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Archiv "Ist Herzinfarkt-Rehabilitation eine „Mode“?: Interview mit Professor Dr. med. M. J. Halhuber" (14.10.1976)

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Frage: Die Frührehabilitation des Herzinfarktes hat in den letzten Jahren einen entscheidenden Durchbruch erzielt. An dieser Ent- wicklung haben Sie, Herr Professor Halhuber, und die von Ihnen als ärztlicher Direktor geleitete Klinik mit einem hohen Stellenwert An- teil, in der Breite der Erfahrung vielleicht den höchsten in der Bun- desrepublik. Wie hat sich dies ent- wickelt?

Halhuber: Daß die koronare Herz- krankheit und ihre dramatischen Ereignisse Herzinfarkt und Sekun- denherztod noch immer die größte Epidemie in der westlichen Welt darstellen, brauche ich hier nicht zu erläutern: immerhin stirbt noch jeder elfte männliche Europäer vor dem Erreichen des Rentenalters an der koronaren Herzkrankheit.

Im Jahre 1969 haben Gillmann und Colberg (1) in einer katamnesti- schen Studie folgende Feststellun- gen machen müssen: Von 300 In- farktpatienten waren im ersten Jahr nach der Klinikentlassung 28, im zweiten 16, im dritten Jahr sechs verstorben. Mehr als ein Drittel der Übergewichtigen hatten noch weiter an Gewicht zugenom- men, die Letalität in der Post-In- farkt-Phase war bei stark Überge- wichtigen mit 27 Prozent deutlich erhöht (was doch bedeutet, daß der Risikofaktor „Übergewicht"

auch nach dem Infarkt noch be- handelt werden sollte), nur noch 24 Prozent der Patienten mit systoli- schen Blutdruckwerten über 160 mm Hg waren konstant mit blut- drucksenkenden Mitteln, nur 42 Prozent der Patienten mit Herzin- suffizienzerscheinungen waren mit Digitalis behandelt worden. 21 Pro- zent der Patienten mit Kurmaßnah- men haben eine sehr deutliche Verschlechterung durch diese an- gegeben. Die Wiederaufnahme der Arbeit erfolgte bei den Berufstäti- gen in 64,5 Prozent, und zwar nur in der Hälfte der Fälle innerhalb des ersten halben Jahres.

Ich erinnere mich auch noch sehr gut, wie ein Patient, den ich 1970 in einer Poliklinikvorlesung an der Technischen Universität München im Klinikum rechts der Isar vorstel- len konnte, auf die Frage, was man ihm nach seinem ersten Herzin- farkt für Ratschläge gegeben hatte, wütend mitteilte, daß es nur drei Empfehlungen gewesen seien:

„Regen Sie sich nicht auf, strengen Sie sich nicht an, beantragen Sie die Rente!"

Frage: War das damals nur eine Ausnahme?

Halhuber: Nein, mit diesen provo- zierenden Feststellungen und den Zahlen neutraler Beobachter wollte ich nur die damalige Ausgangslage zu lassen. Neben einer Verkürzung

des Weges zwischen Forschung und Ärzten in Klinik und Praxis kann auch die Warnung vor unkri- tischer Anwendung nicht ausrei- chend geklärter neuer Erkenntnis- se und Methoden möglich sein.

• Über die Arbeit des Filmaus- schusses der Bundesärztekammer unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Wal- ter Kreienberg, Kaiserslautern, wird noch gesondert berichtet werden.

Hier sei nur vermerkt, daß die Bun- desärztekammer in der ersten Jah- reshälfte 1976 an drei Wochenen- den ein neuartiges Seminar „Film in der Medizin" für filmende Ärzte unter der Leitung von Dr. Pierre Kandorfer durchgeführt hat, an dem namhafte Experten mitwirkten.

• Die Abteilung Fortbildung und Wissenschaft verfolgt sowohl neue didaktische Methoden als auch neue Versuche zur Effektivitätskontrolle von Fortbildungsveranstaltungen.

Die Diskussionen hierüber sind in vollem Gang, eine abschließende Beurteilung ist derzeit noch nicht möglich. Die beträchtlichen Unter- schiede zwischen Ausbildung, Wei- terbildung und Fortbildung werden dabei leider häufig übersehen.

Monatskurse

für die ärztliche Fortbildung

Nicht nur den Teilnehmern der Fortbildungskongresse, sondern auch allen anderen Ärzten ist die Möglichkeit gegeben, regelmäßig über die „Monatskurse für die ärzt- liche Fortbildung" — herausgege- ben von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereini- gung, verlegt beim Deutschen Ärz- te-Verlag, Köln — die Vorträge und Referate unserer Fortbildungs- kongresse zu verfolgen. Es ist vor- gesehen, bereits Mitte 1977 auf vierzehntägliches Erscheinen der Hefte überzugehen, so daß künftig auch die Referate der Seminarkon- gresse veröffentlicht und damit al- len Ärzten zugänglich werden.

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Erwin Odenbach

Haedenkampstraße 1, 5000 Köln 41

Ist Herzinfarkt-Rehabilitation eine „Mode"?

Interview mit Professor Dr. med. M. J. Halhuber

Frau Dr. Magda Menzerath, Fachkorrespondentin des DEUTSCHEN ÄRZTEBLATTES, ist in dem nachstehend wiedergegebenen Inter- view mit Prof. Dr. med. M. J. Halhuber, dem ärztlichen Direktor der Klinik Höhenried für Herz- und Kreislaufkrankheiten (Landesversi- cherungsanstalt Oberbayern), den teilweise kontrovers diskutierten Fragen der Herzinfarkt-Rehabilitation nachgegangen. Die Antworten Prof. Haihubers zeichnen ein umfassendes Bild nicht nur der an dieser Klinik geleisteten Arbeit; sie zeigen auch ganz allgemein den neuesten Stand der klinischen Herzinfarkt-Rehabilitation auf.

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beleuchten, die ja nicht nur mich, sondern viele Kardiologen beunru- higen mußte. Seit ich dann in Heft 1/1969 der Zeitschrift „Deutsche Rentenversicherung" meine Vor- schläge zu Anschlußheilmaßnah- men erstmals veröffentlicht habe, hat sich die Situation wesentlich verbessert. In der Zwischenzeit ha- ben — um nur einige zu nennen, die sich besonders engagiert ha- ben — Donat in Hamburg-Harburg, Kubicek in Wien, Matzdorff in Nau- heim, Roskamm in Krozingen, Teichmann in Wörishofen über günstige Erfahrungen berichtet.

Frage: Was versteht man heute un- ter Frührehabilitation im allgemei- nen und Anschlußheilmaßnahmen bei sozialversicherten Herzinfarkt- kranken im besonderen?

Halhuber: Damit ist die möglichst nahtlose Durchführung stationärer und ambulanter Maßnahmen zur medizinischen, sozialen und beruf- lichen Rehabilitation (und Zweit- Prävention des Re-Infarktes) im Sinne des § 1236 der Reichsversi- cherungsordnung unmittelbar nach der Entlassung aus dem Akutkran-

kenhaus angesprochen. Damit ist z. B. die Aufnahme des gehfähigen Infarktkranken in Rehabilitations- kliniken innerhalb weniger Wo- chen nach dem aktuten Ereignis (in Krozingen und in den Rehabili- tationskliniken Österreichs schon nach der ersten Woche, spätestens aber nach zwölf Wochen) gemeint.

Bis vor kurzem wurden ja „Kuren"

von Herzinfarktkranken im Durch- schnitt nicht früher als sechs Mo- nate nach dem Infarkt genehmigt.

Unsere bisherigen Erfahrungen mit der Frührehabilitation können als günstig bezeichnet werden (2).

Frage: Ist denn die Frührehabilita- tion mit Gewißheit nicht gefährlich?

Halhuber: Ich weiß, daß es in die- sem Bereich noch zahlreiche Vor- urteile gibt. Vor allem deshalb, weil Rehabilitation im allgemeinen und Frührehabilitation im besonderen identifiziert werden mit einem

Das Titelbild: Piktogramm der Herzin- farkt-Rehabilitation, wie es von Boehrin- ger-Mannheim auf der Broschüre zum Fortbildungsfilm Dr. Georg Muncks über dieses Thema verwendet wurde, projiziert auf eine Luftaufnahme der Höhenriedklinik

körperlichen Bewegungstherapie- programm, ja vielleicht sogar mit einem „Trainingskult". Von 645 Pa- tienten mit Anschlußheilmaßnah- men sahen wir in den ersten bei- den Jahren in Höhenried 14 le- bensbedrohliche Komplikationen, das sind 2,2 Prozent. Davon waren zwei Fälle (0,3 Prozent) tödlich.

Diese Zahl darf aber nicht ver- wechselt werden mit der Gesamt- mortalität an einer Rehabilitations- klinik. Die Zahl betrug bei uns bei über 40 000 Patienten 0,15 Pro- zent (3).

Wir wollen indes nicht an der Tat- sache vorbeireden, daß die organi- sierte, vor allem die stationäre Frührehabilitation heute ein Kon- troversthema ist. So findet zum Beispiel im Rahmen des Europäi- schen Kardiologenkongresses in Amsterdam, am 21. Juni 1976 [noch vor dem Erscheinen dieses Heftes

— die Redaktion], ein Mikrosympo- sion zum Thema „Antagonisten und Protagonisten einer Notwen- digkeit organisierter Rehabilita- tion" unter Vorsitz von R. Mulcahy und mir statt. Es gibt klinische Kar- diologen, die für eine „informale"

Rehabilitation plädieren, und zwar vor allem aus ökonomischen Grün- den, andere, die für eine nur am- bulante Koronargruppentherapie nach der Entlassung aus dem

Akutkrankenhaus eintreten, und wieder andere — zu denen auch wir gehören —, die ein umfassen- des Rehabilitationsprogramm im Sinne der WHO durch eine Kombi- nation stationärer und ambulanter Rehabilitationsmaßnahmen für be- sonders wirksam (=effizient) und ökonomisch (=effektiv) halten.

Frage: Warum erscheint es Ihnen richtig, einen Herzinfarktkranken, der in einem Akutkrankenhaus frühmobilisiert ist, nicht nur ambu- lant zu Hause zu rehabilitieren?

Halhuber: Die notwendige Umstel- lung des Lebensstils und der Ver- haltensweisen (Rauchen, Überge- wicht, körperliche Inaktivität, Le- benseinstellung) ist unter den be- sonderen gruppentherapeutischen und edukatorischen Bedingungen eines Rehabilitationszentrums leichter möglich als im Akutkran- kenhaus oder ambulant. Im Rah- men der Höhenrieder Langzeitstu- die, die innerhalb von drei Jahren bei 1000 Infarktpatienten eine Ab- sterberate von nur 5,5 Prozent hat- te (4), scheint uns der Beweis ge- lungen zu sein, daß eine umfassen- de Dauerbetreuung mit stationärer Frührehabilitation viele Vorteile hat, auf gar keinen Fall aber Nach- teile. Es konnte gezeigt werden, daß bei einem kombinierten, statio- när-ambulanten Rehabilitationspro- gramm die Risikofaktoren (erhöh- ter Blutdruck, erhöhter Blutfettspie- gel, Übergewicht, Rauchen) nur während des stationären Aufent- haltes signifikant beeinflußt wür- den. Durch die ambulanten Dauer- betreuung (halbjährliche Nachun- tersuchung) konnten aber die nor- malisierten Werte weiterhin normal gehalten werden. Daß ausschließ- lich ambulante Nachsorge (Koro- nargruppentherapie) gleich effektiv (wirksam) und effizient (kostenge- recht) sein würde, ist vorläufig eine wichtige, aber noch ungeprüfte Hy- pothese, die eine Prospektivstudie wert sein sollte.

Frage: Welche Einzelargumente für

„Anschlußheilmaßnahmen" für die

(3)

Frührehabilitation möchten Sie besonders betonen?

Halhuber: Die folgenden diagnosti- schen Maßnahmen sind während einer Verlaufsbeobachtung an ei- ner Rehabilitationsklinik leichter möglich als ambulant oder im Akutkrankenhaus: mehrmalige Fahrradergometrien und Ergome- tertraining unter kontrollierten all- tagsnahen Bedingungen, telemetri- sche und Bandspeicher-EKG-Über- wachung hinsichtlich der Rhyth- musstörungen unter alltagsnahen Bedingungen, Einschwemmkathe- teruntersuchungen zum Ausschluß oder zur Kontrolle einer Bela- stungsherzinsuffizienz, sobald un- ter kontrollierten alltagsnahen Be- dingungen verdächtige Symptome auftreten.

Auch die Integration der Koronar- angiographie bei problematischen klinischen Befunden, die besonde- re therapeutische Konsequenzen nahelegen, ist leichter möglich, weil zum Beispiel (wie es in Zürich sogar verlangt wird) eine Ge- wichtsabnahme vorher erwünscht ist. Die psycho- und sozialthera- peutischen Argumente scheinen mir aber besonders wichtig:

Wir wissen, daß der Patient nach einem Herzinfarkt nach der Entlas- sung aus dem Akutkrankenhaus entweder sehr verängstigt, ja de- pressiv und selbstunsicher gewor- den ist oder aber durch Verdrän- gung und Übermotivation (vor al lem beim sogenannten Leistungs- typ) dazu neigt, über seine Lei- stungsmöglichkeiten hinaus zu le- ben. In beiden Fällen sollte er nicht sich selbst überlassen bleiben.

Frage: Beginnt hier nicht die Rolle des Hausarztes?

Halhuber: Natürlich kann auch ein besonders engagierter Hausarzt hier ambulant Gefahren abwenden, aber erfahrungsgemäß ist allein schon die zeitliche Belastung fast unzumutbar. Weiters entstehen häufig in verschiedenen Lebensbe- reichen nach einem Herzinfarkt

Konflikte und Probleme, die in In- farktgesprächsgruppen und durch häufig wiederholte Einzelberatun- gen am ehesten aufgearbeitet wer- den. Es handelt sich um die Le- bensbereiche Familie und Partner- schaft (Diätberatung, Beratung zur Freizeitgestaltung, Sexualberatung, Gesräche mit dem Ehepartner be- züglich der weiteren Lebensgestal- tung) und den Berufsbereich (Be- rufsberatung, Gewinnung einer besseren Distanz zu beruflichem Ärger usw.). Der schwierige Prozeß eines neuen Lebensstils wird eben in einem Milieu, das für grup- penpsychotherapeutische Ansätze strukturiert ist, erleichtert. Es geht ja darum, daß der Infarktkranke — wie wir unseren Patienten immer wieder „predigen" jene Lebenswei- se kennen und anerkennen lernt (Information und Motivation), die er dann sein Leben lang unter den immer wiederholten Verstärkerbe- dingungen eines Koronarklubs fort- setzen soll. Diese schwierige „In- itialzündung" ist unter den speziel- len und intensiv edukatorischen Einflüssen eines Gruppenerlebnis- ses leichter möglich.

Frage: Wo setzen Sie dabei an?

Halhuber: Es geht dabei um die Beeinflussung der individuellen Ri- sikofaktoren in Infarktgesprächs- gruppen (z. B. Nichtrauchertraining und Gewichtsabnahme) und um die Selbstdisziplin beim individuellen Aufbau eines medikamentösen Langzeitbehandlungsplanes. In die- sem Zusammenhang muß ich auf neuere Untersuchungen in den Vereinigten Staaten, aber auch in Deutschland (Gundert, Gerling und Nagel, aus der Abteilung für klini- sche Pharmakologie der Medizini- schen Universität Heidelberg) hin- weisen, die bei Untersuchungen zur Regelmäßigkeit der Einnahme von Arzneimittel nachweisen konn- ten, daß von Patienten nach über- standenem Herzinfarkt nur 57,7 Prozent regelmäßig ihre Tabletten einnehmen (bei Hypertoniekranken ohne Herzinfarkt sind es sogar nur 16,7 Prozent). Lassen Sie mich auch noch ein bewegungsthera-

peutisches Argument anführen. Der Aufbau eines individuellen Bewe- gungstherapieplanes ist mit Angst verbunden, und zwar erfahrungsge- mäß nicht nur von seiten des Pa- tienten, sondern auch von seiten der Ärzte. Der Patient muß seine körperlichen Möglichkeiten und Grenzen erfahren, er muß lernen, Symptome richtig einzuschätzen, Konsequenzen einzuhalten, und wir glauben, daß das in einem Rehabi- litationszentrum durch die dauern- de Arztnähe mit einem Minimum an Angst möglich ist. Die Angst von seiten der Ärzte ist sicher mit ein Grund, warum zur Zeit gegen den angeblichen ,.Trainingskult" in Rehabilitationszentren Sturm ge- laufen wird. Hier spielen Unkennt- nis, mangelnde Ausbildung, Vorur- teile und vielleicht auch das Be- dürfnis, im Zeitalter der „Kostenex- plosion" den „Schwarzen Peter"

anderen Gruppen, in diesem Fall den Kuren zuzuschieben, mit eine Rolle.

Frage: Sie wollen damit sagen: Kur ist also nicht gleich „Kur"?

Halhuber: Natürlich ist diese Art der Rehabilitation nur in entspre- chend ausgerichteten und ausgerü- steten Schwerpunktkliniken und Kurkliniken mit besonderem Enga- gement der dort tätigen Therapeu- ten möglich. Es geht dabei heute nicht nur darum, über eine mög- lichst moderne diagnostische Ein- richtung zu verfügen, die vor allem eine adäquate Funktionsdiagnostik mit Verlaufsbeobachtung ermög- licht, sondern auch darum, in mög- lichst „geschlossenen Gruppen"

die Patienten durch mehrere Wo- chen zu betreuen und dazu thera- peutische Teams zu entwickeln, in denen neben den Ärzten auch die Schwestern, Übungsleiter und So- zialarbeiter eine gleich wichtige Rolle spielen. Wir glauben aber, daß nach den — übrigens nicht nur bei uns — erzielten Ergebnissen die Mittel für die Rehabilitation nicht (wie es in Zeitungsveröffent- lichungen neuerdings mehrfach heißt) zu hoch angesetzt sind. Im- merhin kehren auf Grund der Er-

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gebnisse unserer Höhenrieder Herzinfarktstudie 86 Prozent der Patienten wieder in die Arbeit zu- rück (nach der Studie von Gillmann und Colberg waren es 1969 etwa 60 Prozent), und wir wissen, daß sie durch die Frührehabilitation im Durchschnitt um etwa drei Monate früher die Arbeit aufnehmen. Um dieses Ziel zu erreichen, sind an einer Rehabilitationsklinik wie Hö- henried für 555 Patienten 40 Ärzte und 24 Übungsleiter tätig.

Noch etwas zur Organisation von Anschlußheilmaßnahmen. Es müs- sen Anträge für Heilverfahren für rentenversicherte Lohnempfänger bei der zuständigen LVA und für alle rentenversicherten Angestell- ten bei der BfA gestellt werden.

Die bürokratische Abwicklung geht aber wesentlich schneller als bei den übrigen Heilmaßnahmen, wenn sie mit einem besonderen Vermerk versehen sind. Erfahrungsgemäß sind es die Fürsorgerin oder der Sozialarbeiter im Akutkrankenhaus, die die Dinge am besten beherr- schen und in Gang bringen. Diese Anträge können natürlich auch vom niedergelassenen Arzt gestellt werden.

Frage: Nach außen läuft damit Ihre und Ihrer Mitarbeiter Tätigkeit un- ter dem Begriff „Kur". Trifft dieser Begriff denn noch für das zu, was bei Ihnen geschieht?

Halhuber: Ich glaube, daß ein mo- dernes Präventions- und Rehabili- tationssystem mit stationären und ambulanten Phasen durch den tra- ditionellen Kurbegriff nicht befrie- digend abgedeckt wird. Vielleicht sollte er besser aufgelassen wer- den, da er falsche Assoziationen einer Kur in der bisherigen passi- ven Tradition eines Kur-Urlaubs weckt. Ich glaube, man sollte nicht neuen Wein in alte Schläuche gie- ßen, nachdem die Werbepsycholo- gie uns doch gelehrt hat, wie sehr alte Vorstellungen mit Begriffen und Worten verbunden bleiben. Es geht aber heute weniger um ein neues Wort als um eine neue Defi- nition der Kur. Die folgende, etwas

kompliziert klingende Begriffsbe- stimmung habe ich (5) zur Diskus- sion gestellt und erläutert: „Eine Kur ist eine systematisierte, ver- schiedene Therapieformen inter- disziplinär integrierende, für den Zeitraum eines Gesundheitsbil- dungsseminars verdichtete Prä- vention oder Rehabilitation." Das klingt natürlich viel komplizierter und auch utopischer, als es tat- sächlich ist. Ich glaube sogar, daß man gerade im Hinblick auf die heute aktuelle Fragestellung nach der ökonomischen Seite ein sol- ches Konzept bejahen kann. Wenn es in einem sonst ausgezeichneten Artikel in der „Zeit" vom 23. April 1976 von Dieter Piehl: „Denn die Kasse zahlt's (Urlaub auf Kranken- schein)" heißt, die Rehabilitation bediene sich zu aufwendiger Mittel, so kann und muß diese Feststel- lung durch Forschungsergebnisse der Rentenversicherungsträger wi- derlegt werden.

Frage: Was soll man denn heute unter Rehabilitation verstehen?

Halhuber: Um Begriffe aus der Pädagogik zu nehmen, könnte man von der bestmöglichen Personali- sation und Sozialisation von Behin- derten sprechen. Man kann auch verschiedene Aspekte heraushe- ben, um die Rehabilitation von der Therapie, die ja immer die Behe- bung eines Symptoms oder Syn- droms zum Ziele hat, abzuheben.

Ein medizinisch-physiologischer Aspekt wäre: die Kompensation ir- reparabler Folgezustände durch noch vorhandene Funktionsmög- lichkeiten des Organismus. Ein so- zialpsychologischer Aspekt wäre:

die Wiederherstellung der Ehre (d. h. in unserer Gesellschaft der Leistungsehre und des Prestiges), und schließlich ist Rehabilitation immer auch Zweit-Prävention, d. h.

die Verhinderung oder Verzöge- rung des Fortschreitens einer chro- nischen Erkrankung.

In einem Zeitalter, in dem die wich- tigsten chronischen Krankheiten und die sechs häufigsten Todesur- sachen durch Verhaltensweisen

der Erkrankten entscheidend mit- bestimmt sind (Rauchen, Alkoholis- mus, Übergewicht, Bewegungs- mangel, psychosozialer Streß), ist der pädagogische oder andragogi- sche Aspekt auch für den Skepti- ker, der keine Alternative zu bieten hat, nicht auszuklammern. Es geht nur darum, die „richtigen" Patien- ten zur „richtigen" Zeit in die

„richtigen" Präventions- und Re- habilitationseinrichtungen zu brin- gen.

Frage: Erfordert diese Entwicklung nicht eine Änderung der inneren Organisation?

Halhuber: Ich meine, daß Ihre Fra- ge zu bejahen ist. Heute haben wir für alle Rehabilitationsmaßnahmen das Antragsprinzip. Ich glaube dann nicht, daß es geändert wer- den muß, wenn durch eine viel in- tensivere, strengere Auswahl der Patienten für Rehabilitationsmaß- nahmen durch den Hausarzt, durch den Werksarzt, durch den kontrol- lierenden Vertrauensarzt und Prüf- arzt und wenn nicht zuletzt auch durch eine bessere Information der in Frage kommenden Sozialversi- cherten und durch eine stärkere Betonung von deren Eigenverant- wortung eben eher die „richtigen"

Patienten zu Heilmaßnahmen kom- men. Hier sind m. E. noch nicht alle Möglichkeiten der Verbesserung ausgeschöpft.

Frage: Setzen diese Anforderungen nicht eine noch engere kollegiale Zusammenarbeit von Hausarzt, Facharzt, Krankenhausarzt, Ver- trauensarzt und Rehabilitationskli- nik voraus?

Haihuber: Sicherlich, ich meine aber, sie ist, wenn auch langsam, endlich auf dem Weg. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Die Bun- desärztekammer hat sich für die nächste Zukunft die programmierte Betreuung, die Dokumentation und die Selbstüberprüfung bei der Fort- bildung der niedergelassenen Ärzte als wichtiges Entwicklungspro- gramm vorgenommen. Im Rahmen

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unserer Höhenrieder Herzinfarkt- studie haben wir die halbjährlichen Nachuntersuchungen, die z. T.

durch Vertrauensärzte, z. T. in Hö- henried ; z. T. aber auch durch nie- dergelassene Kollegen durchge- führt werden, so dokumentiert, daß sich aus den Erfahrungen der Er- hebungsbogen, die computerge- recht erstellt wurden, allmählich ein „Nachsorgepaket" für die am- bulante Dauerbetreuung von In- farktpatienten ergibt. Das ent- spricht auch den Forderungen nach einer programmierten Betreu- ung und einer computergerechten Dokumentation. Es kann also zu ei- ner Verbesserung des Gesamtni- veaus in diesem Bereich führen, wie es durch die Qualitätskontrolle im Laborbereich schon zum Teil er- reicht worden ist. Aber wir dürfen uns nichts vormachen: es liegt noch mühsame und langwierige Arbeit vor uns, um die Kooperation zu verbessern. Die bisher ganz an- ders ausgerichtete ärztliche Ausbil- dung, Weiterbildung und Fortbil- dung, in der Strukturprobleme der Prävention und Rehabilitation noch zu kurz gekommen sind, ist in mei- nen Augen eine Hauptursache für manches Unverständnis, aber auch für manche Mißverständisse durch unterschiedliche „Sozialdialekte"

von Akutklinikern, Sozialmedizi- nern und niedergelassenen Ärz- ten.

Frage: Wie wollen Sie diesen Miß- verständnissen begegnen?

Malhuber: Ich habe einleitend über die notwendige Vielschichtigkeit der Frührehabilitationsmaßnahmen nach Herzinfarkt gesprochen. Sie erfordert ein Umdenken der Ärzte und eine Überwindung der ver- steckten Abwehr und Aversion von vielen von uns gegen Veränderun- gen jeder Art. Vielleicht spielt auch zuweilen bei einer Aversion gegen die Rehabilitation das eigene schlechte Gesundheitsgewissen des Arztes mit, der z. B. selbst un- sportlich ist und deshalb lieber ver- ächtlich vom „Trainingskult" statt von dosierter Bewegungstherapie spricht. (Wir kennen ja auch die

Pseudo-Alibis des rauchenden Arz- tes.) Oft mag es sich auch um einen gesundheitspädagogischen Defätimus auf Grund fehlender Eig- nung und Erfahrung in der Gesund- heitsbildung handeln.

Ich möchte deshalb eine etwas kühne Voraussage wagen: Die Si- tuation wird sich erst dann grund- legend ändern, wenn es einmal an jedem Akutkrankenhaus, in dem es eine Intensivpflegeeinheit und eine Normalpflegeeinheit gibt, auch eine Rehabilitationseinheit — evtl.

gemeinsam mit anderen Fachabtei- lungen — geben wird. Dadurch wä- ren für den Patienten organisatori- sche Erleichterungen (gleicher Ko- stenträger!) und für den jungen Arzt Weiterbildungserleichterungen im Rehabilitationsbereich (durch das selbstverständliche Rotieren in den verschiedenen Abteilungen) gegeben. Eine solche Differenzie- rung scheint mir auch im Sinne der Ökonomisierung im Krankenhaus wünschenswert zu sein.

Frage: Sollten dann also die ge- meinsamen Bemühungen um bes- sere Kooperation nicht schon bei der Vorsorge ansetzen?

Halhuber: Rehabilitation ist ja auch Zweit-Prävention, und so gelten sehr viele Überlegungen, die bis- her angestellt worden sind, auch für die Erst-Prävention. Für alle verhaltensbedingten chronischen Krankheiten (Koronare Herzkrank- heit, chronische Bronchitis, Leber- zirrhose bei Alkoholikern) bedeutet Vorsorge ja in erster Linie bessere Information und Motivation der durch Risikofaktoren Gefährdeten, z. B. im Rahmen von „Gesundheits- bildungsseminaren" in Heilbädern und Kurkliniken. Ich glaube, daß gerade auch in unserer Zeit das Kurwesen für die Prävention und Rehabilitation chronischer Krank- heiten (allerdings bei entsprechen- der Reform und Evolution) neben dem Akutkrankenhaus, der ambu- lanten ärztlichen Betreuung und dem öffentlichen Gesundheits- dienst als viertes medizinisches Versorgungssystem eine eigen-

ständige und gleichwertige Bedeu- tung gewinnen kann, weil eben die Aufgaben der Prävention und Re- habilitation von den anderen Sub- systemen allein nicht gleich gut wahrgenommen werden können.

Das ist freilich in den Augen vie- ler Skeptiker noch eine Arbeits- hypothese, die aber durch pro- spektive Langzeitstudien wissen- schaftlich untersucht werden sollte

— gerade auch mit Rücksicht auf ihre Effizienz und Effektivität, d. h.

auf das Kosten/Nutzen-Verhältnis.

Literatur

(1) Gillmann, H., Colberg, K.: Untersuchun- gen über die Lebensphase nach überstan•

denem Herzinfarkt, Deutsche Med. Wschr.

94 (1969) 933 — (2) Halhuber, M. J., H.

Hofmann, H. Kramm, M. Seuberling: 2 Jah- re „Früh"-Rehabilitation nach Herzinfarkt an der Klinik Höhenried, Fortschritte der Medizin 91 (1973) 108 — (3) Pall, E.: To- desfälle an einer Rehabilitationsklinik für Herz- und Kreislaufkrankheiten, Münch.

med. Wschr. 117 (1975) 1911-1918 — (4) Stocksmeier, U., H. Winter, W. Müller: Die Sterblichkeit der Herzinfarktpatienten in der Höhenrieder Längsschnittstudie, Herz/

Kreisl. 7 (1975) 435-442 — (6) Halhuber, M. J.: Was soll das sein: eine Kur? Heil- bad und Kurort, Zeitschr. f. das gesamte Bäderwesen 28 (1976) 86-88

ZITAT

Anfang

einer Reformphase?

„Soll der neue § 218 StGB ein Instrument werden, das in positiver Weise zur Ver- vollkommnung unserer ge- samten Rechtsordnung bei- trägt, dann haben Staat und Gesellschaft hier, im Bereich der Familie, die meisten und die größten ergänzenden Aufgaben zu bewältigen. Ins- besondere die Politiker soll- ten daher erkennen, daß die- ses neue Recht nicht Ende, sondern nur Anfang einer Reformphase sein darf."

Fritz Tervooren, Direktor des Bundesverbandes der In- nungskrankenkassen, Köln, in: Die Krankenversicherung, Heft 7/8/1976, Seite 159

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