MEDIZIN ZUR FORTBILDUNG
Kreuzschmerzen (2)
Wirbelfrakturen
nach epileptischen Anfällen:
Eine oft übersehene Ursache von Rückenschmerzen
G. Friedrich Götz* **
Hans-Otto Lincke*
Christa Lux*
G
rand-mal-Anfälle führen häufig zu Prellungen, Riß- Quetschwunden, Zahn- und Zungenverletzungen oder Nasenbeinfrakturen (8). Kiefer-, Schulter- oder Hüftgelenkluxationen und Extremitätenfrakturen sind sel- ten und schwerwiegend (2, 5, 20), werden jedoch leicht erkannt. Rük- kenschmerzen nach Grand-mal-An- fällen werden zwar häufig beklagt, oft aber als postiktale Myalgien inter- pretiert. Da Wirbelfrakturen im Rah- men von epileptischen Anfällen als seltenes Ereignis gelten (8, 18, 24, 25) und viele Patienten zum Aufnah- mezeitpunkt nicht rapportfähig sind, unterbleiben gezielte Röntgenunter- suchungen.Methodik
Unter 18 050 Patienten, die in den Jahren 1980 bis 1989 in der Neu- rologischen Klinik der Städtischen Kliniken Dortmund aufgenommen wurden, haben wir 1316 Patienten, die wegen Grand mal oder gemisch- ten Anfällen stationär beobachtet und behandelt wurden, gefunden.
Die Auswertung der Krankenakten hat ergeben, daß bei 86 Patienten wegen Rückenschmerzen eine radio- logische Untersuchung der Wirbel- säule durchgeführt wurde. Die ent- sprechenden Befundberichte haben in allen Fällen vorgelegen. Die Origi- nalröntgenaufnahmen von 39 Patien- ten sind retrospektiv ausgewertet worden.
Als Kriterien für Kompressions- frakturen haben wir Höhenminde- rung und Keilform der Wirbelkörper, Deckplattenveränderungen (Ver-
Epileptische Anfälle führen nicht sel- ten zu Wirbelkörperkompressions- frakturen, die hartnäckige Kreuz- oder Rückenschmerzen verursachen.
Meistens werden die unteren Brust- wirbel von dieser Komplikation be- troffen. Eine Osteoporose bei chroni- schem Alkoholismus begünstigt solche Ereignisse.
dichtung, Muldung) sowie Absche- rungen (Stufenbildung, „Erker",
„Nase") an der vorderen oberen Wir- belkörperkante gewertet (3, 4, 13).
Ergebnisse
Bei 86 von 1316 Patienten sind wegen Rückenschmerzen nach Grand-mal-Anfällen Röntgenauf- nahmen der Brust- und/oder Len- denwirbelsäule angefertigt worden.
In 52 Fällen haben wir Normalbefun- de, degenerative Veränderungen, all- gemeine Osteoporose oder Hinweise für einen M. Scheuermann (Osteo- chondropathia deformans juvenilis dorsi) gefunden. 34 Patienten im Al- ter zwischen 25 und 72 Jahren (Durchschnitt 43,2) haben insgesamt 52 Wirbelkörperkompressionsfraktu- ren erlitten. Häufigste Lokalisation der Frakturen (Abbildung 5) sind die mittlere Brustwirbelsäule (BWK 5 bis 7) und der dorsolumbale Über- gang (BWK 11 bis LWK 1). Neurolo- gische spinale Komplikationen sind in keinem Fall festgestellt worden.
Typische Kasuistiken sind in Abbil- dung 1 bis 4 dargestellt.
22 von 34 Patienten haben auf- grund klinisch-anamnestischer Anga- ben als Alkoholiker zu gelten, bei elf Patienten besteht eine mehrjährige Antiepileptikaeinnahme (acht Dop- pelnennungen).
Diskussion
Untersuchungen zur Frage der Häufigkeit von Wirbelsäulenverlet- zungen nach Grand-mal-Anfällen sind nicht häufig durchgeführt wor- den (18). Moore (12) hat zwar bei elf von zwölf (92 Prozent) zufällig ausge- wählten Patienten mit sehr schweren Krampfanfällen „wie auch immer ge- artete" Wirbelsäulenschädigungen diagnostiziert, subsumiert hierunter jedoch auch degenerative Verände- rungen und Schmorlsche Knorpel- knötchen. Realistischere Zahlen lie- gen von Pedersen et al. (14) vor, die bei 14 von 87 (16 Prozent) ihrer asymptomatischen Patienten mit Epilepsie eine oder mehrere Wirbel- frakturen festgestellt haben. Vascon- celos (22) hat unter 1487 Anfalls- kranken 15 (ein Prozent) mit Rük- kenschmerzen und Wirbelkörper- frakturen gefunden. In der gleichen Studie hat er allerdings auch bei elf von 70 (15 Prozent) schmerzfreien Langzeitpatienten Wirbelfrakturen nachgewiesen. Das Alter der Fraktu- ren und die Häufigkeit nicht trauma- tischer Veränderungen werden nicht mitgeteilt.
* Neurologische Klinik (Direktor: Dr. med.
Hans-Otto Lincke) und
** Institut für Strahlendiagnostik (Direktor:
Prof. Dr. med. K. Mathias) der Städtischen Kliniken Dortmund
A1-1944 (40) Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 27, 9. Juli 1993
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Abbildung 1: 32jähriger Patient, seit 13 Jahren Alkoholabusus, seit fünf Jahren Phenytoin wegen Grand-mal-Anfällen. Eine tomografische Aufnah- me zeigt ventral höhengeminderte mittlere Brust- wirbelkörper (BWK 6, 8, 9) mit konkaven Wirbel- körperabschlußplatten
Etwa 6,5 Prozent unserer 1316 Patienten mit Grand mal sind wegen Rückenschmerzen radiologisch un- tersucht worden. Bei 2,6 Prozent des Gesamtkollektivs sind Wirbelkörper- frakturen nachweisbar. Bezogen auf die Anzahl der geröntgten Patienten beträgt die Häufigkeit von Frakturen 40 Prozent. In einer allgemeinen Notfallambulanz sind dagegen nur bei etwa 4,2 Prozent der Patienten mit Rückenschmerzen Wirbelfraktu- ren zu erwarten (10).
Die von Vasconcelos (22) mitge- teilte Frakturlokalisation im mittle- ren Drittel der Brustwirbelsäule und am dorsolumbalen Übergang wird durch unsere Untersuchung bestätigt (Abbildung 5). Einzig Worthing hat bei Epileptikern ausschließlich dor- solumbal gelegene Frakturen gefun- den (24). Janz gibt als häufigste Lo- kalisation die mittlere Brustwirbel- säule an (8).
Die zweigipflige Häufigkeitsver- teilung der Wirbelfrakturen (Abbil- dung 5) läßt annehmen, daß unter- schiedliche Mechanismen für die Schädigung des Achsenskelets ver-
Abbildung 3: 49jährige Patientin mit chronischem Alkoholabusus. Aufnahme wegen Anfallshäufung bei seit zwei Jahren bekanntem Grand mal. Klopf- schmerzhafte Wirbelsäule. BWK 12 ist ventral höhengemindert und hat einen vergrößerten Sa- gittaldurchmesser. Die Wirbelkörperabschlußplat- ten von BWK 12 und LWK 3 sind konkav ver- formt
antwortlich sind. Die heftigen Mus- kelkontraktionen zu Anfallsbeginn bewirken eine starke Anteflexion der Brustwirbelsäule. Dabei sind die ven- tralen Abschnitte mittlerer Brustwir- belkörper besonders hohen Bela- stungen ausgesetzt (12, 13, 22, 23).
Dieser Frakturmechanismus ohne äu- ßere Gewalteinwirkung ist seit langem als Komplikation bei Tetanus, aber auch bei therapeutischer Krampf- induktion wie Elektroschockbehand- lung und Metrazolinjektion bekannt
Abbildung 2: 55jähriger Patient im alkoholi- schen Prädelir. Heftigste Rückenschmerzen nach Grand-mal-Anfall. Ab- scherung der vorderen oberen Kante von BWK 12, muldenförmige De- formierung der Deck- platte, Stauchungszone im cranialen Drittel des Wirbelkörpers. Gleich- artige, jedoch geringer ausgeprägte und bereits knöchern konsolidierte Zeichen einer traumati- schen Schädigung bei LWK 1
Abbildung 4: 63jähriger chronischer Alkoholiker.
Seit vier Jahren bekanntes hirnorganisches An- fallsleiden. Die Wirbelkörper von BWK 12 und, weniger ausgeprägt, LWK 1 sind ventral höhenge- mindert
(12, 15, 16, 18, 19, 23-25). In der Wirbelsäulentraumatologie werden Frakturen des dorsolumbalen Über- ganges (BWK 11 bis LWK 1) wegen des großen Bewegungsumfangs die- ser Segmente besonders häufig beob- achtet (4, 13). Beim epileptischen Anfall treten sie wahrscheinlich als Folge des Hinstürzens auf (24, 25).
Interessanterweise waren unsere Pa- tienten mit Brustwirbelfrakturen jün- ger (40,5 Jahre) als diejenigen mit Verletzungen am dorsolumbalen Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 27, 9. Juli 1993 (41) A1-1945
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Übergang (46 Jahre). Die große Zahl von Alkoholikern in unserem Unter- suchungsgut legt die Vermutung na- he, daß Mangelernährung und chro- nische Lebererkrankungen zu einer über das Altersmaß hinausgehenden Osteoporose und damit Frakturprä- disposition führen (13, 17). Auch ei- ne Langzeitbehandlung mit antikon- vulsiven Medikamenten kann eine Osteopenie verursachen (5, 9, 14).
Patienten mit ankylosierender Spondylitis und Spondylosis hyper- ostotica erleiden bekanntlich nicht selten Wirbelfrakturen, auch mit neu-
rologischen Komplikationen (21). So beschreiben Allen und Mitarbeiter sieben Patienten, die bei gleichzeitig bestehendem hirnorganischem An- fallsleiden Frakturen der osteoporoti- schen Halswirbelkörper und Rücken- markschädigungen erlitten haben (1).
Schlußfolgerungen
Bei unseren Anfallskranken be- trägt die Häufigkeit von Wirbelfrak- turen etwa zwei bis drei Prozent und liegt damit höher als erwartet. Nach abgelaufenem Grand-mal-Anfall sind bei anamnestisch und klinisch begründetem Verdacht, insbesonde- re auch bei Alkoholikern und Dro- gensüchtigen, die im Prädelir oder wegen entsprechender Medikation keine ausreichenden anamnestischen Angaben machen können, radiologi- sche Untersuchungen der Wirbelsäu- le indiziert. Bei diesen Patienten werden Kompressionsfrakturen am häufigsten im Bereich der mittleren Brustwirbelsäule und des dorsolum-
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balen Übergangs gefunden. Da insta- bile Frakturen und neurologische Ausfälle im allgemeinen nicht zu be- fürchten sind (3, 4, 10, 13, 16, 18, 24), sollte die diagnostische und thera- peutische Konsequenz der radiologi- schen Befunde nicht überbewertet werden (10).
Schichtaufnahmen können Wir- belfrakturen zwar noch übersichtli- cher darstellen und gelegentlich zu- vor unerkannte umschriebene Deck- platteneinbrüche nachweisen, sind jedoch ebenso wie CT-Untersuchun- gen meist entbehrlich und aus strah- Abbildung 5: Lokalisati- on der Wirbelfrakturen (n = 52)
lenhygienischen Gründen nicht wün- schenswert (7, 11, 13).
Symptomatische Schmerzmedi- kation und gegebenenfalls kurzzeiti- ge Bettruhe stellen im allgemeinen eine ausreichende Behandlung dar (16). Nach etwa zwei Monaten sind die im Rahmen von Grand-mal-An- fällen aufgetretenen Wirbelkörper- kompressionsfrakturen knöchern durchbaut und als geheilt zu betrach- ten (13).
Deutsches Arzteblatt
90 (1993) A 1-1944-1946 [Heft 27]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über die Verfasser.
Anschrift für die Verfassen
Dr. med Hans-Otto Lincke
Direktor der Neurologischen Klinik der Städtischen Kliniken Dortmund Beurhausstraße 40
44137 Dortmund
Scombroid- Fischvergiftung
Die Scombroid-Fischvergiftung ist eine Nahrungsmittelvergiftung, die durch unsachgemäße Verwertung und Lagerung bestimmter Meerfi- sche, insbesondere Thunfische, zu- stande kommt. Durch bakterielle Kontamination des Fisches wird nach dessen Einnahme beim Menschen ei- ne histaminartige Vergiftung ausge- löst, die dem klinischen Bild einer akuten allergischen Reaktion gleicht.
In 25 Jahren gingen beim Schweizerischen toxikologischen In- formationszentrum insgesamt 76 Meldungen nach Thunfischaufnah- me ein. Bei der Mehrzahl der Patien- ten bestand ein Erythem (87 Pro- zent), die Hälfte wies Kopfschmer- zen auf, und rund ein Drittel hatte gastrointestinale Symptome. Der Verlauf war bei allen Patienten gut- artig, die Symptome waren im Mittel nach acht Stunden verschwunden. In Großbritannien gibt es jährlich durchschnittlich 21,4 und den USA 15 bis 40 Meldungen von Scombroid- Fischvergiftungen.
Die Histaminbildung im Fisch erfolgt durch mikrobielle Decarboxy- lierung des im Fleisch dieser Fische in großen Mengen enthaltenen Histi- dins. Sie kommt vor allem dann vor, wenn die Verarbeitung des Fisches sich lange hinauszögert und der Fisch dabei nicht konsequent gekühlt gela- gert wird.
Antihistaminika sind die Mittel der ersten Wahl bei der Scombroid- Fischvergiftung, auch der Einsatz von H2-Antagonisten wie Cimetidin ist diskutiert worden. Im Rahmen der Prophylaxe spielt eine schnelle Küh- lung der Fische nach dem Fang, wäh- rend oder zwischen den Verarbei- tungsprozessen und während des Transportes die entscheidende Rolle.
Maire, R., K. Dreiding, P. A. Wyss: Inzi- denz und Klinik der Scombroid-Fischver- giftung. Schweiz. Med. Wochenschrift 1992; 122: 1933-1935.
Med. Poliklinik, Department für Innere Medizin, Universitätsspital Zürich;
Schweizerisches Toxikologisches Infor- mationszentrum (STIZ) Zürich.
A1-1946 (42) Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 27, 9. Juli 1993