten hinaus. Also einfach es zu erzählen und zu
sagen, dass man nicht alleine auf der Welt damit ist. Ich würd fast sagen, das ist ja so ein traumatisches Erlebnis gewesen…einfach mit dem Blick auf eine nächste Geburt musste was bewältigt werden und da haben mir auch schon die beiden Gespräche, wo es nur darum ging, dass mir eigentlich jemand zugehört hat, mich hinterher kurz sortiert hat, also was ist das was ich noch erledigen kann oder was brauch ich noch, konnt ich mir wunderbar auch selber helfen…“
„…die Hebamme hat auch so ne beruhigende Wirkung auf einen. Sie ist ja die Ruhe selbst. Ja,…sie ist halt so n Mensch, geht auf einen ein, guckt und schaut. Ja, ich glaub ich hätt alles in mich reingefressen bis ich daran zusammengebrochen wär ne, weil mit meinem Mann konnt ich nicht drüber reden, dem ging es noch viel schlimmer als mir.“
Empfehlungen von Eltern
• Die Information aller Mitarbeiter über Frühe Hilfen ist unbedingt
erforderlich, damit alle die Ansprechpartner kennen und Missverständnisse vorgebeugt werden (konsistentes Handeln in der Institution)
• Schulung der Mitarbeiter wie die Weiterleitung an entsprechende Personen, Angebote, Fachkreise zu veranlasst wird (Kompetenz)
• Differenzierung nach individuellem Bedarf (Respektvoller Umgang)
• günstiger Zeitpunkt für die emotionale Unterstützung und frühe
Geburtsvorbereitung in der ersten Hälfte der Schwangerschaft, da die zweite Hälfte der Schwangerschaft eher vom Nestbau geprägt ist (Zeit)
• Ein leichter Zugang über viele Systeme: Informationen zu den Frühen Hilfen breit zu streuen und die Leute da abzuholen wo sie sind (niedrige Schwelle)
• Die passgerechte Hebammenwahl bedeutet eine Auswahl nach eigenem Bedarf und Kompetenz der Hebamme zu treffen (Wahlmöglichkeiten)