er Europäische Gerichtshof hat in der deutschen Ge- sundheitslandschaft mäch- tig Staub aufgewirbelt. Ende April haben die Luxemburger Richter entschieden, daß der Grundsatz des freien Waren- und Dienstleistungs- verkehrs auch für medizinische Lei- stungen sowie für Heil- und Hilfs- mittel gilt. Sprich: Gesetzlich Kran- kenversicherte dürfen auch ohne vorherige Genehmigung ihrer Kran- kenkasse innerhalb der Europäi- schen Union Leistungen in An- spruch nehmen. Die Krankenkassen ihrerseits sind verpflichtet, die Ko- sten nach den national geltenden Höchstsätzen zu erstatten. Dies be- deutet ein Stückchen mehr Europa für das bislang abgeschottete natio- nale Gesundheitswesen.
Die Reaktionen auf das Urteil reichen deshalb von düsteren Pro- phezeiungen über den Untergang des deutschen Gesundheitssystems bis zum Loblied auf den Sieg der Verbraucher. Was aber wird sich wirklich ändern? Mittelfristig wahr- scheinlich wenig. Mit einem Exodus von Versicherten und Patienten ins
„billige“ europäische Ausland ist kaum zu rechnen. Ein „Geschäft“
können die Versicherten ohnehin nur machen, wenn sie Leistungen in Anspruch nehmen, die in Deutsch- land – wie beim Zahnersatz – mit ei- nem Festzuschuß abgegolten wer- den, sie also einen erheblichen Eigenanteil zu tragen haben. Nur dort und bei Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln, deren Preise unterhalb der gesetzlichen Zuzahlungsrege-
lungen liegen, ließe sich Geld spa- ren. Zudem basiert die neue Freizü- gigkeit auf dem hierzulande bislang wenig populären Kostenerstattungs- prinzip, wobei den Versicherten le- diglich die Kosten erstattet werden, die tatsächlich angefallen sind. Die von vielen befürchtete Kostenexplo- sion wäre damit ausgeschlossen. Zu- dem gehen zumindest die Ersatzkas- senverbände davon aus, daß sie nur solche Leistungen erstatten, die im gesetzlichen Leistungskatalog ent- halten sind.
Kein „Honorardumping“
Interessant ist das Urteil vor al- lem für die Bewohner der Grenzre- gionen und all jene, die ihren Alters- sitz im Ausland gewählt haben. Ih- nen stehen für eine grenzüberschrei- tende Behandlung weniger bürokra- tische Hürden im Weg. Die Barrie- ren fallen auch für EU-Ausländer, die in Deutschland Leistungen in Anspruch nehmen wollen. Der Vor- sitzende der Kassenärztlichen Bun- desvereinigung, Dr. med. Winfried Schorre, hält die deutschen Ärzte dank ihres hohen Qualitätsstan- dards für durchaus konkurrenzfähig im europäischen Wettbewerb. Auch einem drohenden „Honorardum- ping“ sieht Schorre eher gelassen entgegen. Er bezweifelt, daß auslän- dische Ärzte durchweg billiger the- rapieren als deutsche.
Über allem schwebt jedoch das Schreckgespenst des Qualitätsverlu- stes. Bundesärztekammerpräsident
Dr. med. Karsten Vilmar warnt da- vor, daß die Qualität der medizini- schen Versorgung in „eine Abwärts- spirale zu geraten droht“. Auch Bun- desgesundheitsminister Horst Seeho- fer befürchtet, daß eine geringere Qualität ärztlich erbrachter Leistun- gen im Ausland die deutsche Kran- kenversicherung verteuern könnte.
Was Qualitätsanforderungen anbe- langt, verweist der Gerichtshof aller- dings nicht zu Unrecht auf europa- weit gültige Standards. Bei alledem darf man die Systemtreue der Patien- ten nicht unterschätzen.
Die Kassen halten sich derweil mit Urteilen zurück. Zum einen be- grüßen sie den verstärkten Wettbe- werb, weil sie auf Einsparungen hof- fen. Zum anderen befürchten sie wie Seehofer, daß Kosten- und Mengen- steuerung aus dem Ruder laufen könnten. Diese Gefahr besteht je- doch nur, wenn ein medizinischer Massentourismus einsetzen würde.
Auf die „Kostentreiber“ Kran- kenhaus und Rehabilitation sind die Luxemburger Richter nicht einge- gangen. Es ist jedoch zu erwarten, daß sich der Trend zur Europäisie- rung fortsetzt, solange keine „erheb- liche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der so- zialen Sicherung besteht“. Langfri- stig wird es sicherlich Annäherun- gen geben. Für diesen Fall regt Vilmar an, „eine Europäische Ge- sundheitscharta zu entwickeln, die eine Konvergenz der Systeme er- möglicht, aber eine Nivellierung ver- hindert“. Anlaß zur Panik besteht derzeit nicht. Heike Korzilius A-1137
P O L I T I K LEITARTIKEL
Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 19, 8. Mai 1998 (17)