D
ie rasch progrediente Glomeru- lonephritis (RPGN) ist eine aku- te Erkrankung unterschiedlicher Ätiologie und Pathogenese. Sie stellt ei- nen nephrologischen Notfall dar, der ohne Therapie zu einem raschen Nie- renfunktionsverlust mit der Entwick- lung einer terminalen Niereninsuffizi- enz innerhalb von Tagen bis Wochen kommt. Genaue Zahlen zur Inzidenz einer RPGN gibt es nicht. Schätzungen liegen bei sieben Fällen pro eine Million Einwohner/Jahr (1). Trotz dieser Selten- heit stellt eine übersehene RPGN eine Katastrophe für den erkrankten Patien- ten dar, da bei früher Diagnose und The- rapie die terminale Niereninsuffizienz oft abgewendet werden kann. Eine Kenntnis dieses Krankheitsbildes ist deshalb für alle Ärzte/-innen wichtig, damit Patienten im Verdachtsfall schnell zum Nephrologen überwiesen werden.Pathogenese und Einteilung: Trotz unterschiedlicher Ätiologie und im- munologischer Pathogenese gleichen
sich die lichtmikroskopischen Erschei- nungsbilder der unterschiedlichen For- men der RPGN (Grafik). Es werden prinzipiell drei Muster unterschieden:
1. lineare Ablagerungen von Immun- globulin G entlang der glomerulären Basalmembran (GBM),
2. granuläre Ablagerung von Immun- depots und Komplementkomponenten,
3. fehlender Nachweis der Ablage- rung von Immunglobulinen und Kom- plement (oft im Englischen als „pauci- immune“ bezeichnet).
Diese Muster der Immunglobulinab- lagerungen dienen nur zur weiteren Dif- ferenzialdiagnose. Ihnen können un- terschiedlichen Erkrankungen zugrun- de liegen (Textkasten 1).
Klinik und Diagnostik: Eine ausführ- liche Anamnese mit Medikamenten- anamnese ist unbedingt notwendig. Es ist immer auch nach Manifestationen von Systemerkrankungen (Vaskuliti- den, Infektionen, Malignomen) zu su- chen (12). Oft bestehen unspezifische
Symptome wie Abgeschlagenheit, Mü- digkeit, Einschränkung der Leistungs- fähigkeit und Fieber. Manchmal wird auch über dumpfe Schmerzen in der Nierengegend geklagt. Nach einer Ma- krohämaturie und der Diuresemenge muss gefragt werden.
Bei systemischen Vaskulitiden kön- nen Symptome wie Arthralgien und My- algien, Raynaud-Symptomatik, Bauch- schmerzen mit blutigem Stuhl, Augen- befunde (Konjunktivitis, Skleritis, Uvei- tis), Beschwerden im HNO-Bereich (Otitis, Sinusitis, Rhinitis) oder neurolo- gische Ausfälle im Sinne einer Mono- neuritis multiplex vorliegen (12).
Bei der körperlichen Untersuchung ist besonders auf Hautsymptome von Systemerkrankungen zu achten (Exan- theme, Purpura, hämorrhagische Papeln, orale Ulzerationen oder Granulome, trophische Störungen, Nagelfalzblutun- gen und Oslersche Knötchen).Aufgrund der Natriumretention finden sich oft Ödeme, zuerst morgens als Gesichtsöde- me, im Laufe des Tages dann in den ab- hängigen Partien wie Knöcheln oder prätibial. Andere klinische Zeichen ei- ner Volumenüberladung können vorlie- gen (Halsvenenstauung, Lungenstau- ung, Galopprhythmus bei der Herz- auskultation). Ein arterieller Hyperto- nus findet sich häufig, aber nicht immer.
Definitionsgemäß besteht ein rasch progredienter Verlust der Nierenfunkti- on innerhalb von Tagen. Nierenretenti- onsparameter wie Serumkreatinin kön- nen täglich progredient ansteigen. An eine RPGN muss deshalb bei jedem Pa- tienten mit unklarem Anstieg des Se- rumkreatinins differenzialdiagnostisch gedacht werden. In der Sonographie er- P O L I T I K
Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 3315. August 2003 AA2123
Rasch progrediente Glomerulonephritis
Ein nephrologischer Notfall
Bei rechtzeitiger Diagnose und Therapie kann die Entwicklung einer terminalen Niereninsuffizienz abgewendet werden.
Medizinreport
Grafik
Glomerulus mit Schlingennekrose und halb- mondförmigem Kapselproliferat
Schematische Darstellung der unterschiedlichen Schritte bei der rasch progredienten Glome- rulonephritis: Zugrunde liegt eine Ruptur der glomerulären Basalmembran. Grafik: Wolf
Fotos:Prof.Dr.U.Helmchen,Universität Hamburg
scheinen die Nieren vergrößert und geschwollen als Ausdruck der akuten Glomerulonephritis. Selten kann eine RPGN aber auch als sekundäres Krank- heitsbild bei chronischer Niereninsuffi- zienz anderer Genese mit schon verklei- nerten Nieren auftreten.Wegweisend ist der nephritische Urinsedimentbefund.
Im Urin finden sich dysmorphe Erythrozyten, die typischerweise als so
genannte Akanthozyten vorliegen.
Hierunter versteht man Erythrozyten mit keulen- oder kugelförmigen Aus- stülpungen, die beim Durchtritt durch die rupturierte GBM entstehen. Zu- sätzlich können Erythrozytenzylinder vorliegen. Akanthozyten und Erythro- zytenzylinder weisen auf eine intraglo- meruläre Ursache der Hämaturie hin.
Es findet sich eine glomeruläre Pro- teinurie, die meist nicht im nephroti- schen Bereich liegt (also < 3,5 g/24h/
1,73 m2 Körperoberfläche). Im Labor können unspezifische Entzündungs- werte erhöht sein (Textkasten 2).
Serologische Untersuchungen kön- nen in der Differenzialdiagnose der RPGN sehr hilfreich sein und sollten daher bei klinischem Verdacht be- stimmt werden (Tabelle). Die Anamne- se und der klinische Untersuchungs- befund sollten aber die sorgfältige Auswahl der teuren serologischen Untersuchungen bestimmen (13). Sie sind niemals das einzige diagnosti- sche Kriterium. Die Diagnose einer
RPGN erfordert immer eine Nieren- biopsie (14, 15).
Therapie: Die Therapie der RPGN ist komplex, und die zum Einsatz kom- menden Medikamente haben zum Teil erhebliche Nebenwirkungen (15–18).
Deshalb sollte die Behandlung der RPGN in die Hand des erfahrenen Nephrologen gehören. Eine erfolgrei- che Therapie einer RPGN setzt eine P O L I T I K
A
A2124 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 3315. August 2003
Basalmembranruptur mit verdichteten Fibrin- ablagerungen in einem Glomerulus bei RPGN
Klassifikation der rasch progredienten Glomerulonephritis
1. Anti-GBM-Antikörper-Ablagerung an der GBM – Goodpasture-Syndrom
– Isolierte Anti-GBM-Nephritis
– Kombination mit ANCA-positiver Vaskulitis 2. Nichtlineare Immunkomplexablagerungen
A. Postinfektiös
– Poststreptokokken-Nephritis – Subakute Endokarditis – Shunt-Nephritis
– Assoziation mit viszeralen Abszessen – Viral und andere Erreger
B. Vaskulitis-Kollagenosen
– Systemischer Lupus erythematosus – Purpura-Schönlein-Henoch – Kryoglobulinämie C. Primäre Glomerulonephritiden
– IgA-Nephropathie
– Membranoproliferative Glomerulonephritis – Membranöse Glomerulonephritis 3. Ohne Immunglobulinablagerungen („pauci“)
– ANCA-positiv (z. B. Wegener, mikroskopische Polyangiitis) – ANCA-negativ
Textkasten 1
Diagnostische Hinweise auf eine rasch progrediente Glomerulonephritis
>Aktives Urinsediment (Akanthozyten, Erythro- zytenzylinder)
>Mäßige Proteinurie (in der Regel < 3,5 g/24 h)
>Rasch progrediente Verschlechterung der Nierenfunktion (täglicher Anstieg des Serum- kreatinins bei sonographisch großen Nieren)
>Oligurie/Anurie
>Ausbildung von Ödemen
>Neu aufgetretener Hypertonus
>Laborchemische Zeichen einer akuten Entzündung (BSG- und CRP-Erhöhung, Fibrinogenerhöhung, Leukozytose, Anämie)
>Extrarenale Zeichen einer Systemerkrankung (Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Fieber, Haut- affektionen, Myalgien und Arthralgien, Nasen- nebenhöhlenaffektion beim M. Wegener, radio- logisch pulmonale Infiltrate bei Vaskulitis und Goodpasture-Syndrom, neurologisch-psychia- trische Symptome)
Textkasten 2
´ TabelleC´
Notwendige serologische Diagnostik bei rasch progredienter Glomerulonephritis
Laborbefund Krankheitsassoziation
Anti-GBM-Antikörper Goodpasture-Syndrom, Anti-GBM-Nephritis
c-ANCA M. Wegener, Churg-Strauss-Syndrom, mikroskopische Polyangiitis p-ANCA mikroskopische Polyangiitis, M. Wegener, Churg-Strauss-Syndrom,
Goodpasture-Syndrom, chronische Polyarthritis, Kollagenosen, SLE (auch medikamenteninduzierte Form), viele Autoimmunerkrankun- gen (z. B. Colitis ulcerosa, autoimmune Hepatitis, primär sklerosie- rende Cholangitis)
Antinukleäre SLE, Kollagenosen, viele Autoimmunerkrankungen (chronische Antikörper (ANAs) Polyarthritis, autoimmune Hepatitis, Dermatomyositis, Sklerodermie,
Alveolitis), Neoplasien, niedrigtitrig bei älteren Patienten Antikörper gegen SLE, Kollagenosen
Doppelstrang-DNS
Komplement SLE, postinfektiöse GN (dann meist isolierte C3-Erniedrigung), (C3, C3, CH50) membranoproliferative GN (beim Typ II nur C3-Erniedrigung,
Kryoglobulinämie
Antistreptolysin, Anti- Poststreptokokken-Glomerulonephritis (GN) DNase B, Antihyaluroni-
dase, Antistreptokinase
Kryoglobuline lymphoproliferative Erkrankungen, andere maligne
Erkrankungen, Infektionen (z. B. Hepatitis C), Kollagenosen und Autoimmunerkrankungen
Immunglobulinerhöhung IgE bei Churg-Strauss-Syndrom, IgA bei Purpura Schoenlein-Henoch sowie bei 50 % der Patienten mit IgA-Nephropathie, IgG bei SLE, systemischen Vaskulitiden und postinfektiöser GN
P O L I T I K
Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 3315. August 2003 AA2125
frühe Diagnose voraus, damit eine irre- versible Vernarbung nicht eintreten kann. Wichtig ist bei Einleitung der Therapie das Abwägen der Risiken und des Nutzens für den Patienten (17).
Hierzu ist eine Nierenbiopsie unbe- dingte Voraussetzung (19). Die Ent- scheidung zu einer aggressiveren The- rapie wird bei jüngeren Patienten mit bioptisch gesicherten floriden Verände- rungen ohne Vernarbungen einfach zu treffen sein. Im Gegensatz wird ein älte- rer Patient (> 60 Jahre) mit RPGN und ausgeprägten Vernarbungen der Niere ohne lebensbedrohliche extrarenale Manifestation, wie Lungenbeteiligung, von einer solchen Therapie nicht bezüg- lich einer Verbesserung der Nieren- funktion profitieren, sondern haupt- sächlich Nebenwirkungen haben.
Dem therapeutischen Ansatz der RPGN liegt ein antientzündliches und immunsuppressives Prinzip zugrunde, das in abgewandelter Form für alle Ar-
ten der RPGN gilt (18, 20). Hieraus er- gibt sich das Problem, dass die Therapie letztendlich unspezifisch ist und nicht kausal wirkt. Eine Übersicht über mögli- che Therapiestrategien ist im Textkasten 3 dargestellt. Beim Goodpasture-Syn-
drom muss der pathogenetische An- tikörper zusätzlich mit Plasmaphere- se entfernt werden (17). Die relative Seltenheit der RPGN macht kontrol- lierte klinische Studien innovativer The- rapien schwierig. Beim gerechtfertigten klinischen Verdacht auf eine RPGN sollte eine hoch dosierte Glucocorti- coidtherapie eingeleitet und möglichst schnell eine Nierenbiopsie zur weiteren Therapieplanung durchgeführt werden.
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das im Internet unter www.aerzteblatt.de/
lit3303 abrufbar ist.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Gunter Wolf
Zentrum Innere Medizin, Medizinische Klinik IV Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Martinistraße 52, N26, 20246 Hamburg Fax: 0 40/4 28 03-51 86
E-Mail: Wolf@uke.uni-hamburg.de
Eine Langfassung des Textes finden Sie im Internet unter www.aerzteblatt.de/plus3303
Therapeutische Strategien bei RPGN Induktionstherapie
>Glucocorticoide (initial als i. v. Stoßtherapie)
>Cyclophosphamid
>Eventuell hoch dosierte polyklonale Immunglobuline als Rescuetherapie Erhaltungstherapie
>Azatnioprin oder Mycophenolat Mofetil
>Cyclosporin A
Plasmapherese zusätzlich bei
>Goodpasture-Syndrom und anti-glomerulärer Basalmembran-Erkrankung
>Kryoglobulinämie
>Eventuell als Rescuetherapie bei ANCA- positiver Vaskulitis und RPGN Textkasten 3
Ein „erschütterndes“ Resultat liefert die erste Bevölkerungsstudie zur Häu- figkeit des unentdeckten Typ-2-Diabe- tes in Deutschland: Demnach weisen 8,2 Prozent der 55- bis 74-Jährigen eine diabetische Stoffwechsellage auf, ohne dass diese diagnostiziert worden wäre.
Bislang ging man davon aus, dass auf zwei manifeste Diabetiker ein uner- kannter Fall kommt. „Doch die Häufig- keit des unentdeckten Diabetes ist in der gewählten Altersgruppe ebenso hoch wie diejenige eines manifesten Typ-2- Diabetes“, kommentiert Dr. Wolfgang Rathmann (Düsseldorf) die aktuellen Ergebnisse des KORA Survey 2000 (Cooperative Health Research in the Region of Augsburg).
Hierbei wurde in der Zeit von Okto- ber 1999 bis April 2001 eine repräsenta- tive Stichprobe von 1 300 Einwohnern im Alter von 55 bis 74 Jahren im Raum Augsburg auf einen Typ-2-Diabetes un- tersucht. Das Screening der – zufällig
über die Einwohnermeldeämter – aus- gewählten Personen umfasste neben dem oralen Glucosetoleranztest die Be- stimmung von Größe und Gewicht so- wie der allgemeinen Risikofaktoren.
Die hohe Rate unentdeckter Diabe- tiker überraschte die Untersucher: Ob- wohl die Daten nicht auf ganz Deutsch- land zu extrapolieren sind, sei doch da- von auszugehen, dass bei den 55- bis 74- Jährigen rund 17 Prozent einen manife- sten Diabetes mellitus aufweisen. „Im Vergleich zu anderen europäischen Stu- dien scheint die Diabeteshäufigkeit da- mit in Deutschland zu den höchsten in Europa zu zählen“, sagte Rathmann.
Besonders bedenklich sei es, dass bei den unentdeckten Diabetikern Hyper- tonie und Dyslipoproteinämie ebenso häufig anzutreffen sind wie bei manife- sten Diabetikern, sodass ein ähnlich ho- hes Risiko für Herzinfarkt und Schlag- anfall bestehe. Problematisch sei ferner die hohe Rate an Personen mit oraler
Glucosetoleranzstörung, die Rathmann mit 16 Prozent schätzte. Nach derzeiti- ger Kenntnis werden pro Jahr sechs Prozent der Betroffenen einen Typ-2- Diabetes entwickeln, sofern dem nicht durch intensive präventive Maßnah- men entgegengewirkt wird.
„In Deutschland vergehen im Mittel fünf bis acht Jahre, ehe eine manifeste diabetische Stoffwechsellage als Diabe- tes diagnostiziert wird. Dann aber ha- ben bereits 25 Prozent der Patien- ten Folgeschäden entwickelt“, betonte Prof. Werner Scherbaum (Düsseldorf).
Zusammen mit Prof. Peter Bottermann (München), als Vertreter der Deut- schen Diabetes-Gesellschaft, fordert Scherbaum konsequentere Bemühun- gen um die Früherkennung des Diabe- tes. Die Wissenschaftler sprachen sich jedoch nicht für ein bevölkerungsweites Diabetes-Screening aus. Effektiver sei die Erkennungsrate, wenn konsequent bei Personen mit entsprechenden Risi- kofaktoren – wie Adipositas, Hyperto- nie, Hyperlipidämie und/oder einer fa- miliären Belastung – gezielt der Nüch- ternblutzucker untersucht werde. Bei Auffälligkeiten ist nach Meinung von Bottermann ein oraler Glucosetole- ranztest indiziert. Christine Vetter